libertäre buchseiten

Das andere Indien

Anarchismus, Frauenbewegung, Gewaltfreiheit, Ökologie

| Gregor Lang-Wojtasik

Graswurzelrevolution (Hg.): Das andere Indien. Anarchismus, Frauenbewegung, Gewaltfreiheit, Ökologie. Verlag Graswurzelrevolution, Heidelberg 2000, 244 S., ISBN 3-9806353-2-5, 34,80 DM

Vermutlich ist es ein schwieriges Unterfangen, die Vielfältigkeit gewaltfreien Widerstandes nach Gandhi in Indien skizzieren zu wollen. Dies betont Lou Marin bereits in seiner Einführung (Das andere Indien. Anarchismus, Frauenbewegung, Gewaltfreiheit, Ökologie, S.10). Nach meiner Einschätzung, die sich auf eine langjährige Beschäftigung mit sozialen Aktionsgruppen auf dem indischen Subkontinent stützt, ist das Ziel der HerausgeberInnen zu großen Teilen gelungen. Denn sie wollen verdeutlichen, dass

1.) die Wahrnehmung von Anarchismus als Chaos im Sinne eines ‚globalen Grundkonsenses‘ durch die Vielfalt realer Utopien in Form sozialer Bewegungen des 20. Jahrhunderts in Indien entzaubert werden kann,

2.) praktische sowie theoretische Hinwendung zum Anarchismus immer mit Gewaltkritik und gewaltfreier Aktion als Widerstandsmethode verbunden ist,

3.) durch das ‚andere Indien‘ libertärer bzw. anarchistischer Prägung autoritäre Dominanzkulturen – v.a. in Form des dogmatischen Kommunismus‘ und religiöser Fundamentalismen – konstruktiv infrage gestellt werden können und

4.) soziale Bewegungen, die aus europäischer Perspektive als anarchistisch eingeschätzt werden, in Indien eine lange Tradition haben.

Das Buch ist in drei Teile gegliedert: Einführung, theoretische Überlegungen und praktische Beispiele. Kernstück der Publikation ist die Einführung. Es gelingt, einen eng an den Quellen entwickelten Querschnitt indischer anarchistischer Strömungen vom Ende des 19. Jahrhunderts bis Ende des 20. Jahrhunderts zu vermitteln – begonnen bei den gewaltsamen Attentaten gegen die britische Kolonialmacht durch junge Intellektuelle, die v.a. durch ihre Studien einen starken Bezug zu Europa hatten, über Mohandas Karamchand Gandhi, bis hin zu Sarvodaya, Vinoba Bhave, Jayaprakash Narayan und der Krise heutiger Bewegungen.

Ausgangspunkt von Gandhis ‚Anarchismus einer anderen Art‘ (Speech at Benares University, 6 / 2 / 1916; CWMG (1), Bd.13, S.210 – 216) waren auf der politischen Ebene v.a. die Auseinandersetzungen mit jungen Intellektuellen, die sich zum Ziel gesetzt hatten, durch gewaltsame Attentate die britische Kolonialmacht zu beenden. Dass Gandhi von Tolstoi und Thoreau beeindruckt war und versuchte, ihre Positionen in die Praxis umzusetzen, ist belegt. Die Vermutung aber, er habe auch Peter Kropotkins ‚Gegenseitige Hilfe‘ rezipiert (S.12), halte ich für gewagt. Es ist, wie Lou Marin richtig ausführt, nicht belegt (vgl. CWMG). Gleichwohl muss einschränkend darauf hingewiesen werden, dass die CWMG einer europäischen Systematik in vielen Punkten nicht standhalten. Eine andere Gegenfrage könnte sein: Ist es für Gandhis Konzepte von Sarvodaya und Satyagraha bedeutsam, ob er dieses Buch gelesen hat? Ich denke nicht. Hinsichtlich der Anarchismus-Debatte im indischen Kontext hat Gandhi immer wieder auf die Vielfältigkeit und Ambivalenz von ‚Anarchismus‘ hingewiesen. Ich bin jedoch nicht sicher, ob es möglich ist, mit europäischen Maßstäben Gandhis Vision einer basisdemokratischen Gesellschaft zu messen. Seine Konzepte von ‚Hind Swaraj or Indian Home Rule‘ (Gandhi 1938) oder ‚Constructive Programme‘ (1941) sind zunächst v.a. im indischen Kontext zu verstehen. Beide Schriften sind bis heute Grundstein der praktischen Philosophie Gandhis.

