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Gen-Mutation zum „gläsernen Menschen“?

Zum Problem genetischer "Schleierfahndungen" und Massenerfassung

| Rolf Gössner

„Alle Männer sind potentielle Sexualverbrecher“ – nach diesem Motto ertönte Anfang 2001 aus den Reihen der CDU/CSU die populistische Forderung, künftig alle Männer zwangsweise und flächendeckend genetisch registrieren zu lassen. Mit dieser DNA-Durchleuchtung solle die Aufklärung von Sexualverbrechen gegen Kinder erleichtert werden. Anlaß war der „Mordfall Ulrike“. Ein Gen-Test hatte Ulrikes mutmaßlichen Mörder überführt.

Bereits zu Beginn des Jahres 1998 hatten mehrere aufsehenerregende Sexualstraftaten eine öffentliche Debatte entfacht, die schließlich in die Errichtung einer zentralen Gen-Datei beim Bundeskriminalamt mündete; darüber hinaus wurden die Möglichkeiten zur Erfassung des genetischen „Fingerabdrucks“ gesetzlich ausgeweitet. Das geschah unter einem enormen öffentlichen Druck und in einem atemberaubenden Tempo. Das Gespür für Risiken und Nebenwirkungen der gen-gestützten Kriminalistik schien schon damals ziemlich abhanden gekommen zu sein.

Das DNA-Identitätsfeststellungsgesetz ist im September 1998 in Kraft getreten. Inzwischen, im Juni 1999, hat die rot-grüne Regierungskoalition dieses Gesetz novelliert und damit praktisch eine Rechtslage „nachgebessert“, die verfassungsrechtlich höchst bedenklich ist.

Massenscreening: Umkehr der Beweislast

Zurück ins Jahr 1998: In Niedersachsen ist ein 11jähriges Mädchen mißbraucht und getötet worden. Von dem Sexualmörder fehlt jede Spur – nein, nicht ganz, denn die Spur, die der Täter an seinem Opfer hinterlassen hat, bietet als genetisches Material eine reale Chance, den Mörder zu identifizieren und zu fassen, bevor er ein weiteres Kind mißbrauchen kann. Die Polizei veranstaltet eine Massen-Gen-Untersuchung („Screening“): Über 16.000 Männer zwischen 18 und 30 Jahren werden aufgefordert, freiwillig eine Speichelprobe abzugeben. Nie zuvor ist in einem Ermittlungsverfahren eine so große Bevölkerungsgruppe wegen potentiellen Verdachts systematisch registriert worden. Der Täter kann sich dem Fahndungsdruck nicht entziehen. Er wird identifiziert und gesteht. Er war bereits einschlägig vorbestraft.

Angesichts dieses spektakulären Fahndungserfolges wagte kaum noch jemand, dringliche verfassungsrechtliche Fragen aufzuwerfen: Wird mit solchen genetischen „Schleierfahndungen“, wie sie immer wieder inszeniert werden, nicht der Verfassungsgrundsatz der Unschuldsvermutung in sein Gegenteil verkehrt? Wird hier nicht praktisch „jedermann“ – im vorliegenden Fall: jeder jüngere Mann der Region – zum potentiellen Sexualmörder und zum generellen Sicherheitsrisiko gestempelt? Muß er nicht „freiwillig“ die Verletzung seiner Persönlichkeitsrechte in Kauf nehmen und seine Unschuld durch aktive Mithilfe beweisen? Was heißt „freiwillig“ unter solchem öffentlichem Druck? Denn: Wer nicht zum Speicheltest kommt, gerät der nicht flugs in den engsten Kreis der „qualifiziert“ Mord-Verdächtigen?

Die betroffenen Menschen finden sich in der mißlichen und bürgerrechtswidrigen Situation, ihre Unschuld gegenüber den Ermittlungsbehörden nachweisen zu müssen.

