Auf Einladung von Connection e.V. hat der kolumbianische Antimilitarist Luis Gabriel vor wenigen Wochen eine Vortragsreise durch die Bundesrepublik gemacht. In Offenbach interviewte ihn GWR-Mitherausgeberin Ira Kukavica (Red.).
GWR: Kannst du etwas über dich selbst, über deine persönliche Lebensgeschichte erzählen?
Luis Gabriel: Seit etwa sieben Jahren gehöre ich der antimilitaristischen Bewegung in Kolumbien an, der Bewegung für Kriegsdienstverweigerung. Es begann, als ich zum Kriegsdienst eingezogen werden sollte und die Einberufung verweigerte. Meine Gründe waren ethischer, moralischer Natur: ich war gegen den Krieg. In Kolumbien gibt es kein Gesetz, das die Kriegsdienstverweigerung anerkennt. Artikel 18 der Verfassung erkennt zwar die „Gewissensfreiheit“ an, nicht aber die Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen. Entsprechend reagierten die Gerichte in meinem Fall: ich wurde wegen Desertion verurteilt. Obwohl ich niemals eine Uniform oder eine Waffe getragen hatte. Trotzdem erklärten sie mich zum Deserteur und verurteilten mich zu sieben Monaten Gefängnis. Nachdem ich diese Zeit abgesessen hatte, wurde ich entlassen, aber gleich wieder zum Kriegsdienst einberufen. Ich weigerte mich zum zweiten Mal und wurde diesmal zu einem Jahr Gefängnis verurteilt – wegen wiederholter Desertion. Ich ging aber nicht ins Gefängnis. Es hatte Drohungen gegen mich und meine Familie gegeben, die Situation war sehr unsicher. Ich versteckte mich drei Jahre lang. Nach dieser Zeit der Illegalität wurde mein Fall fallengelassen, und ich hoffte, der Haftbefehl gegen mich würde aufgehoben. Das war nicht der Fall, aber ich wurde auch nicht mehr von Militär oder Polizei behelligt. Merkwürdigerweise bekam ich sogar per Post das Militärbuch zugeschickt, das man eigentlich erst nach Ableistung des Kriegsdienstes bekommt. Das war für mich persönlich vielleicht praktisch, aber politisch war es natürlich nicht das, was wir erreichen wollten.
Während dieser drei Jahre der Illegalität engagierte ich mich in der KDV-Arbeit – unter falschem Namen natürlich. Wir gründeten KDV-Gruppen in verschiedenen Städten; ich gehörte zum KDV-Kollektiv Medellín. Es wurde 1996, ein Jahr nach meiner Entlassung aus dem Gefängnis, gegründet.
Es war nicht ganz einfach, in der Illegalität zu überleben. Aber es funktionierte dank der politischen und persönlichen Solidarität von Gruppen, Genossen und Freunden, die dafür sorgten, dass ich etwas zu essen und einen Schlafplatz hatte.
Im Moment sind wir dabei, das Lateinamerikanische Netzwerk für Kriegsdienstverweigerung (ROLC) aufzubauen.
GWR: Über die Bewegung für Kriegsdienstverweigerung in Kolumbien wissen wir hierzulande nur wenig. Vielleicht kannst du uns kurz ihre historische und politische Entwicklung darstellen.
