Im März 2001 erschien die erste Ausgabe der vom Verlag Graswurzelrevolution e.V. herausgegebenen türkisch-deutschsprachigen Vierteljahresschrift Otkökü (deutsch: Graswurzel) als Massenzeitung und als Beilage der graswurzelrevolution (GWR) Nr. 257. Seit Jahren gibt es gute Kontakte zu antimilitaristischen Gruppen in der Türkei, was sich in diesem gemeinsamen Zeitungsprojekt widerspiegelt. Otkökü nimmt aus gewaltfrei-libertärer Perspektive Stellung zu Entwicklungen in der Türkei. Das Bewegungsorgan soll eine Gegenöffentlichkeit herstellen und Interessierte in Deutschland ansprechen. Es richtet sich an die türkische und kurdische Community in Westeuropa und soll auch den Aufbau von Graswurzelbewegungen in der Türkei unterstützen. Dies erweist sich aber als schwierig.
Otkökü: zu brisant für den türkischen Staat
Inhaltlich geht es in Otkökü Nr. 1 um die Menschenrechtslage in der Türkei, den Menschenrechtsverein IHD und den von der Türkei noch immer geleugneten osmanischen Völkermord an 1,5 Millionen Armeniern 1915. Diese Inhalte dürften die türkischen Behörden ebenso stören, wie die Thematisierung des Todesfastens von politischen Gefangenen. Die Hungerstreikenden kämpfen gegen die Einführung der „F-Typ“-Isolationshaftanstalten, da sie noch größere staatliche Willkür und eine Zunahme der Folter in den Gefängnissen fürchten. Bisher sind 24 Menschen an den Folgen des Todesfastens gestorben, 30 wurden zuvor bei der Erstürmung der Gefängnisse im Dezember durch Polizisten getötet.
Nur wenige GWR-AbonnentInnen in der Türkei erhielten die GWR 257. Ein Paket mit ca. 400 Exemplaren der Otkökü Nr. 1 sowie deutschsprachigen Büchern (zur Geschichte Kurdistans und zum Thema Anarchismus) und diversen GWR-Ausgaben landete nicht beim Adressaten, dem Verein der KriegsgegnerInnen Izmir (ISKD). Das Paket wurde vom türkischen Zoll geöffnet. Ein Blick des Zollbeamten in das geöffnete Paket mag angesichts der heiklen Zeitungsinhalte genügt haben: Keine Aushändigung an den Verein.
Mehrere Exemplare wurden erst an die für Vereine zuständige Abteilung der Polizei und von dort ans Innenministerium nach Ankara geschickt.
In einem Rundbrief äußerten sich deutsche MitarbeiterInen des Vereins zur Otkökü-Beschlagnahmung und zur Situation des Otkökü-Koordinationsredakteurs Osman (Ossi) Murat Ülke:
„Der ISKD hat weder für Otkökü geschrieben noch ist er verantwortlich für die Herausgabe. Das Vorgehen von Zoll und Polizei entbehrt selbst in der Türkei der rechtlichen Grundlage. Und dennoch haben wir uns entschieden, keinen Protest zu erheben. Der Redakteur der Otkökü ist Ossi und seine Situation soll nicht weiter verschärft werden. Schließlich war vor einigen Wochen die Polizei im Hause seiner Eltern und fragte, wo sich Ossi denn aufhalte. Aber die Entscheidung ist schwer gefallen, geben wir doch ein Stück politischen Freiraum auf, der nur schwer zurück zu erhalten ist. Bei allen Veranstaltungen ist stets die mögliche Repression ein bestimmender Gedanke bei der Frage, ob und wie wir als Verein auftreten. Sei es der Besuch des Vietnamveterans Greg Payton in der kommenden Woche oder die Messe der Zivilgesellschaft, die ebenfalls kommendes Wochenende stattfindet oder sei es nur die Ausschreibung für ein Training zu gewaltfreien Handeln. Stets muss die mögliche Repression mitbedacht werden.“
AntimilitaristInnen agieren in der vom Militär dominierten Türkei unter schwierigen Bedingungen. Das gilt insbesondere für Ossi, der wegen seiner Kriegsdienstverweigerung bereits mehr als zwei Jahre im türkischen Gefängnis verbringen musste. Dass er zur Zeit frei ist, verdankt der wohl bekannteste türkische Kriegsdienstverweigerer nicht zuletzt einer weltweiten Solidaritätskampagne. Auch mit Hilfe von Otkökü soll ein Stück transnationale Solidarität geschaffen werden. Ohne öffentlichen Druck kann Ossi jeder Zeit wieder als „Deserteur“ verhaftet werden.
Wie weiter? Otkökü Nr. 2 ist da!
Dass die dieser GWR beiliegende Otkökü Nr. 2 in der Türkei verbreitet werden kann, darf bezweifelt werden. Auch in dieser Ausgabe werden tabuisierte Themen nicht unter den Teppich gekehrt. Folter und Flucht werden ebenso thematisiert, wie die staatliche Repression gegen Frauen, die den Mut aufgebracht hatten ihre Vergewaltigung und Folter durch Polizisten in Istanbul öffentlich auf einer Tagung unter dem Titel „Schluss mit dem sexuellen Missbrauch und den Vergewaltigungen in Untersuchungshaft“ anzusprechen. In der Anklageschrift der Istanbuler Staatsanwaltschaft gegen die Rednerinnen und Organisatorinnen der Tagung heißt es nun: „…durch die Publikation der Aussage: ‚…sie haben mich an den Zehen und Fingern mit Stromstössen gefoltert. Tagelang haben sie meine Hände, Füsse und Geschlechtsorgane Stromstössen ausgesetzt. Manchmal haben sie mich nackt ausgezogen, manchmal haben sie mich mit kaltem Wasser übergossen…‘ wurden die Sicherheitskräfte des Staates beleidigt und verachtet…“
Die deutsche Regierung spielt im Zusammenhang mit den Menschenrechtsverletzungen in der Türkei eine unrühmliche Rolle. Der deutsche Rüstungsexport an den Folterstaat Türkei, der seit Jahren u.a. mit deutschen Waffen einen blutigen Krieg gegen die kurdische Bevölkerung führt, wurde unter „Rotgrün“ gesteigert. 1999 lieferte die Bundesrepublik für mehr als 1,9 Milliarden Mark Waffen an den NATO-Partner Türkei. Täglich werden Menschen in die Türkei abgeschoben. Zur Zeit sitzt z.B. der türkisch-kurdische Kriegsdienstverweigerer Sedat Baydmir in der JVA Weiterstadt in Abschiebehaft, trotz zahlreicher Proteste (vgl. www.Connection-eV.de). Er hat auch in der Abschiebehaft seine Absicht bekräftigt, keinen Militärdienst in der Türkei abzuleisten. „Es ist ein eklatanter Widerspruch“, so Rudi Friedrich, Sprecher von Connection e.V. am 31. Mai, „dass sich auf der einen Seite internationale Gremien, wie das Europaparlament und die Menschenrechtskommission der Vereinten Nationen für das Menschenrecht auf Kriegsdienstverweigerung aussprechen, auf der anderen Seite aber die Personen nicht geschützt werden, die sich darauf berufen.“
Für die sofortige Freilassung von Sedat Baydemir, für den sofortigen Stopp aller Rüstungsexporte, für das Bleiberecht aller Flüchtlinge und gegen jegliche Form von Staatsterror muß öffentlich Druck gemacht werden.