gewaltfreiheit

Die Bewegung muß ihre Geschichte selbst (mit) schreiben

| Wolfgang Hertle

Die deutsche Geschichte kennt keine mit Gandhi oder Martin L.- King vergleichbaren charismatischen Leitpersonen. Die Kampagnen Zivilen Ungehorsams hierzulande unterscheiden sich in vieler Hinsicht z.B. von der indischen Unabhängigkeits- oder der US- Bürgerrechtsbewegung. Dennoch sei die Frage erlaubt: Kennt die gewaltfreie Bewegung in Deutschland ihre eigene Geschichte?

Gewaltlosigkeit war häufig Thema in den pazifistischen Schriften der Nachkriegszeit, vor allem in der ‚Friedensrundschau‘, die Theodor Michaltscheff für die IdK (deutsche Sektion der Internationale der Kriegsdienstgegner) von 1947 bis 1966 herausgab.

Die politische Enge der 50er und 60er Jahre zwischen Antikommunismus und Kommunismus war kein günstiges Klima für direkte gewaltfreie Aktionen über die Kriegsdienstverweigerung hinaus. Was die Friedensbewegung in der Zeit des Kalten Krieges unter gewaltfreier Aktion verstand und vor allem die Praxis ist kaum mit dem Aktionsspektrum zu vergleichen, das sich in den letzten drei Jahrzehnten ausdifferenziert hat.

Als im Sommer 1972 Mitglieder der Gruppe Gewaltfreie Aktion Augsburg die Nullnummer der Zeitschrift ‚Graswurzelrevolution – für eine gewaltfreie und herrschaftslose Gesellschaft‘ herausgaben, wußte sie nichts von der Existenz gewaltfreier Gruppen in den 50er und 60er Jahren. Wir fanden Vorbilder fast nur im Ausland und glaubten (in jugendlicher Naivität), etwas völlig Neues einzuführen. Im politischen Selbstverständnis und an den Aktionsformen der pazifistischen Organisationen, so wie wir sie damals wahrnahmen, fehlten für uns wesentliche Elemente.

Selbst im Versöhnungsbund, der seit 1969 durch Theodor Ebert eine Zeitschrift mit dem (vielversprechend) programmatischen Titel ‚Gewaltfreie Aktion´ herausgeben ließ, vermissten wir die überzeugende Praxis. In der Zeitschrift ‚Peace News‘ (London) und im Kontakt mit gewaltfreien Aktionsgruppen in Frankreich fanden wir dagegen die lebendige Kultur des Zivilen Ungehorsams und der konstruktiven Alternativen, die wir gesucht hatten. Ohne bewußt auf die Arbeit von Vorgänger-Gruppen aufbauen zu können, profitierten wir dennoch von der Pionierarbeit früherer Gruppen wie der ‚Gewaltfreien Zivilarmee‘ (Stuttgart), des Arbeitskreises für Gewaltlosigkeit (Hamburg) (1) oder der Direkten Aktion (Hannover) (2), die vor uns für direkte gewaltfreie Aktion und dessen Verständnis in der Bevölkerung gewirkt hatten.

Auch diese Gruppen der 60er Jahre scheinen das Andenken an die Menschen, denen sie viele Anstöße verdankten, wie Theodor Michaltscheff (3) oder Nikolaus Koch, nicht als so überzeugende Vorbilder angesehen zu haben, daß sie ihr Vermächtnis bewahrt und traditionsbildend weitergegeben hätten. Allerdings haben sie selbst die Erinnerung an ihr eigenes Wirken erstaunlich wenig weitergegeben. So entstanden bis heute immer neu Brüche statt einer Kontinuität durch Überlieferung von Erfahrungen an Jüngere und Nachfolgegruppen.