Luis Gabriel: Die kolumbianische Bewegung für Kriegsdienstverweigerung ist eine der ältesten in Lateinamerika. Sie entstand 1989, vor allem auf Initiative mennonitischer Gruppen, die das Recht auf Freistellung vom Kriegsdienst aus religiösen Gründen forderten. Bald kam auch die politische Komponente hinzu. Verschiedene Organisationen bildeten sich aus Jugendbewegungen und sozialen Bewegungen heraus, und Anfang der 90er Jahre bildete sich das erste funktionierende KDV-Kollektiv in Bogotá. Zunächst konzentrierte sich die Arbeit darauf, die Anerkennung des Rechts auf KDV und die Abschaffung des militärischen Zwangsdienstes per Gesetz zu fordern. So 15, 20 Gesetzesentwürfe wurden vorgelegt, aber keiner davon hatte Erfolg. 1991 wurde im Rahmen der „constituyente“, die dem Land eine neue Verfassung geben sollte, immerhin die Einführung des Artikels 18 durchgesetzt. Aber auch dieser ist keine umfassende Lösung für die Kriegsdienstverweigerer in unserem Land. Er gilt nur für die Verweigerung aus religiösen Gründen. Studenten der evangelischen und katholischen Priesterseminare sind jetzt vom Militärdienst befreit. Aber wenn wir politische, ethische oder moralische Gründe für unsere Ablehnung des Krieges geltend machen, werden wir nach wie vor nicht anerkannt.
Inzwischen ist die Bewegung dazu übergegangen, schwerpunktmäßig Informationsarbeit zu machen, das Thema KDV auf unterschiedlichen Ebenen bekannt zu machen. In sozialen Bewegungen, im Parlament, unter Jugendlichen – und indem ganz konkret die Prozesse gegen Kriegsdienstverweigerer begleitet werden.
Wie gesagt: seit 1996 gibt es das KDV-Kollektiv in Medellín, und im vergangenen Jahr entstand ein Netzwerk für die KDV-Arbeit in Kolumbien, dem sieben höchst unterschiedliche Organisationen angehören, von der kolumbianischen Arbeiterjugend bis zur mennonitischen Kirche – und natürlich auch die KDV-Kollektive Medellín und Bogotá.
GWR: Bei unserem Gespräch neulich hast du sehr eindrücklich die wirtschaftlichen und sozialen Rahmenbedingungen in Kolumbien geschildert, unter denen ihr arbeitet und die, wie du gesagt hast, eure Ziele und Ideen oft als realitätsfern erscheinen lassen.
Luis Gabriel: Nun, zum einen meinte ich damit die wirtschaftliche Situation unserer Gruppen: es fehlen uns schlicht die Mittel, in andere Regionen des Landes zu gehen und dort unsere Forderungen überhaupt bekannt zu machen. Unsere Arbeit spielt sich im wesentlichen in den Ballungsräumen um Bogotá und Medellín ab. Jenseits dieser Städte haben wir nicht die Möglichkeit, Broschüren oder Flugblätter mit Informationen zu verteilen. Wir haben also ganz einfach nicht das Geld, um flächendeckend gegen die Desinformation anzukämpfen; und dabei sind wir überzeugt, dass die Desinformation in unserem Land eine wesentliche Ursache dafür ist, dass es kaum Kriegsdienstverweigerer gibt. So viele Leute wissen überhaupt nicht, was Kriegsdienstverweigerung ist, dass es so etwas gibt. Erst recht nicht, dass es ein Recht darauf geben sollte; dass Kolumbien völkerrechtliche Verträge unterzeichnet hat, die das Land verpflichten, das Recht auf Kriegsdienstverweigerung in seine Verfassung aufzunehmen. Und die überwiegende Mehrheit dieser Leute können wir rein geografisch nicht erreichen – so viel zur wirtschaftlichen Situation unserer Gruppen…
Aber ein ganz wesentlicher Faktor ist die wirtschaftliche Situation der Gesellschaft insgesamt. Viele Jugendliche sehen keine Perspektive für ihr Leben. Wenn sich ihnen nun die Chance des Militärdienstes bietet – denn als Chance wird er tatsächlich wahrgenommen, und das ist nicht nur in Kolumbien so, sondern in ganz Lateinamerika -, dann nutzen sie die Gelegenheit. Für viele Jugendliche ist das Militär die einzige Möglichkeit, lesen und schreiben zu lernen, die einzige Möglichkeit, eine Arbeit zu finden. Sich für den Krieg zu entscheiden, ist also ein riesiger wirtschaftlicher und persönlicher Vorteil. Die meisten sagen: Warum sollte ich nicht zum Militär gehen? Wenn ich den Kriegsdienst verweigere, lande ich im Gefängnis oder muss jahrelang untertauchen. Wenn ich dagegen zum Militär gehe, kann ich vielleicht sogar studieren – oder zumindest meine Familie ernähren helfen. Meine Familie hungert und hofft auf mich, ich kann sie nicht einfach im Stich lassen und den Kriegsdienst verweigern. – Und dann werden wir gefragt: Und was habt Ihr uns zu bieten? Geld? Die Möglichkeit zu lernen? Eine Schule zu besuchen? Wer wird meine Familie ernähren?