Das nach dem Tod Gandhis (1948) entstandene Vakuum gewaltfreier Aktion wurde v.a. durch Bewegungen ausgefüllt, die im Kontext von Sarvodaya zu begreifen sind. (2)

Unter Führung Vinoba Bhaves, den Gandhi als seinen Nachfolger benannt hatte, sind die Landschenkungs- und Dorfschenkungsbewegungen in den 50er Jahren zu nennen, die zwar gescheitert sind, gleichzeitig aber Vision für neue Initiativen im Jetzt darstellen. Hinzu kommen die Bewegungen gegen die Regierung von Indira Gandhi in den 70er Jahren (v.a. gegen die nicht vorhandene Grundbedürfnisbefriedigung der Bevölkerungsmehrheit, steigende Preise, Arbeitslosigkeit, Korruption in der Verwaltung) unter Führung von Jayaprakash Narayan, dem ‚gandhian turned socialist‘, der sein radikal-demokratisches Konzept der ‚Total Revolution‘ als Gegenentwurf zur herrschenden Politik formulierte und umzusetzen versuchte. (3) Die Entwicklung von Bewegungen nach Gandhi ist im Kontext der Anarchismus-Debatte immer stark geprägt durch die Distanzierung von Naxaliten. Unter diesem Begriff werden heute all jene Gruppen zusammengefasst, die in der Regel ausgehend von einem marxistisch-leninistischen Hintergrund durch Gewalttätigkeiten die nach wie vor ungelöste Landfrage klären wollen. Die regional und intentional sehr unterschiedlichen Gruppierungen haben folgende Gemeinsamkeiten: Sie operieren v.a. in Nord-Ost-Indien (Bihar, Bengal, Orissa) und haben eine autoritär-patriarchale Struktur.

Sarvodaya als konstruktiv-gewaltfreies Gegenprogramm wird heute neben vielzähligen Einzelgruppierungen v.a. im von Vinoba Bhave initiierten Netzwerk Sarva Seva Sangh (‚Vereinigung für den Dienst an allen‘) und den von Jayaprakash begründeten Chhatra Yuva Sangarsh Vahini (‚Studentische Jugend-Kampfgruppen‘) vertreten. Die These von Lou Marin, dass aus der Krise, die durch den Tod der charismatischen Führungspersönlichkeiten Vinoba Bhave und Jayaprakash Narayan die Chance erwachsen sei, „die libertären Tendenzen nun besser umsetzen und sich bei den neuen feministischen und ökologischen Bewegungen auf eine produktive Weise beteiligen zu können“ (S.20), halte ich für gewagt. Denn wer Indien und verschiedene soziale Bewegungen kennt, weiß, dass diese europäisch geprägte Hoffnung auf dem Subkontinent praktisch bedeutungslos ist. Im Sinne Gandhis bedeutet Leadership, ein Gleicher unter Gleichen zu sein, aber eben immer auch ein ‚Leader‘, was in der Regel einer charismatischen Führungspersönlichkeit entspricht (z.B. Gandhi, Young India, 8 / 12 / 1921; zit. nach Hingorani / Hingorani 1985, S.194). Dies stellt eine Ambivalenz dar, die aus europäischer Perspektive für Basisdemokratie nur schwer nachvollziehbar ist.

Bei aller Kritik sei hier noch einmal darauf hingewiesen, dass die Einführung sehr fundiert erarbeitet ist und einen dankbaren Überblick sozialer Bewegungen Indiens im 20. Jahrhundert darstellt.

Unklar ist die Auswahl der beiden Texte im Essay-Teil. Unabhängig davon, dass sie bereits in der Länge unterschiedlich sind (122 gegenüber 13 Seiten), stellt der erste Beitrag (‚Der Herrschaftsvirus‘) – verfasst von der Calcutta-Freundschaftsgruppe – eher ein analytisches Frustrations-Konzept, der zweite Beitrag von Manimala (‚Die Frauen aus dem Todesgürtel von Bihar‘) eher einen Tatsachenbericht dar. Der Zusammenhang ist m.E. jedoch nicht unbedingt herzustellen. Gemeinsamkeit ist, dass sich beide Beiträge mit Aspekten nord-östlicher Bundesländer (Bihar und Bengalen) beschäftigen. Ziel der beiden Artikel ist nach Aussage der Herausgeber, einerseits das wiederentdeckte Konzept ‚Gegenseitiger Hilfe‘ (Kropotkin) aktuell für ehemalige maoistische AktivistInnen zu beleuchten und andererseits die klassisch libertäre Forderung ‚Das Land denen, die es bebauen‘ für die Radikalisierung ländlicher kastenloser Frauen zu thematisieren (S.9 – 10). Ob dies gelingt, müssen weitere LeserInnen entscheiden.

