Bernd-Udo Rinas: (Art)gerecht ist nur die Freiheit. Geschichte, Theorie und Hintergründe der veganen Bewegung. Focus Verlag, 147 S., 25 DM.
Während in der Mitte der 90er Jahre in anarchistischen und linksradikalen Zusammenhängen und Zentren Auseinandersetzungen über Veganismus geführt wurden, ist es heute um die vegane Bewegung innerhalb linksradikaler Zusammenhänge still geworden. Im Focus Verlag ist nun ein Buch erschienen, das sich mit Geschichte, Theorie und Hintergründen der veganen Bewegung auseinandersetzt. Bevor Bernd-Udo Rinas auf die aktuelle vegane Bewegung eingeht, stellt er zunächst die historischen Entwicklungen und Traditionen anhand von verschiedenen Weltreligionen (Hinduismus, Judaismus, Christentum u.a.) und philosophischen Strömungen von der Antike bis in die Neuzeit dar.
Ein Philosoph der Neuzeit, der sich mit den Rechten von Tieren auseinandersetzte, war Arthur Schopenhauer (1788-1860):
„Die vermeintliche Rechtlosigkeit der Tiere, der Wahn, daß unser Handeln gegen sie ohne moralische Bedeutung sei, daß es gegen die Tiere keine Pflichten gäbe, ist geradezu eine empörende Roheit und Barbarei. Erst wenn jene einfache und über alle Zweifel erhabene Wahrheit, daß Tiere in der Hauptsache und im wesentlichen dasselbe sind wie wir, ins Volk gedrungen sein wird, werden die Tiere nicht als rechtlose Wesen dastehen.“ (S. 50f)
Schopenhauer weitet die Verantwortung des Menschen aus, sie geht über den Menschen hinaus, bezieht die Tierwelt mit ein und verlangt keine Gegenseitigkeit.
Leonard Nelson (1882-1927) – Mitglied des „Internationalen Sozialistischen Kampfbundes“ (ISK) 1925-1945 – verband den Einsatz für die Rechte der Tiere und die vegetarische Ernährungsweise mit der Entwicklung eines „ethischen und nicht-marxistischen Sozialismus.“ (S. 56) Er schrieb dazu:
„Ein Arbeiter, der nicht nur ein verhinderter Kapitalist sein will und dem es also Ernst ist im Kampf gegen jede Ausbeutung, der beugt sich nicht der verächtlichen Gewohnheit, harmlose Tiere auszubeuten, der beteiligt sich nicht an dem täglichen millionenfachen Tiermord. (…) Entweder man will gegen die Ausbeutung kämpfen, oder man läßt es.“ (S. 56)
Wer gegen die Ausbeutung der ArbeiterInnen ist, muss auch gegen die Ausbeutung von Tieren sein. Nelson betrachtet das Mensch/Tier-Verhältnis als ein Ausbeutungsverhältnis. Im Bezug auf Tiere greift Nelson auch auf den Begriff der „Person“ zurück: Personen sind die Träger von Interesse und auch Tiere können Personen sein. Daraus resultiert, dass Pflichten gegenüber Tieren bestehen, die „direkte Pflichten sind und sich nicht aus Pflichten gegen den Menschen ableiten.“ (S. 57)
Die aktuelle Entwicklung einer veganen Bewegung sieht Rinas im Lichte einer sich entwickelnden nicht-anthropozentrischen Ethik. Innerhalb dieser neuen Ethik geht es u.a. um den Wandel des Mensch-Natur-Verhältnisses. Innerhalb des Anthropozentrismus geht es beim Schutz der Natur in erster Linie um den Schutz der (Über-)Lebensbedingungen der Menschen:
„Geht es der Natur schlecht, geht es dem Menschen schlecht. Demgegenüber wird die Natur dort geschützt, wo es dem Menschen nützlich erscheint. Dort, wo der Mensch in der Verwertung der Natur keine Verwertung findet, fällt sie aus seinem Blick. Dies beinhaltet die Verabsolutierung des Menschen, da er zum Maß aller Dinge erhöht wird.“ (S. 60)
Durch die Entwicklung einer nicht-anthropozentrischen Ethik soll „eine radikal neue Bezugsebene mit der Natur hergestellt“ (S. 61) werden, durch diesen Wandel soll eine drohende ökologische Katastrophe abgewendet werden, denn die Umweltkrise sei nur zu überwinden, wenn auch der Anthropozentrismus überwunden werde. Die Natur und die tierischen Lebewesen bekommen einen vom Menschen unabhängigen Wert, und sie haben Rechte, für die eingetreten werden kann. In der „veganen Revolution“ geht es deshalb auch um die Befreiung von Mensch und Tier.
