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Gewaltfreier Anarchismus im universalen Dialog

Briefwechsel zwischen Bart de Ligt und Gandhi

| Fang

Christian Bartolf (Hg.): Der Atem meines Lebens. Der Dialog von Mahatma Gandhi (Indien) und Bart de Ligt (Holland) über Krieg und Frieden. Gandhi-Informations-Zentrum Selbstverlag, Berlin 2000, 126 S., 14,80 DM

Ein überaus wichtiges Buch für alle gewaltfreien AnarchistInnen: der Briefwechsel, den der niederländische gewaltfreie Anarchist Bart de Ligt und Mahatma Gandhi von 1928-1930 führten, liegt nun vollständig vor, mit einer Einleitung und einem intelligenten Nachwort von Christian Bartolf, zusätzlich versehen mit zwei transnationalen Eingriffen in die Diskussion durch den russischen Tolstoi-Nachfolger Vladimir Tchertkov und eine späte Verteidigung Gandhis durch den US-amerikanischen Theoretiker Richard Gregg. Das Buch dokumentiert damit einen wahrlich spannenden universalen Dialog über entscheidende Dimensionen der Gewaltfreiheit, des Kriegswiderstands und der Staatskritik.

Inhaltlich geht es darum, dass Bart de Ligt als jemand, der die gewaltfreien Massenaktionen Gandhis gerade zu würdigen weiß, dessen widersprüchliche Verteidigung seiner Sanitäts- und Rekrutierungsaktionen bis 1918 kritisiert und von Gandhi eine Distanzierung im Sinne des radikalen Antimilitarismus verlangt; später kritisiert de Ligt von einem libertär-gewaltfreien Standpunkt aus Gandhis Rolle als Vertreter der indischen Unabhängigkeitsbewegung bei den Verhandlungen 1931 in London, wo er das Recht auf eigenständige nationale Verteidigung, auch auf eine Armee, einforderte – und bei derselben Reise in der Schweiz dann Vorträge über Staatskritik und radikalen Antimilitarismus hielt. Gandhis widersprüchliche Position ergibt sich aus zwei entgegengesetzten inhaltlichen Traditionen: aus einer europäischen Rechtsposition heraus war Gandhi bis 1919 im Grunde Reformist und glaubte, durch Sanitäts- und Rekrutierungskampagnen verbesserte Bürgerrechte für InderInnen rausholen zu können. Als das nicht eintrat, wurde er zum antikolonialen Revolutionär und verweigerte fortan jede Beteiligung am britischen Militärdienst. Aus einer indischen philosophischen Tradition des Antidogmatismus heraus sah er jedoch in der gewaltfreien Aktion ein emanzipatives Kampfmittel, das ein Individuum nur richtig anwenden könne, wenn es auch töten könnte, und das eine unabhängige Nation nur übernehmen könne, wenn es die freie Wahl zwischen bewaffneter und gewaltfreier Verteidigung habe: „Es ist nicht möglich, eine Person oder eine Gesellschaft durch Zwang gewaltfrei zu machen.“ (S. 39) Da müsse schon eine innere Überzeugung dabei sein. Gandhi hoffte zu dieser Zeit noch, dass der Erfolg seiner gewaltfreien Massenkampagnen seine MitstreiterInnen in der Bewegung von der Effektivitaet der Gewaltfreiheit und der Nutzlosigkeit der Bewaffnung eines unabhängigen Indien überzeugen werde – eine etwas naive Einstellung, die Gandhi selbst im Laufe der 40er Jahre revidierte. Bart de Ligt kritisierte zurecht diesen gemäßigten, gewaltlosen Nationalismus Gandhis, ohne aber angeben zu können, auf was sich Gandhi sonst beziehen sollte, wenn denn ein antikolonialer Kampf geführt werden sollte.

V. Tchertkov steuerte einen entscheidenden Einwand zur Diskussion bei, indem er gegen Gandhi darauf hinwies, dass Gewaltlose ja keineswegs dogmatische Gewalt ausüben, wenn sie nicht für überzeugte Gewaltbefürworter einträten:

„Indem ich mich enthalte, für die militärische Ausbildung zu stimmen, zwinge ich keinen, irgendetwas zu tun, genau so wie, wenn ich für die Ausbildung von Taschendieben mich enthalte, ich den Taschendieben keine Gewalt antue.“ (S. 43) Gandhi ging von der Notwendigkeit einer freien Wahl aus, weil der Kolonialismus den InderInnen das Recht, eigenständig Waffen zu tragen, seit Jahrhunderten verweigerte, während Bart de Ligt vorschlug, aus dieser Not eine Tugend zu machen. Auf persönlicher Ebene ist Gandhis Vorschlag, durch das Töten hindurch und dadurch zu höherwertigen Kampfmitteln zu gelangen, sehr viel interessanter: das weist deutlich darauf hin, dass der gewaltfreie Kampf keine billige Ersatzhandlung sein darf, dass er nicht reine Symbolik werden darf und fürs gute Gewissen geführt werden soll, sondern fürs System wirklich gefährlich sein muss, in Isolation führen kann und mit Repression rechnen muss.

Trotzdem muss ich in beiden Fällen tendenziell eher Bart de Ligt zustimmen: sowohl der gewaltfreie Kampf für die unabhängige Nation als auch die Fähigkeit zum Töten fürs selbstbewusste Individuum ist ein Verstoß gegen die gewaltfreie Ziel-Mittel-Relation: zuerst wird genau das forciert, was eigentlich überwunden werden soll. Es bleibt aber die Frage, ob de Ligt seine Kritik nicht zu hart formuliert hat und damit eine Übereinstimmung verhinderte und den Veränderungsprozess Gandhis zu wenig in Rechnung stellte. Seine letzte Stellungnahme von 1932 ist denn trotzdem versöhnlicher.

An diesem wichtigen Buch habe ich nur die Aufmachung zu kritisieren, aus dem Titelbild ist nicht zu erkennen, worum es im Buche geht. Insbesondere die anarchistische Szene wird so an dieser Veröffentlichung weitgehend vorbeisehen – und gerade für die wäre sie doch so wichtig.