Der im ersten Beitrag diskutierte und an praktischen Beispielen verdeutlichte ‚Herrschaftsvirus‘ in sozialen Bewegungen wird als globales Phänomen beschrieben. Gemeint ist: „Wenn revolutionäre Bewegungen erfolgreich sind, werden sie unausweichlich zu einem Teil des Establishments“ (S.27). Der Beitrag richtet sich nach eigenem Anspruch an die „noch nicht gänzlich resignierten Radikalen, die eine holistische Revolution im Geiste der sechziger und siebziger Jahre anstreben“ (S.28). Quintessenz des Beitrages ist, dass zwar auch diese AutorInnen keine Antworten formulieren können, sich aber mit der Erkenntnis ‚im gleichen Boot zu sitzen‘ an andere Verzweifelte wenden und gemeinsam von der „sozialen Revolution träumen“ (S.141) wollen. Der Versuch, eigene Ideen in einem Vorschlag (S.140 – 149) zu bündeln, bringt die ganze Frustration noch einmal auf den Punkt.

Der zweite Beitrag ist die Übersetzung eines 1995 veröffentlichten Artikels, der 1989 anlässlich eines Seminars zum Thema ‚Indische Frauen. Mythen und Realität‘ verfasst wurde. Er beschäftigt sich mit dem ‚Todesgürtel von Bihar‘. Es ist zwar richtig, dass sich am Grundproblem dieser Region nichts verändert hat, wie zum Ende des Beitrages angemerkt wird (S.163) – hinsichtlich sexueller Ausbeutung von Frauen, grausamer Konfrontationen zwischen Landbesitzenden und Landlosen sowie Ermordungen, wobei die meisten Opfer landlose ArbeiterInnen sind. Gleichwohl wäre ein Hinweis auf die Neuverteilung der Bundesländer, die zu einer Veränderung v.a. von Bihar geführt hat, hilfreich gewesen. Was in dem Beitrag als Zentral-Bihar bezeichnet wird, gehört heute größtenteils zum neuen Bundesland Jharkhand. Der Analyse der Autorin, dass Kasten- und Klassenzugehörigkeit in dieser Region fast identisch sind, muss demgegenüber nach wie vor zugestimmt werden. In radikaler Weise beschreibt sie die inneren Widersprüche der meisten Naxaliten-Gruppierungen aus einer gandhianischen Perspektive und beschreibt als mutmachendes Gegenbeispiel zum gewaltsamen Agieren die Arbeit der Chhatra Yuva Sangarsh Vahini (‚Studentische Jugend-Kampfgruppen‘) in der Umgebung von Gaya, die auf Jayaprakash Narayan zurückgeht.

Die ausgewählten Beispiele im Gespräche-Teil sind alle in Form von Interviews mit VertreterInnen sozialer Aktionsgruppen dokumentiert, die ein Redakteur der Graswurzelrevolution von November 1999 bis Februar 2000 geführt hat. Die GesprächspartnerInnen sind sorgfältig ausgewählt und bieten einen guten Überblick indischer Persönlichkeiten und ihrer Positionen in aktuellen sozialen Bewegungen. Drei der Gespräche wurden mit VertreterInnen der Anti-Atom-Bewegung geführt, angereichert durch einen Beitrag aus einem 1999 erschienenen Buch über die Nuklearpolitik Südasiens –

Surendra Gadekar (Vedchi / Gujarat), Shashi & Prakash Tyagi sowie Manish Kumar (Jodhpur / Rajasthan), Xavier Dias (Jamshedpur / Bihar). Drei weitere beschäftigen sich mit Perspektiven der Frauenbewegung – Usha Thakkar (Bombay / Maharashtra), Madhu Kishwar (Delhi), Maitreyi Chatterjee (Calcutta / West Bengal). Zwei Beiträge thematisieren Ökologie und expansionistische Industriepolitik – Alok Agrawal (Pathrad / Madhya Pradesh), Claude & Norma Alvarez (Mapusa / Goa).