Das Verhältnis Mensch/Tier und Mensch/Natur wird als ein Unterdrückungs- und Ausbeutungsverhältnis wahrgenommen und interpretiert. In der theoretischen Grundlage der veganen Bewegung heißt dies, dass der Triple-Oppression-Ansatz (Kapitalismus, Rassismus, Patriarchat) zum Unity-of-Oppression-Ansatz ausgeweitet wird. Von den „Radikalen Antipatriarchalen TierrechtlerInnen“ wurde u.a. kritisiert, dass der Triple-Oppression-Ansatz die Tierunterdrückung ausklammert. Daneben werden auch einige andere spezifische Formen der Unterdrückung von Menschen durch Menschen eingeführt: „Ageismus“ (Unterdrückung aufgrund des Alters), „Lookismus“ (Unterdrückung aufgrund des Aussehens), „Bodyismus“ (Unterdrückung von Behinderten) und „Ableismus“ (Unterdrückung aufgrund von Nicht-Fähigkeiten). Unter „Speziesismus“ wird die Unterdrückung einer Spezies/eines Lebewesens durch ein anderes verstanden.
Kritik
Zentral für den Veganismus ist die Frage nach dem Verhältnis Mensch/Natur und Mensch/Tier. Beide werden als ein Ausbeutungs- und Unterdrückungsverhältnis wahrgenommen. Da stellt sich die Frage, ob Tiere und Natur ausgebeutet und unterdrückt werden können? Diese Frage ist interessant für eine anarchistische Theorie und Praxis. Rolf Cantzen beantwortet die Frage für sich folgendermaßen:
„Die Herrschaft des Menschen über die Natur sei moralisch verwerflich und Herrschaftslosigkeit sei das gebotene Verhältnis von Mensch und Natur.“ (S. 131)
Hier wird der Mensch außerhalb der Natur stehend konstituiert. Bakunin sagt aber zurecht, dass die Natur „auf sich selbst einwirkt, wenn der Mensch auf die Natur einwirkt.“ (Bakunin zit. nach Wim van Dooren: Bakunin zur Einführung, Hamburg 1985, S. 33) Der Mensch kann die Lebensbedingungen von Menschen, Tieren und Pflanzen zerstören, nicht aber die Natur. Der Mensch kann nicht gegen die Natur oder gegen die Naturgesetze handeln. Das heißt aber nicht, dass jedes mögliche Handeln richtig ist: da sollte eine anarchistische Ethik einsetzen.
Natur kann nicht unterdrückt und im Sinne eines ökonomischen Verhältnisses auch nicht ausgebeutet werden, aber wie verhält es sich mit Tieren? Haben Tiere eine Vorstellung von Freiheit, können sie Widerstand leisten, die Verhältnisse ändern? Schon Leonard Nelson erkannte:
„Es ist der untrüglichste Maßstab für die Rechtlichkeit des Geistes einer Gesellschaft, wie weit sie die Rechte der Tiere anerkennt. Denn während die Menschen sich nötigenfalls, wo sie als einzelne zu schwach sind, um ihre Rechte wahrzunehmen, durch Koalition, vermittelst der Sprache, zu allmählicher Erzwingung ihrer Rechte zusammenschließen, ist die Möglichkeit solcher Selbsthilfe den Tieren versagt, und es bleibt daher allein der Gerechtigkeit des Menschen überlassen, wie weit diese von sich aus die Rechte der Tiere achten wollen.“ (S. 56)
Das vegane Verhältnis zu Tieren ist meiner Meinung nach von einem Paternalismus geprägt, der eher an klassischen Liberalismus als an Anarchismus erinnert. Hat sich im 19. Jahrhundert der paternalistische Unternehmer um seine ArbeiterInnen und deren Familien gekümmert, setzen sich ganz paternalistisch TierrechtlerInnen für die „Rechte“ von Tieren ein. Solidarisch und gegenseitig kann das Verhältnis zwischen Mensch und Tier meiner Meinung nach aber nicht sein. Unabhängig von dem Verhältnis Mensch/Tier sind die meisten Menschen nicht auf den Verzehr von Fleisch und der Nutzung anderer tierischer Produkte angewiesen, um leben zu können. Die Entscheidung trifft der Mensch, damit bleibt seine Ethik meines Erachtens immer anthropozentrisch.
Der klassische Anarchismus von Bakunin, Kropotkin bis heute zu Bookchin ist ein Anarchismus der Moderne und der Aufklärung nicht nur mit seinen Begriffen von Vernunft und Rationalität verpflichtet, sondern auch dem anthropozentrischen Denken. Ob ein nicht-anthropozentrischer Anarchismus denkbar ist, und welche Art von Freiheit ihm zu Grunde liegt, ist bis heute noch nicht zufriedenstellend ausformuliert worden. Wie sieht die gegenseitige Hilfe zwischen Mensch und Tier aus? Oder was wird aus der freiwilligen Vereinbarung und Assoziation? Fragen, die auch Rinas in seinem Buch noch nicht beantworten konnte.