In den Augen vieler ist KDV ein Privileg der bürgerlichen Jugendlichen – um den Kriegsdienst zu verweigern, muss man ein gesichertes Existenzminimum haben, sonst nimmt man buchstäblich in Kauf, dass die eigene Familie verhungert. Es geht ja nicht nur um die Möglichkeit zu studieren, es geht – für die meisten viel existentieller – um die Möglichkeit zu arbeiten. Solange ein männlicher Jugendlicher kein Militärbuch vorweisen kann, findet er nicht einmal einen Arbeitsplatz.
Ohnehin wird die Mehrheit der Jugendlichen in unserem Land ausgebeutet: Sie werden extrem schlecht bezahlt, sie erhalten nicht einmal den Mindestlohn, und die realen Arbeitszeiten sind sehr viel länger als offiziell vorgeschrieben. Oft existiert praktisch kein arbeitsrechtlicher Schutz.
GWR: Das ist auch der Grund, weshalb du forderst, dass sich die antimilitaristische Bewegung nicht nur auf die Themen KDV und Militarismus beschränken darf, sondern sich mit der gesamtgesellschaftlichen Struktur auseinandersetzen muss.
Luis Gabriel: Ja klar. Wir haben es ja auch mit einem gesamtgesellschaftlichen Problem zu tun. Einem System, in dem junge Menschen in den Krieg ziehen müssen, um ihr Überleben zu sichern.
GWR: In einem deiner Aufsätze schreibst du: „Nicht der Krieg sollte unser Antrieb sein, sondern unsere eigenen Ideen der sozialen Gerechtigkeit, der Entwicklung, der Vielfalt. Wir müssen mit … einer neuen Kultur des Friedens dem Krieg die Legitimation entziehen. Wir müssen überall auf dem Kontinent zu einer permanenten Opposition werden. Wir müssen dafür sorgen, dass unsere Gruppen zu Zentren der Aktion, des Widerstands und der politischen Debatte werden, wo ständig Vorschläge für den Aufbau einer Gesellschaft ohne Hierarchie erarbeitet werden.“ (1) Deine Forderung ist, aktiv gesellschaftliche Utopien zu entwickeln, um den herrschenden Realitäten etwas entgegensetzen zu können, was über die radikale Verweigerung hinausgeht. Wie sieht deine Vorstellung einer egalitären, gerechteren Gesellschaft, einer Gesellschaft, die ohne Militär und Militarismus auskommen kann, aus?
Luis Gabriel: Schon unsere konkreten Forderungen reichen ja im Grunde weiter als bis zur bloßen Abschaffung des militärischen Zwangsdienstes. Wir sind nicht einfach nur „gegen das Militär“ als abgegrenzte Institution. Wir wollen eine Gesellschaft, in der die Menschen das Recht und die faktische Möglichkeit haben, sich zu verweigern und „Nein“ zu sagen. Wenn wir uns nur auf die formalen rechtlichen Aspekte beschränken, haben wir vielleicht bald eine Situation, in der es zwar ein Recht auf KDV gibt, die überwiegende Mehrheit der Menschen sich dieses Recht aber nicht leisten kann: die ökonomische Möglichkeit besteht für sie und ihre Familien einfach nicht. Deshalb müssen wir weitergehen und die Frage stellen: Wo sind die Rechte der Jugendlichen, der Minderjährigen, der in Kinderarbeit Ausgebeuteten? Wo sind die wirtschaftlichen Rechte der Bauernfamilien, die ihre Produkte nicht verkaufen können? Die Frage nach dem strukturellen Problem der Ungleichheit, dem riesigen Abgrund zwischen Arm und Reich: es gibt so gut wie keine Mittelschicht in unserem Land, es gibt nur Arme und Reiche. Den Reichen stehen alle Möglichkeiten der Korruption offen, sie können sich alles kaufen – zum Beispiel auch das Militärbuch.