Gen-Datei: Blood, sweat and tears

Die Strafprozeßordnung läßt es seit 1997 zu, aufgefundenes, sichergestelltes oder beschlagnahmtes Spurenmaterial sowie bei körperlichen Untersuchungen gewonnenes Material molekulargenetisch zu untersuchen. Jeder Mensch besitzt eine einzigartige, unverwechselbare Kombination genetischer Strukturen; deshalb genügen kleinste Spuren von Körperflüssigkeiten oder Gewebeteilen, z. B. von Haaren, Fingernägeln oder Hautschuppen (etwa unter den Fingernägeln), von Urin, Sperma, Blut oder Speichel (etwa an einem Zigarettenfilter), um ihn zu identifizieren. Dazu wird die Zellstruktur des am Tatort oder beim Tatopfer gefundenen Materials analysiert, digitalisiert und anschließend elektronisch mit den bereits in der Gen-Datei gespeicherten Gendaten Verdächtiger computergesteuert abgeglichen. Die Gen-Datei wird beim Bundeskriminalamt als Verbunddatei zur Vorsorge für die künftige Strafverfolgung geführt und von allen Bundesländern gespeist und frequentiert. Fast 100.000 DNA-Datensätze sind schon gespeichert (März 2001). Auf dieser Basis können mutmaßliche Täter herausgefiltert oder aber Verdächtigte entlastet werden. In rund 900 Fällen soll ein solcher Abgleich bereits auf die Spur des Täters geführt haben. Daten aus der Gen-Datei können unter bestimmten Bedingungen auch an „sonstige öffentliche Stellen“ – etwa an Sozialämter, Ausländerbehörden, Geheimdienste oder Stellen anderer Staaten – übermittelt werden.

Zweifelhafte Gen-Gläubigkeit

Trotz der gen-gestützten Erfolge ist diese Fahndungsmethode keineswegs so „eindeutig“ und „zuverlässig“, wie der „gen-gläubigen“ Bevölkerung bei Gelegenheit weisgemacht wird. Abgesehen davon, daß dieses Beweismittel die Polizei dazu verleiten könnte, herkömmliche Fahndungsansätze und kriminalistisches Gespür zu vernachlässigen, können auch gravierende Fehler, Unsicherheiten und gezielte Manipulationen dazu führen, daß Unschuldige zu „Schuldigen“ „befördert“ werden. Das kann etwa passieren, wenn die Herkunft der Vergleichsspur am Tatort, die gen-analytisch mit hoher Wahrscheinlichkeit identisch ist mit dem Gen-Material des Betroffenen, nicht geklärt werden kann oder aber interpretierbar ist; das kann auch passieren, wenn „Tatspuren“ – Haare, Zigarettenkippen mit Speichelanhaftung – absichtsvoll an einem Ort des Verbrechens hinterlassen werden, die gezielt eine bestimmte Person in einen qualifizierten Gen-Verdacht bringen sollen, die mit dem Verbrechen jedoch nichts zu tun hat; oder wenn die Mengen an menschlichen Zellen, die am Tatort gefunden wurden, zu gering sind oder wenn Hitze, Feuchtigkeit, Witterung die Spuren, wenn nicht zersetzt, so möglicherweise verfälscht haben; denkbar ist auch, daß das beauftragte Untersuchungslabor unsauber arbeitet – was bereits im Zusammenhang mit Gen-Analysen vorgekommen sein soll.

In erheblichen Verdacht können auch Personen geraten, die vor Jahren mit einem späteren Tatwerkzeug in Berührung geraten sind, die mit der Tat jedoch absolut nichts zu tun haben. Sie sehen sich einem qualifizierten Vorwurf ausgesetzt, den sie in einem solchen Fall früher erfolgter zufälliger „Kontaminierung“ gegenüber den Ermittlungsbehörden zu entkräften haben.

Entgrenzung der genetischen Erfassung

Der genetische „Fingerabdruck“ darf nach dem neuen Gen-Identitätsfeststellungsgesetz nicht nur, wie früher, von (mutmaßlichen) Tätern im Rahmen eines laufenden Strafverfahrens erhoben und in der Gen-Datei gespeichert werden, sondern unter bestimmten Bedingungen auch von bereits verurteilten Straftätern, Strafgefangenen oder Entlassenen zum Zwecke der Identitätsfeststellung in künftigen Strafverfahren – also auf Vorrat (sog. Altfall-Erfassung). Sie müssen wegen „Straftaten von erheblicher Bedeutung“ rechtskräftig verurteilt worden sein und es muß Anhaltspunkte für eine Wiederholungsgefahr geben. Damit wird letztlich das Resozialisierungsgebot des Strafvollzugsgesetzes konterkariert, weil auch als resozialisiert geltende Verurteilte und ehemalige Strafgefangene als „Altfälle“ in der Gen-„Verbrecherdatei“ erfaßt werden können.

Die Betroffenen werden in manchen Bundesländern, etwa in Bayern und Hessen, zunächst veranlasst, ihren genetischen Fingerabdruck „freiwillig“ abzugeben. Nur wenn sie sich – trotz der Drucksituation im Knast weigern, wird der Gen-Test, wie gesetzlich vorgesehen, durch einen Richter angeordnet. Allerdings neigen Richter in der Praxis oft dazu, die Überprüfung routinemäßig und recht lax vorzunehmen.

