Vorbemerkung
Am 24. März 1999 fand mit der Beteiligung der Bundeswehr am Krieg im ehemaligen Jugoslawien eine Zäsur in der Außen- und Verteidigungspolitik der Bundesrepublik statt: Erstmals seit dem Zweiten Weltkrieg nahmen deutsche Soldaten aktiv kämpfend an einem Krieg teil.
Dem Kriegsbeginn gingen einige parlamentarische Entscheidungen voraus, womit die politischen Voraussetzungen für die Beteiligung der Bundeswehr an jenem Krieg geschaffen worden sind. Eine dieser Abstimmungen fand am 12. Oktober 1998 im Deutschen Bundestag statt. Dabei hatten die Bundestagsabgeordneten über folgenden von der Bundesregierung vorgelegten Antrag zu entscheiden: Deutsche Beteiligung an den von der Nato geplanten und in Phasen durchzuführenden Luftoperationen zur Abwendung einer humanitären Katastrophe im Kosovo-Konflikt (Drucksache 13/11469).
Interessant in diesem Zusammenhang ist der Umstand, daß die wenige Tage zuvor gewählte SPD-Bündnis 90/Die Grünen-Bundesregierung dem Parlament einen Antrag zur Abstimmung vorlegte, ohne daß sich zum Abstimmungszeitpunkt der gerade gewählte Bundestag bereits konstituiert hatte. So entstand die außergewöhnliche Situation, daß die Bundestagsabgeordneten der 13. Legislaturperiode über einen Antrag der Bundesregierung der 14. Legislaturperiode abzustimmen hatten – die Schröder/Fischer-Regierung stand also sprichwörtlich Gewehr bei Fuß, um die Kohl’sche Kosovo-Politik nahtlos fortzuführen und in einen Krieg münden zu lassen.
Das Abstimmungsergebnis ist hinlänglich bekannt: Von 580 anwesenden Parlamentariern stimmten 500 mit Ja, 62 mit nein und 18 enthielten sich ihrer Stimme.
Der zweite Jahrestag dieser Bundestagsentscheidung, mit welcher die Weichen für die deutsche Beteiligung am Kosovo-Krieg gestellt wurden, gab den Anlaß, die Bundestagsabgeordneten schriftlich zu ihrem Abstimmungsverhalten zu befragen. Von 669 angeschriebenen Abgeordneten antworteten 137.
Der Brief (auszugsweise)
„Fast auf den Tag vor zwei Jahren hatten Sie im Bundestag über die Frage zu entscheiden, ob sich deutsche Soldaten im Rahmen der NATO – erstmals seit dem Zweiten Weltkrieg- an einem Kampfeinsatz beteiligen sollten. Dieser außen- bzw. verteidigungspolitische Entscheidungsgegenstand gehört sicherlich zu einem der bedeutendsten in der jüngeren deutschen Parlamentsgeschichte und entsprechend schwierig dürfte Ihnen Ihre Entscheidung gefallen sein. (…).
Da mich dieses Thema sowohl persönlich immer wieder sehr bewegt hat, als auch mein wissenschaftliches und publizistisches Interesse geweckt hat, möchte ich Ihnen hierzu einige Fragen stellen und wäre Ihnen für deren Beantwortung sehr dankbar:
- Wie haben Sie sich damals entschieden und von welchen Erwägungen haben Sie Ihre Entscheidung abhängig gemacht?
- Wie bewerten Sie zurückblickend Ihre Entscheidung bzw. würden Sie sich auch im Nachhinein so entscheiden?
- Sind Sie der Auffassung, daß der Themenkomplex -gemessen an seiner Bedeutung- in der Öffentlichkeit ausreichend thematisiert worden ist bzw. welche Rolle spielt er in Ihrer aktuellen politischen Arbeit?“ (…)
Zusammenfassung der schriftlichen und telefonischen Antworten der Bundestagsabgeordneten
Von 669 angeschriebenen Abgeordneten antworteten 137, neun von ihnen telefonisch. 30 dieser Abgeordneten stimmten gegen den betreffenden Antrag, drei enthielten sich der Stimme; 20 Abgeordnete konnten an der Abstimmung nicht teilnehmen, da sie erst der 14. Legislaturperiode angehörten und schließlich 84 der antwortenden Abgeordneten stimmten dem Antrag zu.
Die überraschend zahlreichen Antworten verdeutlichen, daß der erste Kriegseinsatz deutscher Soldaten nach dem Zweiten Weltkrieg von den Parlamentariern eine Entscheidung abnötigte, die wohl den meisten von ihnen sehr schwer gefallen sein dürfte und die zugleich stark emotional geprägt war. Entsprechend subjektiv wurden die Fragen beantwortet, auch wenn die zustimmenden bzw. ablehnenden Argumente sich inhaltlich – teilweise schablonenhaft – wiederholen.
Von den Kriegs-Befürwortern wurden immer wieder folgende Argumente genannt: Ethnische Säuberungen durch Milosevic, Völkermord durch serbische Truppen, Verhinderung einer humanitären Katastrophe, stattfindende Massaker in Bosnien-Herzegowina, Verhandlungsmöglichkeiten waren ausgeschöpft, Bündnispflichten als NATO-Mitglied.
