An diesem Tag glich der Berliner Bendlerblock, der Sitz von Verteidigungsminister Scharping, einer einzigen militärischen Sperrzone. Etwa 2.000 PolizistInnen und Feldjäger waren eigens dafür abkommandiert worden: Vor meterhohen Gitterzäunen galt es 570 Rekruten zu beschützen, die ohne Störung geloben wollten, jederzeit und wo auch immer „die Freiheit des deutschen Volkes zu verteidigen“. Die Soldaten, die die Eintrittskarten kontrollierten, waren am 20. Juli bestens vorbereitet, hatten mit allem gerechnet – nicht jedoch mit Scharpings Töchtern.
Was jetzt? dachte der Feldwebel. Gerade waren zwei junge Damen in einer schwarzen Nobellimousine vorgefahren. Ihr Chauffeur drängte auf Weiterfahrt. Die erste Absperrung hatten sie schon passiert, allerdings ohne Eintrittskarte. Ja, dürfen die das? Die Kameraden vorne wollten wohl keine Scherereien. Befehl ist Befehl. Aber wenn sie nun mal die Töchter vom Chef sind? – Zumindest beim diesjährigen Rekruten-Gelöbnis war es um die Wehrbereitschaft nicht allzu gut bestellt. Vor die Wahl gestellt, ihrem Auftrag nachzugehen oder einer vermeintlichen Autorität folge zu leisten, entschied sich ein Wachposten nach dem anderen für letzteres. Ein Irrtum, wie sich herausstellte. Denn plötzlich ketteten sich die Sprößlinge des Ministers an den Zaun und warfen „Alarmeier“ auf den Asphalt, die wie Sirenen laut aufheulten.
Während sich die 450 TeilnehmerInnen der Gegendemonstration nur bis auf zweihundert Meter nähern konnten, hatten es die beiden Mitglieder von JungdemokratInnen/Junge Linke direkt an den Appellplatz geschafft. „Es ging darum“, so die Landesvorsitzende Katja Grote, „den Protest hörbar zu machen“. Minister Scharping soll jedenfalls gequält gelacht haben. „Respekt vor dem Einfallsreichtum“, ließ er verlautbaren.
Ein öffentliches Rekrutengelöbnis ist hierzulande solange noch nicht üblich. Erst recht nicht in der Hauptstadt, in dessen Westteil einst zahlreiche Verweigerer „emigrierten“. Das Alliiertenrecht setzte jahrzehntelang die Wehrpflicht außer Kraft. Das aber ist lange her. Seit geraumer Zeit versucht die Bundeswehr nun auch in Berlin aus den Kasernen heraus ins öffentliche Bewußtsein vorzudringen, was den öffentlichen Raum mit einschließt. Nicht ohne Erfolg. Mittlerweile dürften sich die Leute an den Anblick von Uniformen gewöhnt haben. Bemerkenswert ist, daß sich die Truppe dabei auf den militärischen Widerstand in der NS-Zeit beruft. Von rechtsradikalen Vorkommnissen in den eigenen Reihen will man sich distanzieren, dokumentiert aber gleichzeitig ein fragwürdiges Geschichtsverständnis: Das Aufbegehren jener Offiziere am 20. Juli 1944 war zwar gegen Hitler gerichtet, in vielen Punkten aber alles andere als demokratisch. Einig war man sich allein darin, den Krieg zu beenden – aber nicht der unzähligen Verbrechen wegen, sondern um die Niederlage in Grenzen zu halten. Es wundert also nicht, daß zum Gelöbnis besonders an diesem historischen Datum – und erst recht an diesem Ort, dem Bendlerblock – Protest artikuliert wird. So waren 1999 einige Demonstranten mit Trillerpfeifen über den Appellplatz gelaufen, zum Teil halbnackt (s. GWR 241). Die Zeremonie wurde zur lächerlichen Farce. „Tucholsky hat Recht“ stand auf einem der Regenschirme, in Anspielung auf das Zitat: „Soldaten sind Mörder“. Eine Aktion, die übrigens gleichfalls auf das Konto u.a. der JungdemokratInnen ging und vom Verfassungsschutz umgehend mit einem Eintrag ins „Jahrbuch“ honoriert wurde.
Die Bundeswehr will Teil der Gesellschaft sein, wenn nicht gar deren Spiegelbild. In Anbetracht der Mehrheitsverhältnisse beim letzten Berliner Rekrutengelöbnis kann man dem leider nur zustimmen. Eine Minderheit aber mit Phantasie, das ist doch schon was.
Nun droht Scharpings Töchtern zwar kein Abendessen mit ihrem angeblichen Vater, aber zumindest eine Anzeige wegen Verstoßes gegen das Versammlungsgesetz und Beleidigung. Das Rechtsverständnis des Staatsschutzes ist offensichtlich genauso fehlgeleitet wie das Geschichtsverständnis der Bundeswehr.
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