GWR: Hast du konkrete Lösungsvorschläge für eine gesellschaftliche Alternative – oder den Weg dorthin?
Luis Gabriel: Nun, der Weg muss auf lange Sicht dahin führen, die Ursachen des Krieges abzuschaffen, die Gründe, die uns fortgesetzt zwingen, Krieg zu führen. Eine einfache Lösung, ein Patentrezept habe ich auch nicht. Ich weiß nur, dass die Lösung globalen Charakter haben muss. Dass sie alle Menschen etwas angeht. Denn wir dürfen nicht vergessen, dass, wenn im Zusammenhang mit dem Kriegsdienst von „Sicherheit“ geredet wird, immer zwei Formen von Sicherheit im Spiel sind, die wir klar unterscheiden müssen. Zum einen die Sicherheit im militärischen Sinne: Sicherheit des Territoriums, der Staatsgrenzen usw. Zum anderen aber das, was wir die menschliche Sicherheit nennen: Gesundheit, Bildung, Möglichkeiten der Kommunikation, Möglichkeiten alternativen Arbeitens, Möglichkeiten der menschlichen Entwicklung. Und diese Sicherheit existiert in unserem Land für die meisten Menschen nicht. Und je mehr der Fetisch der militärischen, der territorialen, der Grenzsicherheit gestärkt wird, desto rapider schwinden die Chancen, menschliche Sicherheit zu schaffen.
Zur Zeit versucht man uns ja zu verkaufen, dass die einzige Möglichkeit, allen Menschen unseres Landes eine Chance auf ein menschenwürdiges Leben zu geben, darin bestünde, den Drogenhandel zu eliminieren. Als ob der Drogenhandel eine willkürliche Bosheit, eine Laune wäre, und nicht ein Teil der gesellschaftlichen Struktur. Die Mehrheit der Kokaproduzenten sind Bauern und Bäuerinnen, die nie eine Möglichkeit hatten, ihre regulären Produkte zu vermarkten. Als dann die Paramilitärs, die Guerilla oder eben auch die Drogenhändler in ihre Dörfer kamen, bauten sie Schulen und Landebahnen für Flugzeuge und versprachen den Leuten, ihnen ihre gesamte Ernte abzukaufen, wenn sie Koka anbauten. D.h. diese Bauern und Bäuerinnen hatten plötzlich die Garantie, dass sie nie wieder Probleme haben würden, ihre Produkte zu verkaufen: für sie war das eine unerhörte Chance.
GWR: Die Aufgabe, „menschliche Sicherheit“ zu schaffen – ist das für dich vorrangig die Aufgabe einer gesellschaftlichen Gruppe oder Klasse? Eine nationale Aufgabe? Oder eine internationale, weltweite?