Von den Kriegs-Gegnern: Völkerrechtswidriger Angriffskrieg, Selbstmandatierung der NATO, Verletzung der Bestimmungen des Grundgesetzes, Verselbständigung des Kriegsgeschehens, Opfer innerhalb der Zivilbevölkerung und wirtschaftliche bzw. ökologische Schäden durch die Bombardements.
Interessant ist, daß von beiden (!) Seiten immer wieder auf das Fehlen von Instrumenten ziviler Konfliktbearbeitung hingewiesen wird und deren Weiterentwicklung gefordert wird.
Insgesamt ist festzustellen, daß die Antworten der Abgeordneten die jeweils zum Abstimmungszeitpunkt vorhandene Meinung nahezu ausschließlich bestätigen. Daraus ist zu schließen, daß die Kritik am Kosovo-Krieg die Kriegs-befürwortenden Parlamentarier auch im Nachhinein nicht erreicht hat.
Gleichwohl kommt sowohl von den Befürwortern – als auch von den Gegnern des Krieges – in entsprechend kontroversen Sichtweisen immer wieder die außerordentliche politische Bedeutung der betreffenden Bundestagsentscheidung zum Ausdruck. Um so erstaunlicher (bzw. bedauerlicher) ist es, daß 1 ½ Jahre nach Kriegsende von jener kontroversen verteidigungspolitischen Sichtweise im aktuellen bundespolitischen Diskurs so gut wie nichts mehr zu spüren ist. Im Gegenteil: Der Scharping/Beer-Kurs der neuen Bundeswehr weicht nur in marginalen Zügen vom Rühe-Kurs ab.
Die Antwort von Prof.Dr. Edzard Schmidt-Jortzig, dem zum Abstimmungszeitpunkt amtierenden Bundesjustizminister
Von allen 137 Antworten war jene von Prof.Dr. Schmidt-Jortzig hinsichtlich ihrer Brisanz und Eindeutigkeit am erstaunlichsten, weshalb sie in Auszügen dokumentiert werden soll:
„1. Ich habe an der seinerzeitigen Beschlußfassung im Bundestag extra nicht teilgenommen (und dafür auch die betreffende Ordnungsgeldzahlung gern in Kauf genommen). Ich war seinerzeit noch der amtierende Bundesjustizminister und hatte mich bei dem vorangehenden Kabinettsbeschluß, der die Parlamentsvorlage lieferte, ausdrücklich gegen die in Rede stehende Einsatzentscheidung ausgesprochen. Eine entsprechende Protokollerklärung von mir liegt in den Kabinettsakten. Da ich mich außerhalb des Kabinetts nicht gegen die Bundesregierung stellen wollte (und durfte: § 28 II GeschOBReg), aber auch von meiner Meinung nicht abweichen wollte, kam nur eine Nichtteilnahme in Betracht. Maßgeblich war in der Sache für mich vor allem das Fehlen eines entsprechenden Sicherheitsrats-Beschlusses. Denn abgesehen von der schlichten rechtlichen Notwendigkeit einer solchen Voraussetzung schien (und scheint) mir nur durch einen solchen Beschluß die Gefahr vermieden, daß einzelne Staats- und Bündnisinteressen den Ausschlag geben. Immerhin hatte man in ganz ähnlichen Fällen mit vergleichbaren humanitären Katastrophen eben von einer militärischen Intervention abgesehen, offenbar weil bestimmte Machtinteressen nicht so eindeutig dafür stritten. Schließlich schien mir auch die militärische, strategische Richtigkeit des Waffeneinsatzes nicht einleuchtend, weil durch die Luftoperationen voraussehbar die zu schützende Bevölkerung selbst in Mitleidenschaft gezogen würde.
2. Nach wie vor halte ich meine Entscheidung von damals für richtig und glaube auch, daß es heute zu einer entsprechenden Initiative der NATO-Staaten nicht mehr kommen würde.
3. Die Diskussion seinerzeit war ausführlich. Wenn etwas zu kritisieren wäre, dann ist es die eskalierende Abfolge von militärischen Vorentscheidungen, welche den Schlußentscheid für viele wohl auch unausweichlich erscheinen ließ. Für die aktuelle politische Arbeit hat sich seither aber gewiß das Problembewußtsein geschärft. Daß beispielsweise erneut ein militärischer Einsatz out of area ohne Sicherheitsratsbeschluß vorgenommen würde, halte ich heute für ausgeschlossen.“
Wenn jene in ihrer kriegskritischen Aussagekraft kaum zu überbietende Meinung – des damals amtierenden Bundesjstizministers – zur Bundeswehrbeteiligung am Kosovo-Krieg zum Abstimmungszeitpunkt den Parlamentariern vorgelegen hätte, wäre deren Abstimmungsergebnis mit großer Wahrscheinlichkeit anders ausgefallen. Und wie hätte wohl die Öffentlichkeit reagiert, wenn sie davon Kenntnis gehabt hätte, daß selbst der Bundesjustizminister dem Krieg die rechtliche Legitimation absprach sowie inhaltlich die kriegsbefürwortenden Argumente der Schröder/Fischer-Regierung nicht nachvollziehen konnte?
Eben darum blieb jene Meinung wohl ein solch gut gehütetes Geheimnis der Kabinettsakten der Kohl-Regierung…
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