Die rot-grüne Regierungskoalition verfolgte mit ihrer Gesetzesänderung vom Juni 1999 das Ziel, verbliebene „Regelungslücken“ zu schließen, um eine bessere Absicherung der Gen-Analyse-Datei und der Verfahrensabläufe zu erreichen: Nun können die Staatsanwaltschaften beim Bundeszentral- und Erziehungsregister auch „Gruppenauskünfte“ über sämtliche Verurteilten einholen, die eine bestimmte Straftat begangen haben. Nach der neuen Gesetzeslage ist das systematische Auffinden von „Altfällen“, die beschleunigte Daten-Übermittlung aus dem Bundeszentralregister und der maschinelle Datenabgleich mit den Haftdateien rechtlich abgesichert worden. Das Änderungsgesetz sorgt damit für eine rasche Erfassung angeblich „wiederholungsgefährdeter“ Beschuldigter und Abgeurteilter. Allein in Niedersachsen sollen bei geschätzten 100.000 Betroffenen DNA-Identitätsfeststellungsverfahren eingeleitet werden, wobei etwa 126.000 Kriminalakten auszuwerten sind (vgl. Antwort des Innenministeriums, Drs. 14/903, S. 10).

Die erregte öffentliche Diskussion des Jahres 1998 führte dazu, dass die Sicherheitspolitiker der damaligen Bundesregierung und der SPD weit über das ursprüngliche Ziel hinausschossen, ausschließlich (mutmaßliche) Sexualverbrecher zu erfassen. Diese Ermittlungsmethode ist nun auch zulässig, wenn Tätern bzw. bloß Verdächtigen lediglich eine „Straftat von erheblicher Bedeutung“ angelastet wird; dazu kann schon der Verdacht auf (gewerbsmäßige) Bandendelikte oder Einbruchsdiebstahl ausreichen. Die Formel „Straftat von erheblicher Bedeutung“ ist kaum eingrenzbar – auch nicht durch die im Gesetz benannten Beispiele eines ansonsten offenen Katalogs (Verbrechen oder Vergehen gegen die sexuelle Selbstbestimmung, gefährliche Körperverletzung, Diebstahl in besonders schwerem Fall, Erpressung). Auch der inzwischen von Rot-grün verabschiedete Katalog von insgesamt 41 Delikten – von der „Bildung terroristischer Vereinigungen“ (§ 129a StGB) über Banden- und Einbruchsdiebstahl (§§ 243, 244 StGB) bis hin zur Körperverletzung im Amt (§ 340 StGB) – schafft nur wenig Klarheit, zumal dieser Katalog nicht abschließend ist. Dies dürfte dem verfassungsrechtlichen Gebot der Normenklarheit widersprechen, an das bei der Durchführung einer molekulargenetischen Untersuchung gerade im Hinblick auf die Eingriffstiefe in das Persönlichkeitsrecht besonders hohe Anforderungen zu stellen sind.

Zur Praxis der genetischen Erfassung

In Niedersachsen ist der Fall eines Braunschweigers bekannt geworden, der Beschuldigter in einem Ermittlungsverfahren wegen „gefährlicher Körperverletzung“ ist; die Tat soll im Verlauf von Auseinandersetzungen zwischen Gegnern des Kosovo-Krieges und der Polizei während der 1.-Mai-Kundgebung 1999 in Braunschweig passiert sein. Daraufhin ist dem Beschuldigten zwangsweise eine Speichelprobe abgenommen und die Gen-Analyse aufgrund eines richterlichen Beschlusses präventiv in die Gen-Datei aufgenommen worden.

Ein ehemaliges Mitglied der RAF sollte am 30. Januar 2001 in Frankfurt/M. auf offener Straße zur Speichelabgabe gezwungen werden. Als sie sich weigerte, wurde sie zum Polizeipräsidium gebracht, wo Beamte ihr gewaltsam Blut abgenommen haben. Begründung der Anordnung: Es könne nicht ausgeschlossen werden, dass sie wieder Straftaten begeht („Negativprognose“). Die Betroffene verbüßte bis 1991 eine über achtjährige Freiheitsstrafe, ist seit ihrer Entlassung aber strafrechtlich nicht mehr in Erscheinung getreten. Davon unbeeindruckt prognostiziert der Ermittlungsrichter des Bundesgerichtshofs in seinem Beschluß vom 17.10.2000: „Durch die Feststellung des DNA-Identifikationsmusters ist in künftigen Strafverfahren ein Aufklärungserfolg zu erwarten. Nach bisheriger Erfahrung ist bei Straftaten im terroristischen Bereich zu erwarten, dass bei der Tatausführung Körperzellen abgesondert werden, die für eine DNA-Analyse geeignet sind.“