Luis Gabriel: Eine weltumspannende Aufgabe. Mir ist zum Beispiel nicht klar, wie die Europäer in ihrem Wohlstand ruhig leben können, mit dem Lebensstandard, den sie haben, wo sie doch wissen, dass auf der Erde dreimal so viele Menschen in Armut leben, viele von ihnen hungern. Ich glaube, die Menschen in Europa fragen sich einfach nie, woher denn ihr Wohlstand kommt – warum es ihnen so gut geht, warum es bei ihnen soziale Sicherheit gibt, warum es Arbeitslosenhilfe gibt, warum niemand vor Hunger stirbt, warum kaum jemand auf der Straße leben muss. Denn das ist die Kehrseite ihres Wohlstands: Die Hungernden, die Menschen, die auf der Straße leben müssen – sie sind vielleicht nicht vor ihrer Haustür, aber sie sind die Realität in anderen Kontinenten, zum Beispiel in Lateinamerika. Ebenso die Menschen, die als billige Arbeitskräfte ausgebeutet werden, ohne jede soziale Absicherung, ohne Arbeitnehmerrechte. Zu den Garantien, die die multinationalen Unternehmen fordern, um überhaupt in einem lateinamerikanischen Land zu investieren, gehört, dass die Regierung ihnen alle Belastungen und Risiken abnimmt und vor allem die Gewerkschaften ausschaltet. Der Mindestlohn für einen Arbeiter liegt bei 150 Dollar – und damit soll er dann seine Familie ernähren. Und wenn er arbeitslos wird, muss er betteln gehen – oder eben in den Krieg.
Das ursächliche Problem Lateinamerikas ist also nicht der Krieg, und schon gar nicht der Drogenhandel. Das Problem sind wir, das Problem ist die Gesellschaft. Kolumbien verbraucht viermal so viele Chemikalien wie der Rest Lateinamerikas zusammen. Kolumbien ist zur Zeit der weltweit zweitgrößte Importeur US-amerikanischer Waffen. Wir sind der wichtigste Empfänger von US-Militärhilfe in Lateinamerika, wir bekommen viermal soviel wie jedes andere lateinamerikanische Land – dank des „Plan Colombia“. (2)
Aber das wird zu nichts führen, das ist keine Lösung. Eine wirkliche Lösung setzt eine weltweite Bewusstseinsbildung voraus.
GWR: Siehst du in den Aktionen und Massendemonstrationen gegen den Neoliberalismus, die in Europa und Nordamerika anlässlich des WWF, der FTAA-Konferenz, der G8-Gipfeltreffen usw. stattgefunden haben, einen Schritt in die richtige Richtung?
Luis Gabriel: Ja, definitiv. Ich war sehr überrascht, ich hatte über das Ausmaß dieser Proteste nichts gewußt. Dass da 25.000, 30.000 Menschen auf die Straße gehen, um auf die Handvoll Menschen Druck auszuüben, die über die Welt entscheiden: Das ist ein Anfang. Das ist ein Teil des Protests, der zu etwas Dauerhaftem werden müsste. Der sich von den einzelnen Anlässen, den Gipfeltreffen und dergleichen lösen und permanent kritisieren müsste, was sich da abspielt. Zum Beispiel die Massaker, die die Multis in unseren Ländern anrichten. Die massenhaften Vertreibungen mit Billigung der Regierungen. Die Zerstörung der Umwelt.
Und dieser Protest (in den Metropolen, d.Ü.) muss sich mit dem Protest in Lateinamerika vernetzen.
GWR: Welchen Eindruck hattest du von der Kommunikation mit Einzelnen und Gruppen während deiner Reise durch Deutschland und Europa? Wie wurden deine Vorträge, deine Analysen und Überlegungen aufgenommen? Wurde deine Einschätzung der Zusammenhänge, der Ursachen und Folgen geteilt?
Luis Gabriel: Die Reaktionen waren sehr unterschiedlich. Es gab Leute, denen nicht einmal bewusst war, dass ihr Land Waffen nach Lateinamerika exportiert – während seine Regierung zugleich sagt: Wir unterstützen dort den Friedensprozess. Die meisten Leute wussten nicht, dass der Großteil der Chemikalien, die Kolumbien für die Kokaproduktion verwendet, aus Europa und den USA kommt. Oder dass die Leute, die im amerikanischen Kongress für den Plan Colombia stimmten, die Besitzer der Waffenfabriken sind. Dass durch den Plan Colombia, der angeblich der Bekämpfung des Drogenhandels dienen soll, Kolumbien zu einer militärischen Bedrohung für ganz Lateinamerika hochgerüstet wird. Das ist Teil einer militärischen Strategie – natürlich rüsten die anderen lateinamerikanischen Staaten jetzt auch entsprechend auf. Und kaufen zu diesem Zweck Waffen aus den USA. In Holland wussten die Leute nicht, dass ihre Regierung die Kolonie der Antillen als Militärbasis für den Plan Colombia zur Verfügung stellt.