Alles in allem: Das Buch eignet sich v.a. für ExpertInnen des Anarchismus und sozialer Bewegungen, die den Blick über den europäischen Tellerrand hinaus erweitern wollen. Für EinsteigerInnen ist die Publikation nicht zu empfehlen, da ein sehr umfassendes Faktenwissen vorausgesetzt werden muss. Aus der ExpertInnenperspektive fehlt gleichwohl ein Resümee. Nach der sehr gelungenen Einführung, den beiden unterschiedlich zu bewertenden Essays und den anregenden Praxisbeispielen wären zwei oder drei Seiten Thesen o.ä. wünschenswert gewesen. Ansonsten fühlt man sich in der Wüste der Fakten etwas alleingelassen und sucht nach einem roten Faden.

Gemessen an den eingangs erwähnten Ansprüchen der Herausgeber, gelingt es in der Publikation,

1.) anarchistisch geprägte soziale Bewegungen als Gegenkonzept zu Chaos und herrschender Machtpolitik im globalen Maßstab zu empfehlen,

2.) die konstruktive Überwindung von Gewalt durch Gewaltfreiheit darzustellen,

3.) in Ansätzen zu verdeutlichen, dass das ‚andere Indien‘ Dominanzkulturen verschiedener Couleur konstruktiv infrage stellen kann und

4.) die lange Tradition sozialer Bewegungen begreifbarer zu machen, die aus europäischer Perspektive als anarchistisch eingeschätzt werden.

Gerade der letzte Punkt birgt immer die latente Gefahr interkultureller Kommunikationen in sich – aufgrund eigener dominanter Kategorien einen anderen Kulturkreis spezifisch einzuschätzen (4) und Relevanzsysteme des Gegenüber auszublenden. Ich habe gleichwohl den Eindruck gewonnen, dass die HerausgeberInnen des vorliegenden Buches sich dieses Problems bewusst sind und weitgehend einfühlsam damit umgehen.

(1) CWMG steht für Collected Works of Mahatma Gandhi.

(2) Sarvodaya kann mit 'Wohlfahrt für alle' übersetzt werden. Es ist Oberbegriff für Gandhis Idee einer egalitären Gesellschaft und Wirtschaft (im Detail: z.B. Datta / Lang-Wojtasik 1998).

(3) Sowohl Vinoba Bhave, als auch Jayaprakash Narayan werden m.E. in der hier rezensierten Publikation zu kurz abgehandelt - vermutlich aus Platzgründen. Zur vertiefenden Lektüre sei daher empfohlen: Bhave 1994; Scarfe / Scarfe 1975.

(4) Ich habe mich mit diesem Phänomen im Kontext gewaltfreier Aktion an anderer Stelle aktuell auseinandergesetzt: Lang-Wojtasik / Lang / Pütter 2001.

Literatur

Bhave, Vinoba: Moved by love. The Memoirs of Vinoba Bhave (translated by Marjorie Sykes from a Hindi text prepared by Kalindi). Hyderabad (Sat Sahitya Sahayogi Sangh) 1994.

Datta, Asit / Lang-Wojtasik, Gregor: In Memoriam M. K. Gandhi, In: Versöhnungsbund-Rundbrief 1(1998), S.13 - 15.

Gandhi, Mohandas K.: The Collected Works of Mahatma Gandhi (CWMG). Bd.1 - 93. Ahmedabad 1962 - 93.

Gandhi, Mohandas K.: Hind Swaraj or Indian Home Rule. Ahmedabad 1938.

Gandhi, Mohandas K.: Constructive Programme. Its meaning and place. Ahmedabad 1941.

Hingorani, Anand T. / Hingorani, Ganga A.: The Encyclopaedia of Gandhian Thougts. Delhi 1985.

Lang-Wojtasik, Gregor / Lang, Julia / Pütter, Benjamin: Satyagraha für den Schutz von Kühen in Bombay - Erwiderungen auf den Beitrag von Ruth Ebert, In: Gewaltfreie Aktion 127 (2001).

Scarfe, Allan & Wendy: J.P. His Biography, Delhi 1975.