Ebenfalls genetisch gespeichert wurde nach einem Beschluß des Landesgerichts Göttingen (1999) ein türkischer Student, der – bis dahin nicht vorbestraft – eine Bewährungsstrafe wegen gemeinschaftlicher gefährlicher Körperverletzung erhalten hatte. Der gerichtlich festgestellte Sachverhalt: Auf einer StudentInnenfete hatte der Beschuldigte bei tätlichen Auseinandersetzungen darüber, ob die Fete eine „Faschingsfete“ sei, jemandem Verletzungen zugefügt. Dies sah das Gericht zwar nicht als besonders schwer an, es hielt dem Studenten allerdings „Fanatismus“ vor. Fanatismus als „Persönlichkeitsmerkmal“ scheint offenbar die „Gewähr“ zu bieten, daß der Betroffene künftig wieder strafrechtlich in Erscheinung treten wird.

In zunehmendem Maße werden Flüchtlinge einem DNA-Zwangstest unterworfen, um Betrügereien auf die Spur zu kommen bzw. die Herkunft nachweisen zu können.

Verfassungsgerichtliche Begrenzungsversuche

Anfang 2001 hat das Bundesverfassungsgericht die ausufernde Praxis der Erfassung des „genetischen Fingerabdrucks“ (DNA-Untersuchung) eingeschränkt. So haben die Karlsruher Richter die von den Ermittlungsbehörden angeordnete genetische Erfassung eines 37jährigen Familienvaters aus Hannover und die Aufnahme seiner personenbezogenen Daten in die Gen-Datei für verfassungswidrig erklärt. Der Betroffene war in den Jahren 1985 bis 1995 wegen Diebstahls, Beleidigung, Rauschgifthandels, schwerer Brandstiftung und Bedrohung zweimal zu Geldstrafen und dreimal zu Freiheitsstrafen verurteilt worden, die jeweils zur Bewährung ausgesetzt wurden. 1999 sollte der Mann auf Anordnung eines Amtsrichters und nach Bestätigung durch das Landgericht eine Speichelprobe für die Erfassung in der zentralen Gen-Datei abgeben. Hiergegen erhob er Verfassungsbeschwerde.

Das Verfassungsgericht kritisierte in seiner Entscheidung, die Amtsrichter hätten ihre Anordnung ohne Prüfung des Einzelfalls unter bloßer Aufzählung des Vorstrafenregisters des Betroffenen vorgenommen. Dabei sei nicht berücksichtigt worden, daß dessen Straftaten nicht unter jene „Straftaten von erheblicher Bedeutung“ fielen, um welche es sich bei einer Erfassung in der Gen-Datei handeln müsse. Die Straftaten des Beschwerdeführers sowie die gegen ihn verhängten Geld- und Bewährungsstrafen sprächen gegen die vom Gesetz geforderte erhebliche Schwere der Taten. Gegen eine Wiederholungsgefahr sprächen die recht unterschiedlichen Arten der früheren Straftaten sowie die Tatsache, daß der Familienvater seit sechs Jahren nicht mehr strafrechtlich aufgefallen ist (BVerfG, 2 BvR 1741/99).

Auch andere Kläger, die wegen Delikten wie Diebstahl, Körperverletzung oder im Drogenbereich nur zu Geld- oder Bewährungsstrafen verurteilt worden waren, haben inzwischen vom Bundesverfassungsgericht Recht bekommen. Das Gericht erinnerte daran, dass die langfristige Speicherung des genetischen Fingerabdruck als schwerwiegender Eingriff in das „informationelle Selbstbestimmungsrecht“ nur nach erheblichen Straftaten und bei konkreter Rückfallgefahr zulässig sei. Andernfalls verstoße die Maßnahme gegen den verfassungsrechtlichen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (Az. 2 BvR 1841/00 u.a.).

