anarchismus

Kritik der Vergeltung

Ein anarchistischer Einspruch gegen die Diskussion um Zivilisation und Barbarei im Anschluss an die Anschläge in den USA

| Fang

Frage: „Mr. Gandhi, was denken sie von der westlichen Zivilisation?“
Mr. Gandhi: „Sie wäre eine gute Idee.“

Diese Antwort Mahatma Gandhis im aktuellen Kontext nach den Anschlägen in den USA soll sagen, dass die gegenwärtige Kriegshetze in allen westlich-„zivilisierten“ Staaten und die flächendeckend von diesen Staaten angekündigte Vergeltung genau so barbarischem Denken entspringen wie die Anschläge selbst. Ich selbst war froh, direkt nach den Anschlägen auch nicht eine Sekunde Freude oder auch nur Genugtuung zu empfinden, sind doch World Trade Center und Pentagon zwar nicht mehr die entscheidenden Herrschaftszentren der Welt – diese gibt es gar nicht mehr bzw. sie sind dezentralisiert -, aber dennoch nach wie vor wichtig und von ungeheurer Symbolkraft. Ich empfand Trauer über die Opfer, so wie ich Trauer empfinde für alle Opfer dieser Welt, wenn mir ihr Leiden deutlich vor Augen steht. Und ich empfand es als selbstverständlich, in den USA genau so zwischen Opfern und Herrschenden emotional unterscheiden zu können, wie ich das in allen anderen Ländern auch tue – ohne das jedoch bei offiziellen Trauerkundgebungen extra zeigen zu müssen, die es bei allen anderen Verbrechen in der Welt auch nicht gibt.

Dass die Trauer bei mir nur kurz währte, hat dann wieder mit den Herrschenden in den sogenannten „westlich-zivilisierten“ Ländern zu tun, die dabei zudem auf einen weit verbreiteten Konsens bauen können: dass sie nämlich den Tätern – wenn es denn stimmt, dass sie IslamistInnen waren, was hier mit aller Vorsicht aufgrund der bisher vorliegenden Indizien vermutet wird – einerseits so moralisch überlegen seien, dass sie sie als „Barbaren“ kennzeichnen können und aber im selben Atemzug zur Vergeltung antreten oder diese fordern.

Im gegenwärtigen Kriegsgeschrei der „westlich-zivilisierten“ Nationen und ihrer offiziellen Medien sind selbst die gemäßigten Stimmen selten und stellen allerdings das Recht auf Vergeltung überhaupt nicht in Frage. So muss man/frau heute schon als antiklerikaler Anarchist einmal darauf hinweisen, dass der Anspruch auf Zivilisation schließlich mit der moralischen Maxime der Bibel begründet wird: vergelte Böses nicht mit Bösem! Es sollten sich nur einen Moment einmal alle BeobachterInnen die Vorstellung machen, die US-Regierung würde auf Vergeltung verzichten: wie beschämt stünde der terroristische Islamismus dann tatsächlich da und wie moralisch überlegen könnte sich der Westen tatsächlich dünken! Doch niemand denkt im Traum daran.

Clara Wichmanns Kritik des individuellen Strafrechts

Schon der Anschlag selbst entspringt der – tatsächlich – vorhandenen Vorstellung einer Art Blutrache. Für die weltweiten Verbrechen der USA sollen Einrichtungen und vor allem Menschen in den USA „bezahlen“: mit ihrem Leben. Das ist der Inbegriff der Barbarei. In der gesamten Menschheitsgeschichte ist der Staat nun mit der Ideologie und Rechtfertigung seiner selbst angetreten, die Barbarei hinter sich zu lassen und dagegen zivilisierte Normen des Zusammenlebens erst zu ermöglichen. StaatstheoretikerInnen aller Couleur haben behauptet, der Staat verhindere das Denken in Rachekategorien und führe dagegen das distanziertere Prinzip des Täternachweises und der Justiz ein.