Dann gibt es viele unter den politisch Interessierteren, die eine verklärte Vorstellung von der Guerilla in Kolumbien haben: Die älteste Guerilla Lateinamerikas! Die Helden des Widerstands! 50 Jahre heroischen Kampfes – das kann man doch nicht einfach aufgeben! Der Kampf muss weitergehen!
GWR: Wie denkst du über die Guerilla?
Luis Gabriel: Dass es keine Guerilla gibt. Es gibt nur einen Kampf zwischen verschiedenen Militärs. Die FARC ist zu einer der Armeen geworden, die es in unserem Land gibt und die sich über die territoriale Souveränität im Land streiten. Die FARC bietet keine wirkliche politische Alternative, sondern nur eine weitere hierarchische, totalitäre Struktur.
Wie sähe unsere Zukunft aus, wenn diese Guerilla siegen würde? Düster!
Die Strukturen unseres Landes werden sich nicht auf dieser militärischen Ebene verändern lassen.
50 Jahre Krieg haben uns zur Genüge bewiesen, dass es keine militärische Lösung gibt. Dass wir die Lösung unserer Probleme nicht den Streitkräften – egal welcher Couleur – überlassen dürfen.
In der Geschichte unseres Landes haben sich die verschiedensten Armeen abgewechselt, und keine konnte die strukturellen Probleme beseitigen.
Es wird Zeit, dass endlich die Bevölkerung als Ganze die Verantwortung übernimmt, sich auf die Suche nach Lösungen macht. Sonst wird der Krieg ewig weitergehen. Und die Menschen des Landes werden immer in der Rolle der Opfer bleiben.
GWR: An welche Formen politischen Handelns denkst du dabei? Hast du eine Vorstellung, wie die nächsten Schritte ganz konkret aussehen könnten?
Luis Gabriel: Die Strukturen des Landes sind so komplex und die Übermacht des Militärs, der Paramilitärs und der Guerilla ist so erdrückend, dass es kaum möglich scheint, konkrete Ansätze zu entwickeln.
Dennoch müssen wir daran festhalten: Wer die Macht hat, hat deshalb noch lange nicht recht. Unser Kampf mag als romantisch und unrealistisch belächelt werden, vielleicht ist er das auch. Wir sind eine winzige Minderheit gegenüber 80.000 Militärs und 50.000 Guerrilleros und offiziell 8.000 Paramilitärs (inoffiziell sind es sehr viel mehr). Trotzdem wollen wir weitermachen. Wir wollen nicht zulassen, dass es immer mehr Tote in diesem Krieg gibt. Wir wollen uns mit dieser Realität nicht abfinden.
Innerhalb unseres Aktionsradius – der zugegebenermaßen klein ist – haben wir ein ganz konkretes Ziel: Wir wollen erreichen, dass weniger Jugendliche zum Militär, in den Krieg gehen. Ihnen klar machen, dass es diese Möglichkeit überhaupt gibt.
Darüber hinaus wollen wir zumindest weiterhin öffentlich machen, was passiert – auf staatlicher Ebene in Kolumbien, aber auch durch die als Unterstützung getarnte Interessenpolitik der USA und der EU. Wir wollen informieren, unseren Protest nach außen tragen.
Dazu gehört auch, ganz klar zu sagen: Es gibt keinen Bürgerkrieg in Kolumbien. Es gibt nur einen Krieg gegen die Zivilgesellschaft. In einem Bürgerkrieg ist die Zivilgesellschaft in zwei Lager gespalten. Das ist in Kolumbien nicht der Fall. Der größte Teil der Zivilgesellschaft legitimiert weder das eine noch das andere Lager, sondern wünscht sich nur Frieden und das Recht auf Leben. Was in unserem Land passiert, ist, dass mehrere militärische Machtblöcke sich untereinander die Macht streitig machen. Die Zivilbevölkerung hat davon herzlich wenig. Sie ist Opfer des Krieges zwischen den feindlichen Militärstrukturen.