Ähnlich wie die Friedensrundschau trägt z.B. die GWR nun seit über 28 Jahren zur Verbreitung der Idee bei, daß Gesellschaftsveränderung durch direkte gewaltfreie Aktionen notwendig und möglich ist. Es würde sich lohnen (über die Diplomarbeit von Günter Saathoff: ‚“Graswurzelrevolution“ Praxis, Theorie und Organisation des gewaltfreien Anarchismus in der Bundesrepublik (1972-1982)‘, Marburg, 1985 hinaus), den Einfluß der Zeitschrift und des „Milieus“ gewaltfreier Aktionsgruppen mitsamt der Infrastruktur (Graswurzelwerkstatt, FÖGA, Bildungseinrichtungen und Trainingskollektive, Verlag und Versandbuchhandlung, Kalender..) um sie herum zu analysieren. Die wesentliche Wirkung dürfte vor allem in ihren Impulsen für die breite Ökologie- und Friedensbewegung bestehen, durch ihre Anregungen zu politischer Analyse, Strategieentwicklung, Organisation, Aktionsformen, sowie in der Schärfung des Bewußtseins für größere politische Zusammenhänge und der Suche nach gesellschaftlichen Alternativen. Es ist traurig oder amüsant, wie wenig fähig oder willens der Verfassungsschutz ist, diese „Bewegung“ richtig einzuschätzen. Seit Jahren bläht der VS sie zur stärksten undogmatisch-linksradikalen Strömung auf, indem er jede Kontaktadresse der GWR zu einer starken Gruppe umdefiniert. Andererseits erweisen sich seine Dossiers als ebenso abenteuerlich peinliche Machwerke wie die Beobachtungsprotokolle in den Stasi-Unterlagen über unsere Unterstützung der unabhängigen DDR- Friedensbewegung in den 70er und 80er Jahren. Aber der VS ist nicht allein mit seiner Unkenntnis und Fehleinschätzung der gewaltfreien Aktionsgruppen.

Die Medien berichteten über Großereignisse wie die Besetzung der Bauplätze in Wyhl / Marckolsheim / Kaiseraugst in den 70er Jahren, die Blockaden der Atomraketen-Standorte in den 80ern oder zuletzt über ‚x-1000 mal quer‘, ohne die intensiven Vorarbeiten, die Diskussionen mit den örtlichen Initiativen oder die harten Kontroversen mit Gewalt nicht ablehnenden Gruppen wahrzunehmen.

Die zeitgeschichtliche Forschung über Neue Soziale Bewegungen nimmt die Arbeit der gewaltfreien Aktionsgruppen ebenfalls kaum wahr. Das alles ließe sich erklären, da die Gruppen, die wie Sauerteig in größeren Initiativen wirken, meist klein sind und unter einer hohen Fluktuation leiden. Sie haben keine „namhaften“ Persönlichkeiten, die wie bei Parteien und Verbänden „aufgebaut“ werden. So sind sie für Öffentlichkeit und Forschung schwerer wahrnehmbar, sie sorgen aber auch selbst zu wenig dafür, nachvollziehbare Spuren zu hinterlassen. Dabei hat ihr Handeln oft längerfristige Folgen.

Die Erfahrungen aus der Praxis gewaltfreien Widerstands werden von Gruppen in Zusammenhängen genutzt, die sich nicht explizit als Teil der gewaltfreien Bewegung verstehen.

Die gewaltfreie Bewegung schwächt sich selbst, wenn sie ihr kollektives Gedächtnis zu wenig pflegt und keine nachvollziehbare Tradition entwickelt. Selten berichten die Älteren von früheren Aktivitäten und die Jüngeren fragen selten nach. Für heute 20-Jährige scheinen die Ereignisse in Wyhl oder Mutlangen ebenso weit „in grauer Vorzeit“ zu liegen wie die Rettung Helgolands durch Besetzungsaktionen Anfang der 50er Jahre. Die aktuellen Probleme wie z.B. Castor-Transporte erfordern von den Aktiven volle Aufmerksamkeit. Doch wie kann die Bewegung ein starkes Selbstbewußtsein entwickeln, wenn sie die Vielfalt ihrer Erfahrungen nicht einmal sich selbst bewußt macht? Dazu gehören die erfolgreichen Kampagnen um die „Klassiker“ Gandhi und Martin-Luther King, aber auch Erfahrungen im eigenen Land.

Ich wundere mich oft über die Zurückhaltung der meisten ZeitzeugInnen, sich an der „Rekonstruktion“ der Bewegungsgeschichte zu beteiligen. Die Auswertung anderer Kapitel der Bewegungsgeschichte wie z.B. der Larzac- Widerstand, lehrte mich, daß die schriftlichen Quellen allein ebenso zu einem verkümmerten Bild führen können, wie mündliche Erinnerungen von ZeitzeugInnen nicht ausreichen würden, ein angemessenes Bild zu erstellen. Würde ich z.B. über die Anfänge der Zeitschrift `graswurzelrevolution‘ und ihres Umfelds befragt, wäre mir meine subjektiv – selektive Auswahl meiner Erinnerungen wie der Bewertungen der Ereignisse bewußt. Im ‚Archiv Aktiv‘ liegt so viel Material über die „Graswurzelgeschichte“, wie wahrscheinlich nirgendwo sonst. Dennoch möchte ich nicht anfangen, diese Zeit mit diesem Material und meinen Erinnerungen im Alleingang nachzuzeichnen. (4)