Bereits in den 10er und 20er-Jahren des 20. Jahrhunderts haben niederländische Gewaltfreie und AnarchistInnen, allen voran Clara Wichmann, diese Ideologie durchschaut und bekämpft, vor allem auf individueller Ebene in ihrem Kampf gegen Strafrecht und Gefängnis. Im Strafrecht hat sich nämlich das barbarische Prinzip der Rache durchaus in „zivilisierte“ juristische Kategorien hinübergerettet. 1919 gründete Clara Wichmann das „Komitee zur Bekämpfung der herrschenden Auffassung über Verbrechen und Strafe“, das Anfang der 20er Jahre auch nach Deutschland hinüber wirkte, vor allem in libertäre Kreise hinein. Die anarchistische Zeitung „Der freie Arbeiter“ druckte z.B. Clara Wichmanns Grundlagentext „Die Grausamkeit der herrschenden Auffassung über Verbrechen und Strafe“ 1922 ab (nachgedruckt in GWR Nr. 126, S. 15/16). Clara Wichmann war darüber hinaus sowohl in gewaltfreien, feministischen und anarchistischen Kreisen aktiv, beteiligte sich am Bund der „Revolutionär-sozialistischen Intellektuellen“ (1919) und zusammen mit ihrem Genossen Bart de Ligt am „Bund der religiösen Anarcho-Kommunisten“ (1920), bis sie dann leider sehr früh, 1921, verstarb (vgl. zu ihrem Leben: Clara Wichmann, Der Weg der Befreiung, WeZuCo, Kassel 1989).

Neben der libertären Kritik von individuellem Strafrecht und Gefängnis befasste sich Clara Wichmann in ihrem Grundlagentext sehr weitgehend mit dem Prinzip der Vergeltung, der im Staatensystem genau so wie bei islamistischen Guerillagruppen heute wieder fröhliche Urstände feiert (man/frau beobachte nur die Eskalation der Gewalt in Israel/Palästina, wo jeder Anschlag selbst als Akt der Vergeltung begründet wird und nur wieder einen neuen Anschlag oder Bombenangriff als Akt der Vergeltung hervor ruft). Folgen wir ein wenig ihrer Argumentation, die eine Radikalität aufweist, die nichts von ihrer Aktualität und Notwendigkeit eingebüßt hat:

„Es gibt eine besondere Kriminalität: Verbrechen aus Rohheit, Grausamkeit (…)“ usw., schreibt sie, und man/frau kann das durchaus auf die Täter der Anschläge in den USA übertragen. Wichmann weiter: „Viele werden nun meinen, daß für solche Taten (…) eine angemessene Strafe doch wohl gerechtfertigt sei. Nein, das Rohe dieser Strafaktion liegt nicht nur darin, daß eine Gesellschaftsordnung, die selbst fortwährend die Bedingungen der Kriminalität hervorbringt, die selbst (in Gestalt von Kriegen und wirtschaftlicher Ausbeutung) fortwährend das Verbrechen im großen gutheißt, diejenigen bedroht und straft, die ihre persönlichen Interessen angreifen. Das Rohe liegt an und für sich schon in der Art der strafenden Rückwirkung selbst.“ Durch die Strafe „wird die innere Entwicklung, die auf jede Tat, auch auf jede Untat, folgt, abgebrochen;“ – heißt: auch der schlimmste Islamist hat ein Gewissen, das sich meist nicht vor der Tat, aber durchaus danach regen kann, wenn er die Opfer vor Augen hat. Wichmann weiter über die individuellen Folgen der Vergeltungspolitik: „der Angeklagte kehrt sich gegen seine Ankläger, und sein innerer Genesungsprozeß wird zerstört.“

„Aber wir müssen sie doch unschädlich machen, nicht wahr?“, zitiert Clara Wichmann darauf Volkes Einwand, der genau so gut von den 70 Prozent US-BürgerInnen kommen könnte, die sich heute hinter Bush stellen, und sie entgegnet darauf: „Schon der Ausdruck (‚unschädlich‘, d.A.) allein ist unziemlich. Und das Resultat solchen Strebens ist nur, daß viele das Gefängnis (oder heute womöglich bald das ‚Schlachtfeld‘ des Krieges gegen den Terror, d.A.) ’schädlicher‘ verlassen, als sie es betreten haben. Dies eben ist das Barbarische und Rückständige: Der ganze Strafbegriff ist negativ.“

Daraus läßt sich jetzt schon schließen: den „Krieg gegen den Terror“ können die USA oder die NATO gar nicht gewinnen, weil die Art ihrer Kriegsführung immer neuen „Terror“ hervor bringt. Das Ziel dieses Krieges, die völlige Auslöschung des nichtstaatlichen Terrors muß uns Libertären als geradezu absurd erscheinen, als Rechtfertigungsideologie zu einem Krieg gegen Menschen ohne absehbares Ende, als Albernheit und törichtes Vorhaben, etwa ein Land wie Afghanistan zu bombardieren, in dem eh kein Stein mehr auf dem andern steht – oder zusammen mit Russland zu intervenieren, was USA und Sowjetunion im Kalten Krieg bereits schon einmal gemacht haben! Und zweitens: auch eine freie Gesellschaft wird gegen tatsächlich terroristische Anschläge zunächst nicht zu schützen sein und nichts gegen sie ausrichten können. Sie wird aber darauf achten können, dass die TerroristInnen eine Minderheit bleiben und aus der Position einer Ohnmacht heraus agieren, wie das die IslamistInnen in den USA auch heute tun und sie wird durch den Verzicht auf Vergeltung den Nährboden des nichtstaatlichen Terrors sicher kleiner halten können als das der Staatsterrorismus von heute mit seiner Vergeltungsideologie je wird verwirklichen können.