Kriminalistische Begehrlichkeiten

Nach der aktuellen Rechtslage darf der „genetische Fingerabdruck“ nur verwendet werden, um Identität und Abstammung festzustellen oder aufgefundenes Spurenmaterial zuzuordnen. Durch eine Änderung der Untersuchungsmethode und eine Ausweitung der Zweckbestimmung wäre es aber auch möglich, tatsächliche oder vermeintliche Rückschlüsse zu ziehen auf individuelle Merkmale wie Erbanlagen, Krankheiten, Charaktereigenschaften (Aggressionspotential, Intelligenz etc.) oder gar vermutete Anlagen zu „Sozialschädlichkeit“. Praktisch wäre dies schon umsetzbar, weil mittlerweile das gesamte menschliche Genom als entschlüsselt gelten kann. Die Gefahr, mithilfe von Persönlichkeits- und Risikoprofilen aus Genom-Analysen den „gläsernen Menschen“ zu schaffen, schwebt über den Methoden der modernen, gen- und computergestützten Kriminalistik. Denn diese Methoden sind geeignet, ins Innerste der Persönlichkeit einzudringen, sie bis auf den Zellkern durchsichtig zu machen, zu kategorisieren und nach bestimmten Rastern zu selektieren. Eine Stellungnahme des Bundes Deutscher Kriminalbeamter (BDK) vom 15. Juni 1998 belegt, daß solche Befürchtungen nicht grundlos sind; die kriminalistischen Begehrlichkeiten der organisierten Kriminalbeamten zielen auf den – bislang versperrten – codierten Teil der Genom-Analyse: „Das kriminalistische Interesse auch an diesem Bereich liegt auf der Hand. Bei einem entsprechenden wissenschaftlichen Stand könnten dann allein aus aufgefundenen Körperzellen Rückschlüsse auf die Hautfarbe, die Haar- und Augenfarbe, die Statur usw. gezogen werden. Dies wäre bei Straftaten unbekannter Täter eine wertvolle Fahndungshilfe… Die Diskussion hierüber sollte nicht tabuisiert werden…“

Im übrigen, so der BDK, solle künftig doch schon jeder einer Straftat lediglich Verdächtige in die Gen-Datei aufgenommen werden. Auch Bundesinnenminister Otto Schily (SPD) erwägt eine Ausweitung: Könnten nicht prophylaktisch auch Spanner, Voyeure und Exhibitionisten in der Gen-Datei gespeichert werden? Schließlich gelten solche Risiko-Verhaltensweisen manchen als Vorstufen für Sexualverbrechen. Baden-Württemberg hat im März 2001 bereits einen entsprechenden Entschließungsantrag in den Bundesrat eingebracht (BR-Drs. 158/01).

Die wissenschaftlichen Fahndungsmethoden der Polizei entwickeln sich rasant. Genetischer Fingerabdruck, Massen-Screening und Gen-Dateien sind nur drei sich ergänzende Mittel. Weitere sensitive computergestützte Identifikationsverfahren, die – alternativ oder kumulativ angewandt – ein noch nicht abschätzbares Gefährdungspotential für die Bürgerrechte darstellen können, sind u.a. die Auswertung der gesamten Telekommunikationsmöglichkeiten mittels Spracherkennung (Sonogramm-Abgleich) und teilweise zu dem Zweck, Bewegungsbilder zu erstellen (etwa über Mobilfunk-Überwachung), intensivierte Video-Überwachung im öffentlichen Raum mit digitaler Auswertung von Gesichtern und Verhaltensmustern, biometrische Zugangskontrollen durch visuell-sensorische Erhebungen sowie der elektronische Abgleich unterschiedlicher Körpermerkmale (Fingerabdruck, Augen- bzw. Iris-Diagnose, elektronische Gesichtserkennung etc.).

Die Schreckensvision von einem Staat, dessen Bürgerinnen und Bürger (möglicherweise bereits mit der Geburt) biometrisch vermessen, genetisch erfaßt und analysiert werden, ist ein ganzes Stück näher gerückt: Die Menschen mutieren in einem solchen Szenario zu „gläsernen“ Objekten, die jederzeit auffindbar und identifizierbar sind. Das Erschreckendste daran: Die Bevölkerung scheint allzeit bereit, jeden als erfolgversprechend gepriesenen Polizeieingriff und jedes neue Fahndungsinstrument lauthals zu begrüßen – und damit verbundene Risiken und Bürgerrechtsverletzungen großzügig hinzunehmen. Mit der Umkehrung der Beweislast scheint man sich längst abgefunden zu haben – jedenfalls solange man nicht selbst davon betroffen ist, wozu es schneller kommen kann, als man ahnt.

Anmerkungen

Dr. Rolf Gössner ist Rechtsanwalt, Publizist und parlamentarischer Berater.

Neueste Buchpublikationen

"Big Brother" & Co. Der moderne Überwachungsstaat in der Informationsgesellschaft (Konkret Literatur Verlag, Hamburg 2000)

Erste Rechts-Hilfe - Rechts- und Verhaltenstips im Umgang mit Polizei, Justiz und Geheimdiensten (Verlag Die Werkstatt, Göttingen 1999).