Am ersten Advent abends gegen acht. Tagesschau. Mittendrin eine Meldung zu Mexiko. Nein, keine der sonst üblichen Naturkatastrophen, diesmal geht es um den Amtsantritt des neuen Präsidenten. Und um seine Versprechen. Um einen „Rebellenchef“, der die grundsätzliche Gesprächsbereitschaft trotz des Misstrauens der Zapatistas gegenüber der Macht bekundet. Misstrauen auch gegenüber „dem Neuen“. Dieser bedient sich, nachdem er arroganterweise die berechtigten Forderungen der Indígenas auf kulturelle und politische Selbstbestimmung und Autonomie als „Forderungen nach ‚vochos‘, TV und kleinen Einkaufsläden“ abtat, selbst der Sprache des indigenen Widerstands: „Nie mehr ein Mexiko ohne Euch!“ ruft er bebend den Indígenas zu. Jedenfalls denen, die einen Fernseher haben. Und dann, nachdem er noch mehr Kreide gefressen hat, erzählt er etwas von einem „Morgengrauen, das erblüht“ in Chiapas…
Der frisch in sein neues Amt eingeführte Präsident Mexikos, der 58-jährige Ex-Coca-Cola-Mexiko-Chef Vicente Fox, verspricht seinem Wahlvolk das Blaue vom Himmel. In seiner sechsjährigen Amtszeit werde er den Armen Mexikos Wohlstand bringen, immerhin über 60% der rund 100 Mio. Menschen. Er werde die kulturellen Rechte der Indígenas ernst nehmen und respektieren. Und er werde die Truppen aus Chiapas „zurückziehen“, nein „umgruppieren“, nein „zurückziehen“ – ach egal, jedenfalls in die Kasernen, wo sie vor 1994 auch waren, bevor die Zapatistas den Aufstand wagten und sagten: „Ya Basta! Es reicht!“.
In den Altos, dem chiapanekischen Hochland, in dem der Rückhalt der EZLN sehr groß ist, und in dem die Soldaten, Sonderpolizeien und Paramilitärs der Vorgängerregierung in den vergangenen sechs Jahren das größte Flüchtlingselend angerichtet haben, werden nun fünfzig Militärcamps und Straßensperren geräumt. Die Soldaten und Agenten ziehen sich in nur wenige Kilometer entfernte Kasernen zurück, aber dafür patrouillieren jetzt nach Augenzeugenberichten alle 20 Minuten Armeelaster entlang der Hauptverkehrsstraßen. Alle 70.000 in Chiapas stationierten Soldaten bleiben, ebenso die übrigen rund 200 militärischen Einrichtungen, Straßensperren etc., einige werden durch polizeiliche Einrichtungen ersetzt. Tolle Wurst!
Im Oktober überraschte die Verhaftung einiger Paramilitärs, darunter bekannte Aufwiegler der Ex-Regierungspartei PRI. Paramilitärische Gruppen gehören zur sog. Aufstandsbekämpfung, wie sie durch die USA fast allen lateinamerikanischen Regierungen (Chile, Kolumbien, Guatemala, El Salvador etc.) angedient wurden. Sie werden mit Schwarzgeldern von der Regierung bzw. von örtlichen PRI-Potentaten bezahlt, um die Aufständischen oder um neutrale Gemeinschaften zu terrorisieren, sie von der EZLN wegzutreiben. Nun kündigt Fox eine Amnestie für alle bewaffneten Gruppen an. Nach einem geheimen Strategiepapier der Fox-Regierung, von dessen Existenz oppositionelle Kreise berichten, sollen diese paramilitärischen Gruppen zunächst teilweise arrestiert, später amnestiert werden, und dennoch bestehen bleiben – als private „Sicherheitsdienste“. Mörder gehen straffrei aus, ihr Terror wird legalisiert. Dieses Geheimpapier sieht ferner vor, daß die Regierung Fox zunächst über die Grundlagen des Konfliktes in Chiapas Informationen einholt. Leitende Fragestellung hierbei ist aber nicht, was die Indígenas aufgebracht hat, und was sie mit ihrem Kampf erreichen wollen, sondern wer 1983 zu ihnen in die Berge ging und seitdem mit ihnen zu tun hat. Wieviele? Wer?
Ein weiterer Punkt ist, daß Fox als Friedensengel auftreten soll – aber er soll mit den Indígenas verhandeln, nicht mit der EZLN. Letztere soll diskreditiert werden. Sie soll nicht mehr als Sprachrohr der Indígenas akzeptabel sein, sondern als Narcoguerilla denunziert, und Marcos, Sprecher der EZLN, als Drogenboss, damit bei seiner Verhaftung kein breiter, internationaler Widerstand befürchtet werden muß. Den KleinbäuerInnen in der EZLN soll Vieh und Saatgut für Waffen geboten werden, die EZLN soll so in ihren autonomen Gebieten destabilisiert werden. Außerdem soll so agiert werden, daß die Diözese von San Cristobal und der neue Gouverneur von Chiapas, progressiv eingestellte, mit den Aufständischen sympathisierende Institutionen, an Einfluß verlieren.
Obendrauf soll, so die „Schattenstrategie“, die Regierung Fox sich einen „Stamm von vertrauenswürdigen Journalisten“ halten, die bevorzugt behandelt werden, damit sie gemäß der Regierungslinie Bericht erstatten. Die Regierung solle sich dabei der Mittel bedienen, die zuvor von der EZLN so erfolgreich angewendet wurden: eine geschickte Medienarbeit und ein authentisches Auftreten, auch über das Internet. Von „Diskursumkehr“ ist hierbei die Rede, was den Fernsehauftritt Fox‘ ins rechte Licht rückt. (Die Existenz des Papiers wurde am 22.11.2000 in der mexikanischen Tageszeitung La Jornada bekanntgegeben.)
Und was macht die EZLN? Sie stellt Bedingungen, unter denen sie eine hochrangige Delegation nach Mexiko-Stadt schicken würde, zum Verhandeln. Erstens müssen die Vereinbarungen früherer Verhandlungen eingehalten werden (Die San Andrés-Verträge über die Autonomie- und Landrechte der Indígenas); zweitens sollen alle Gefangenen freigelassen werden, denen eine Mitgliedschaft in der EZLN vorgeworfen wird; und drittens sollen die sieben Militärlager geräumt werden, die sich in unmittelbarer Nähe der Hauptversammlungsorte der Zapatistas befinden. Da davon auszugehen ist, daß die mexikanische Regierung – auch die neue – den Zapatistas keine Landrechte zuteilen wird, dies aber die unumgängliche Hauptforderung der Zapatistas ist, werden Friedensverhandlungen, sollten sie tatsächlich zustandekommen, zu keinem brauchbaren Ergebnis führen. Der „Plan Chiapas“ zeigt, in welche Strategie das regierungsamtliche Handeln des neuen mexikanischen Präsidenten eingebettet ist, und die kürzlich eingegangenen Verpflichtungen Mexikos im internationalen Handel – sprich: das EU-Mexiko-Freihandelsabkommen vom Juli 2000 – machen deutlich, daß mit den wohlklingenden Versprechungen Fox‘ u.a. auch die Gemüter im Ausland beruhigt werden sollen. Und getäuscht, denn ein Frieden ist in Chiapas ebensowenig zu erwarten wie in Oaxaca (s. S. 7), Guerrero oder in einem der anderen militarisierten Bundesstaaten Mexikos, in denen sich die Indígenas gegen ihre Unterdrückung durch Selbstorganisation zur Wehr setzen.