Dagegen wäre es ein für alle Beteiligten nützliches Unternehmen, wenn ZeitzeugInnen und Jüngeren in gemeinsamer Arbeit Abschnitte und Aspekte der Bewegungsgeschichte erarbeiteten, indem Erinnerungen ausgetauscht, diskutiert und mit den schriftlichen Materialien verglichen werden. Solche „Geschichtswerkstätten“ sind lokal, regional oder bundesweit vorstellbar. Ladet doch mal Menschen ein, die vor 30 oder 40 Jahren friedensbewegt aktiv waren, damit sie berichten, wie damals politische Arbeit für eine gewaltärmere Gesellschaft aussah. Solche ZeitzeugInnen gibt es auch an Eurem Ort, in Eurer Region. Das Archiv Aktiv kann behilflich sein und z.B. Material und Adressen zur Verfügung stellen. Eure Mithilfe wird gebraucht, damit die „Schätze“ der Bewegungsgeschichte gehoben werden: Vermittelt Kontakte zu StudentInnen, ProfessorInnen, JournalistInnen, die sich mit neuen Sozialen Bewegungen beschäftigen und weist sie auf die Existenz des Archiv Aktiv hin. Immerhin kamen Interessierte aus den USA, aus Schweden und Frankreich zu Recherchen in die Sternschanze. Es sollte mehr als bisher auch als Chance für Interessierte aus Deutschland genutzt werden.

Es hat Vorteile, wenn Menschen ihre Erfahrungen aus dem eigenen Engagement in gewaltfreien Aktions-Kampagnen mit dem gesammelten Material anreichern und z.B. in Diplomarbeiten oder anderen Formen der Auswertung ihr Wissen und Erkenntnisse weitergeben. Wer kennt die Kampagnen denn besser als diejenigen, die sie mit Leben erfüll(t)en ?

Das Archiv Aktiv lädt auch sonst Menschen ein, die sich eine Zeit lang mit uns in Hamburg für das „Gedächtnis der gewaltfreien Bewegung nützlich machen wollen. Auf Dauer kann das Archiv Aktiv nur überleben, wenn weit mehr Menschen als die bisherigen wenigen Mitglieder und Förderer die „Auswertungen und Anregungen für gewaltfreie Bewegungen“ zu ihrer Sache machen.

(1) Vgl.: Helga Tempel / Konrad Tempel: Anfänge gewaltfreier Aktion in den ersten 20 Jahren nach dem Krieg. In: Politik von unten. Zur Geschichte und Gegenwart der Gewaltfreien Aktion. Theodor Ebert zum 60. Geburtstag. Gewaltfreie Aktion Nr.111/112 (1997), S. 63-70

(2) Vgl.: Wolfgang Zucht: Die Gruppe "Direkte Aktion" und die 60er Jahre. In: Graswurzelrevolution-Kalender 1991, S. 202-211

(3) Das 'Archiv Aktiv' hat in einem Reprint " 20 Jahre Friedensrundschau. 20 Jahre Internationale der Kriegsdienstgegner" Erinnerungen von und an Theodor Michaltscheff mit einer aktuellen Einleitung von Günther Freitag veröffentlicht. Die Broschüre ist für DM 8.- plus Porto beim Archiv Aktiv oder unter der ISBN-Nummer 3-9805270-0-X im Buchhandel zu bestellen.

(4) Auf kleinere Ansätze kam keinerlei Reaktion von anderen AkteurInnen, z.B.:

Graswurzelrevolution in der Bundesrepublik ? Ansätze einer Bewegung für gewaltfreie Gesellschaftsveränderung durch Selbstorganisation und Macht von unten. In: Vorgänge Nr. 31, 1978

Oder: Grenzüberschreitende Lernprozesse zum Zivilen Ungehorsam . In: Komitee für Grundrechte und Demokratie (Hg.): Ziviler Ungehorsam - Traditionen, Konzepte, Erfahrungen, Perspektiven. 1992

"Für die Historiker beginnt die Geschichte erst, wenn die Menschen, die etwas damit zu tun hatten, daraus verschwunden sind. Wenn sie die Fiktionen der Historiker nicht mehr stören können. Folglich wird man nie wissen, was wirklich passiert war."

Cees Noteboom im Roman "Allerseelen"

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