anarchismus

„Selbstfixiertes Gewusel“ oder libertäre Perspektive?

Der Schwarze Faden ist wieder da

| Bernd Drücke (GWR-MS)

Schwarzer Faden Nr. 71 (1/2001), März 2001, ISSSN 0722-8988, Trotzdem-Verlag, PF 1159, 71117 Grafenau, 72 Seiten, 8 DM, Abo (4 Ausgaben): 30 DM

Im April 2001 – nach Redaktionsschluß dieser GWR – soll die Trotzdem-Verlagsgenossenschaft in Frankfurt/M. gegründet werden (vgl. GWR 250 und GWR 257). Dies lässt hoffen, dass das wichtigste Projekt des anarchistischen Trotzdem-Verlags, der Schwarze Faden (SF), von nun an wieder vierteljährlich erscheinen wird.

Im Mai 1980 erschien die Nullnummer der „Vierteljahresschrift für Lust und Freiheit“ (Untertitel). Der SF hat sich seitdem etabliert als eine der niveauvollsten anarchistischen Zeitschriften im deutschsprachigen Raum.

Doch seit zwei Jahren kriselt es. Nachdem erst im Frühjahr 2000 der SF Nr. 3/99 (!) herauskam, erschien im Sommer 2000 der SF Nr. 1/2000 (Nr. 70). Viele Menschen, die sowohl die Graswurzelrevolution als auch den Schwarzen Faden lesen, haben sich geärgert, dass sie in der Ausgabe Nr. 70 des als Exklusivblatt geschätzten SF neben dem doppelt auf zwei Seiten abgedruckten Aufruf zu der bereits sechs Wochen vor Erscheinen des SF abgehaltenen Konferenz „Anarchismus und Judentum“ einige Artikel finden mussten, wie z.B. „Jetzt kommt Haider!“ vom Wiener Revolutionsbräuhof oder die PKK-Kritik der „gruppe demontage“, die bereits Monate zuvor in der GWR zu lesen waren. Nach Erscheinen der Nr. 70 war Funkstille und es war zu befürchten, dass der Schwarze Faden reißen und wie so viele libertäre Zeitschriften vor ihm in der Versenkung verschwinden könnte.

Um so größer war die Freude, als im März der großartig layoutete Schwarze Faden Nr. 71 herauskam.

Dass die „Lufthansa klagt gegen ‚kein Mensch ist illegal'“, stand zwar schon in anderen Bewegungsmedien, dürfte aber vielen entgangen sein. Abgesehen von einem Nachdruck aus dem weit verbreiteten „Va Banque! Bankraub. Theorie. Praxis. Geschichte“-Buch (Hg: Klaus Schönberger, Verlag Libertäre Assoziation u.a., Hamburg 2000) und dem „ETA polarisiert“- Artikel der gruppe demontage, der zum großen Teil schon im Oktober 2000 unter dem Titel „Der keineswegs kurze Sommer der Autobomben“ in der GWR Nr. 252 zu lesen war, ist diesmal wieder fast alles exklusiv. Und lesenswert! Wolfgang Haug spekuliert in seinem nicht aktualisierten „Es geht um Leonard Peltiers Freiheit“-Artikel noch auf eine Begnadigung Peltiers durch President Clinton. SF-Herausgeber Haug kommt bei seiner Kritik an Martin Hofmans „Indian War“-Buch zu ähnlichen Schlüssen wie im Dezember Jochen Knoblauch in der GWR 254 (siehe auch Leserbrief in GWR 255).

Auch SF-Themen wie „Der neue gesellschaftliche Antifaschismus“, „Atomausstieg – Schwindel oder Chance?“, Jürgen Mümkens Artikel zu „Sozialstaat und Rassismus“ und das SF-Interview „Über Verfassungspatriotismus und Fundamentalopposition“ mit dem Politikwissenschaftler Johannes Agnoli dürften nicht nur für AnarchistInnen interessant sein.

Der SF-Artikel „Von Köln nach Hannover über Hamburg und Berlin“ (S. 45-51) von Jill Bio ragt in Bezug auf seine Länge und seinen zum Teil leicht chaotischen aber erfrischend witzigen Sprachstil heraus. Ich werde hier einige Positionen des Textes referieren.

Vielleicht kann Jill Bios Artikel dazu beitragen, kontroverse Diskussionen in der libertären Szene anzustoßen und das Nebeneinander oder sogar Gegeneinander verschiedener libertärer Strömungen aufzulösen? Allzu oft ignorieren oder bekämpfen sich z.B. GraswurzelrevolutionärInnen und AnarchosyndikalistInnen, anstatt die unterschiedlichen Positionen als bunte Vielfalt zu sehen, die sich gegenseitig ergänzen und beleben kann.

Jill Bio analysiert u.a. die libertäre Kampagnenpolitik zu EXPO, G7 und Seattle. Unter seine Lupe nimmt er vor allem diverse Artikel aus dem Schwarzen Faden, der Graswurzelrevolution und der anarchosyndikalistischen direkten aktion (da) (1).