Wo ist in unserem Land der Geist zu spüren, den Subcomandante Marcos in Chiapas vermittelt, wenn er sagt: „Die Guerilla ist nicht dazu da, die Zivilbevölkerung zu töten. Die Guerilla ist dazu da, die Zivilbevölkerung zu schützen, selbst wenn sie sich feindlich gesonnen zeigt“? In Kolumbien dagegen ermordet die Guerilla Bauern und Dorfbewohner, wenn sie im Verdacht stehen, die Paramilitärs zu unterstützen. Und die Paramilitärs handeln genauso: Sie töten diejenigen, die sie für Unterstützer der Guerilla halten.
GWR: Hat Subcomandante Marcos, haben die Zapatistas in deinen Augen eine Lösung zu bieten – auch für euch?
Luis Gabriel: Wir lehnen die bewaffnete Strategie grundsätzlich ab. Allerdings sehen wir auch, dass die EZLN die Position der aus der Gesellschaft Ausgeschlossenen stärkt, dass sie ihnen eine Stimme gibt. Das ist ein Ziel, das auch wir erreichen möchten – ohne zu den Waffen greifen zu müssen und zu einer weiteren Bedrohung, einer weiteren Komponente des Krieges zu werden. Auf gewaltlose Weise wollen wir die Mehrheit der Bevölkerung stärken, die kein Interesse am Krieg haben kann, und ihr Bewusstsein für die Notwendigkeit des Friedens schärfen.
GWR: Wie könnte der Beitrag deutscher bzw. europäischer Gruppen zu eurer Arbeit konkret aussehen?
Luis Gabriel: Es gibt viele Möglichkeiten. In erster Linie ist es für uns wichtig, dass die Menschen hier aufmerksam verfolgen, was bei uns geschieht. Jenseits der Verhandlungen zwischen Regierung und Guerilla, jenseits des Drogenhandels. Dass sie aufmerksam verfolgen, was mit der Zivilbevölkerung geschieht. Mit den Bauern und Bäuerinnen, den Indígenas, den Frauen, den Antimilitaristen, den Menschenrechtsgruppen. Denn diese Menschen werden verhaftet, getötet, ins Exil gezwungen. Dagegen müssen die Leute hier ihre Stimme erheben. Und auch dagegen, dass ihre Regierung diese Zustände in Kolumbien stillschweigend unterstützt.
Eine andere Möglichkeit ist die wirtschaftliche Unterstützung. Die Regierungen geben zwar Geld – die deutsche, die niederländische, die belgische Regierung: Sie alle stellen Kolumbien Geld zur Verfügung. Aber eben nicht der Zivilbevölkerung! Das Geld fließt ins Militär, in die Feldzüge gegen den Koka-Anbau und auch in die Guerilla. Aber nichts davon wird für eine echte Lösung für die Zivilbevölkerung verwendet: die Menschen hungern weiter, werden vertrieben und getötet. Und deshalb brauchen die Gruppen der Zivilgesellschaft Geld – die antimilitaristischen, die Indígenas- und die Frauengruppen. Diejenigen, die wirklich etwas für die Menschen tun.
(1) zit. n.: Luis Gabriel Caldas Leon, "Das Netzwerk funktioniert noch nicht", in: Connection e.V. (Hg.): Gegen Militarismus. Kriegsdienstverweigerung in Lateinamerika. März 2001
(2) Der "Plan Colombia" ("Kolumbienplan") bezeichnet die massive Unterstützung der kolumbianischen Armee durch die USA mit dem nach außen hin propagierten Ziel, den Drogenhandel zu bekämpfen.
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