Kritik der gesellschaftlichen Ideologie der Strafe

Wichmann weiter und grundsätzlicher: „Stärker als alle diese ‚Zwecke‘, die man mit der Strafe erzwingen will, lebt in den Menschen noch die alte Vergeltungsidee, in der die Rache verborgen weiterlebt. Diese verlangt, daß demjenigen, der Leid verursachte, auch wieder Leid geschehen soll, sie will alles ‚verrechnen‘, alles ‚begleichen‘. Das eigentliche Strafrecht ist nur eine ihrer Äußerungen; wir finden sie auf allen Gebieten des persönlichen und sozialen Lebens ebenfalls. Gerade dieses primitive, auf Rachetrieben beruhende Prinzip ist es, das revolutioniert werden muß. Und darum richten wir uns weder nur gegen die Auswüchse des Zellensystems und der Gefängnisstrafe, noch nur gegen das Zellensystem selbst (…), noch sogar nur gegen unser gegenwärtiges Strafsystem in seiner Totalität: – Wir richten uns gegen das Strafprinzip selbst. So, wie dieses es lehrt, darf das Verhältnis von Mensch zu Mensch nicht sein, so dürfen Menschen einander nicht gegenüberstehen.

Der alten, uralten, aus den Anfangsphasen der Menschheit datierenden Lehre, dass Böses mit Bösem vergolten werden muß, stellen wir ein anderes Lebensprinzip entgegen: Richtet nicht! Vergeltet nicht! Straft nicht! (…) Nur indirekt kann das Verbrechen bekämpft werden; nicht durch Vernichtung, sondern durch das Wecken von Kräften, durch die Umgestaltung vernichtender Tendenzen in schaffende, aufbauende.“

Es würde mich tatsächlich sehr wundern, wenn nicht das wahrscheinlich einzige, was überhaupt einen islamistischen Terroristen ansprechen und sein Verhalten beeinflussen könnte, das wäre, von der anzugreifenden Gegenseite beschämt zu werden, mit moralischen Verhaltensweisen – die ja als Ideologie ständig im Mund geführt werden, denn was Clara Wichmann hier einfordert, ist nichts als libertär und rational gewendete christliche Grundsatzethik – tatsächlich konfrontiert zu werden, die man/frau dem Feind ja immer abgesprochen hat.

Doch wir wissen als Libertäre am besten, dass Staaten dazu nicht fähig sind und dass unsere libertäre Revolution den westlich-„zivilisierten“ Staaten ihre eigene kulturhistorische Ideologie, die christliche Ethik, ins Revolutionäre gewendet und auf alle Menschen ausgeweitet, auch noch mitretten muss, mitsamt den ganzen anderen bürgerlich-humanistischen Werten, die sie andauernd selbst nicht einlösen. Und bis dahin bleiben sie alle barbarisch: die nichtstaatlichen TerroristInnen, die mit einfachen, sogenannt „primitiven“ Waffen (Messer und Bolzenschneider) barbarische Akte von beträchtlichem Ausmaß, wie wir nun wissen, vollbringen, und die StaatsterroristInnen einer angeblichen „Zivilisation“, die mit hochtechnisierten Waffen (vom Bomber bis zur Atombombe) ebenso barbarische Akte der Vergeltung planen und durchführen. Schon jetzt ist durch das durchweg als gesellschaftlicher Konsens propagierte Vergeltungsprinzip eine Kriegspropaganda in die Köpfe der BürgerInnen verpflanzt worden, die verheerende Auswirkungen auf Denk- und Verhaltensweisen haben wird.

„Auge um Auge“, sagte Jinnah, als dieser rationalistische Islamist in der indischen Unabhängigkeitsbewegung Gewaltakte rechtfertige. „Bis die ganze Welt erblindet“, sagte Gandhi. Viele sind es heutzutage nicht mehr, die noch sehen können!