Dabei spart er nicht mit (solidarischer) Kritik: „Die drei überregionalen Zeitungen (da, gwr, sf) beweisen tendenziell das Nichtvorhandensein einer gemeinsamen Diskussion. Auf EXPO-Artikel, aber auch andere Themen, wird sich nicht gegenseitig bezogen, es finden kaum gegenseitige Ergänzungen statt. Kaum eineR schreibt Berichte, Analysen, Thesenpapiere zur aktuellen Praxis, und wenn, seltenst Antworten. Liegt es an den nichtschreibenden AktivistInnen, an der Zeitung (intellektuelles Niveau, Schwerpunkt, Erscheinunxweise, Layout, etc.) oder den MacherInnen (Überlastung, DogmatikerInnen, Bewegunxferne, Kontrollettis, ZensorInnen, Ansprechen, etc.)?“

Zu den gelungenen Blockaden und anderen Aktionen gegen die Welthandelsorganisation (WTO) im Dezember 1999 in Seattle, bemerkt Jill Bio:

„Seattle war eine unerwartete Sensation. Nur für Leute, denen die Mobilisierung, Organisierung und Umsetzung im Vorfeld nicht bekannt war. Dieser Erfolg sollte für Hannover, für eigene Praxis nutzbar gemacht werden. Anstatt sich um Vermittlung der Widerstandsbewegungen in den USA und England, ihre Geschichte und Gründe, zu bemühen (s. z.B. W. Sternecks Musik-Bücher), auf dieser Grundlage und eigener (z.B. Castor) zu einer selbstbestimmten Praxis zu gelangen, wurden Fragmente des Hörensagens, Projektionen, Artikel und die Medienberichterstattung als ‚So wird’s gemacht‘ zusammengeschustert. Seattle – ein Mythos. Daran kann der einseitige Artikel über dortige Organisierung in der gwr 1/00 wenig abhelfen, der gab zumindest einen guten Einblick.“ (S. 48)

Die vielfältigen Aktionen gegen die EXPO 2000 in Hannover werden von Jill Bio ausführlich skizziert und analysiert. Kritikpunkte, wie z.B. mangelndes Zugehen auf ähnlich orientierte Gruppen und Zusammenhänge, mediale Fixiertheit, Selbstüberschätzung, Fehleinschätzungen und mangelhafte Auseinandersetzung mit der Ideologie und den Themen der EXPO werden benannt ohne dabei in Resignation zu verfallen. Als Stärken nennt er z.B. die Versuche der Selbstorganisation und Neuorientierung, die Thematisierung radikaler, ökologischer Standpunkte bei aktuellen Auseinanadersetzungen, eine grosse Breite und Akzeptanz an Aktionsformen und eine „strömunxübergreifende Zusammenarbeit (Gewaltfreie, Autonome, Prunx, Ökos).“ Die tendenzielle Bereitschaft zu einem Bruch mit den destruktiv-dominanten Politikformen der letzten 15 Jahre lasse hier ein Potenzial vermuten, das durch Erfahrungen „in den näxten Jahren ernstzunehmende aktuelle, moderne Kräfte hervorbringt.“ Es bestehe die Gefahr, dass gesellschaftliche Realitäten und linke Gemetzel, zu hohe Erwartungen und Ziele, sowie „die Arroganz des eigenen Ansatzes die Koordinaten der Verzweiflung sind.“ Die nach Ansicht von Jill Bio „absehbaren Angriffe aus linken macht-/dominanzorientierten Kreisen von Ökorechts, Grünenabspaltungen, akademisch Orientierten, Antiimp-Gruppenresten, autonomen MilitanzfetischistInnen und anderes mehr werden zeigen, wie solidarisch und bewusst die selbstbestimmt orientierten Kreise miteinander umgehen.“

Fragwürdig ist das, was Jill Bio zu den viermal im Jahr erscheinenden „Ö-Punkten“ (2), dem „Infodienst für aktive UmweltschützerInnen, BIs und Umweltgruppen“ (Untertitel), schreibt:

„Die Zeitung Ö-Punkte könnte sich hier perspektivisch etablieren und sich zu einem überregionalen-pluralistischen Forum entwickeln. Trotz ihres momentanen gruseligen Layouts und visuellen Chaos (…) wird hier bereits eine große thematische Bandbreite erfasst, stellenweise an/weiterdiskutiert. (…) Die ganze Zeitung wird sich entwickeln müssen, wie der sich dort artikulierende neue sozial-revolutionäre Ansatz. Damit würden die drei klassischen Bewegunxzeitungen eine ‚Konkurrenz‘ bekommen, die sich jetzt schon ‚anarchistischer‘ repräsentiert.“

Was ist an einem solchen „Konkurrenz“-Gedanken libertär? Was „repräsentiert“ sich an den Ö-Punkten „jetzt schon ‚anarchistischer'“?

Jill Bio hat Recht, wenn er in Frage stellt, dass es „allen interessierten Kreisen“ gelingen wird, „sich von der Praxis der letzten Jahrzehnte zu lösen, aktuell und vielfältig, gemeinsam-solidarisch zu wirken/ergänzen, eine eigene Bestimmung/Bewegung ohne klassischen radikallinken Bündnisillusionen auf den Leim zu gehen oder sogenannter Professionalisierung. Dann wäre tatsächlich eine anarchistisch-revolutionäre Perspektive/Bewegung mit großer gesellschaftlicher Relevanz im Bereich des Möglichen. Dies ist ein langwieriger kollektiver Prozess, aber ein immer noch besseres Ziel, als das aktuelle selbstfixierte Gewusel der moralisch-rechthaberischen und verbalradikalen Kleinstgruppen.“ Dem ist noch hinzuzufügen: SF, da, GWR, Ö-Punkte und viele andere Bewegungsmedien – Lesen! Lesen! Lesen!

(1) da, Mühlgasse 13, D-60486 Frankfurt/M., 2,50 DM, Jahresabo (6 Ausgaben): 20 DM

(2) Ö-Punkte, Ludwigstr.11, 35447 Reiskirchen-Saasen, Jahresabo (4 Ausgaben): 20 DM