Eleonore Lappin: Der Jude 1916-1928. Mohr Siebeck, Tübingen 2000, 458 S., 128 DM.
Was für ein Glück, dass es dieses Buch gibt – und was für ein Pech, dass es wohl kaum diejenigen LeserInnen finden wird, die es verdient. BasisaktivistInnen, ob sie sich mit der Geschichte des Antisemitismus, der Geschichte des Zionismus, den deutsch-jüdischen Diskussionen in der Weimarer Republik oder auch mit den historischen Hintergründen des Israel-Palästina-Konfliktes beschäftigen, werden dieses fundierte, detailverliebte und wichtige Werk wohl leider kaum zur Kenntnis nehmen: der hohe Preis und die daraus zu schließende geringe Auflage dieses Buches werden dafür sorgen, dass die Kluft zwischen Wissenschaft und Aktivismus wohl unüberwindlich bleiben wird. Das ist in diesem Fall schade, denn die vorliegende Analyse der zwischen 1916 und 1928 erschienenen deutschsprachigen Zeitschrift „Der Jude“, die von Martin Buber herausgegeben und lange Zeit redaktionell gestaltet wurde, ist vorbildlich für eine Zeitschriftenanalyse. Zeitungen und Zeitschriften – das vergessen sozialwissenschaftliche ForscherInnen oft – waren, zumindest im 20. Jahrhundert, diejenigen Medien, in denen sich Meinungsbildungsprozesse und Positionen am konkretesten und direktesten ausdrückten. Umso dankbarer können wir Eleonore Lappin dafür sein, die Diskussionen aus „Der Jude“ wieder sichtbar und nachvollziehbar gemacht zu haben.
Zunächst gibt die Autorin einen Überblick über Vorgeschichte und Organisation dieser deutsch-jüdischen Monatsschrift, die Ende 1917 eine Höchstauflage von 3500 Exemplaren erreichte, um dann die darin geführten Diskussionen ausführlich und trotzdem übersichtlich darzustellen: die Diskussionen um die Kriegsbeteiligung deutscher Juden im Ersten Weltkrieg, die Diskussion über Zionismus im deutschen, europäischen und christlichen Umfeld ebenso wie die Visionen der Verwirklichung in Palästina, die Diskussionen über jüdische Literatur, Kultur und Erziehung zwischen Säkularisierung und Religiosität.
„Der Jude“ war das Blatt der kulturzionistischen deutschsprachigen Juden und Jüdinnen. Es wurde zwar von zionistischen Vereinigungen und Verlagen herausgegeben und mitfinanziert, blieb aber gleichzeitig unabhängig und immer in kritischer Distanz zur zionistischen Orthodoxie. Es vertrat keinen orthodoxen bürgerlichen Nationalismus, sondern einen ethisch-sozialistischen Nationalismus, der gleichzeitig nicht im Widerspruch zu übernationalen Idealen der gesamten Menschheit stehen sollte. Gleichzeitig grenzte sich das Blatt von den liberalen jüdischen Organisationen ab, die die Assimilation in den deutschen Nationalstaat befürworteten und damit die Beteiligung am Ersten Weltkrieg begründeten. Dabei begann auch Buber, dem „Juden“ anfangs eine kriegsbefürwortende Linie aufzuprägen, aus Rücksicht auf die besonders bedrohte jüdische Gemeinschaft im zaristischen Russland, sowie mit einer noch aus dem Expressionismus mitgeschleppten Überbewertung der „Tat“, die im Krieg zwar ohne Zweck sei, aber immerhin auf die aufbauende Tat im zu besiedelnden Palästina vorbereite. Dies erntete den entschiedenen Widerspruch von Gustav Landauer, der in dieser Ideologie eine falsche, mit der Realität nichts zu tun habende Sinngebung jüdischen Soldatentums verdammte, während es den Soldaten im Schützengraben in Wirklichkeit nur ums profane, nackte Überleben ginge. Buber nahm Landauers Kritik sehr ernst und änderte alsbald seine Linie. Redaktionell muss Buber zudem hoch angerechnet werden, dass er, mit Ausnahme des transnational-pazifistischen Dramas „Jeremias“ von Stefan Zweig (S. 317), immer auch kriegsgegnerische Artikel ins Blatt nahm, auch zu einer Zeit, als sie noch seinen eigenen Positionen widersprachen. Landauers Einfluss war dann vor allem in der Nachkriegszeit während den Diskussionen um die jüdischen Gemeinschaftssiedlungen in Palästina, die ohne Staat und Militär auskommen und sich um Verständigung mit der arabischen Bevölkerung bemühen sollten, zu spüren. AutorInnen wie Margarete Susmann, Hans Kohn, Robert Weltsch oder Siegfried Lehmann waren alle mehr oder weniger von Landauers libertärem Sozialismus beeinflusst, was die Zeitung nahezu naturgemäss zur Verbündeten der nichtmarxistisch-anarchistischen Organisationen „Hapoel Hazair“, die sich zudem als „Gesinnungsgenossenschaft“ und nicht als Partei verstand, oder des Friedensbundes „Brit Schalom“ in Palästina bzw. innerhalb der zionistischen Bewegung werden ließ.
Allerdings, auch das zeigt Lappin in ihrer Studie deutlich auf, müssen die Visionen und Konzepte der Zeitung im Rückblick als historisch gescheitert bewertet werden. Niemand sprach das nach dem Ende der Zeitung so deutlich aus wie Hans Kohn, der schließlich resignierte, als 1929 nach antisemitischen Ausschreitungen an der Klagemauer jüdische Organisationen erstmals bewaffnete Vergeltungsschläge gegen palästinensische Organisationen durchführten:
„Ich glaube, daß es möglich ist, uns mit englischer Hilfe und später mit Hilfe unserer eigenen Bajonette, die wir schamhaft Haganah (hebr.: „Verteidigung“, d.A.) nennen, weil wir den Mut zu unserer eigenen Politik nicht haben, noch lange in Palästina halten und wachsen können. Wir werden aber dann der Bajonette nie entbehren können. Das Mittel wird das Ziel bestimmt haben. Das jüdische Palästina wird nichts von jenem Zion haben, für das ich eingetreten bin.“
Vor dem Hintergrund des aktuellen Bürgerkrieges ist das eine Prognose von außerordentlichem Weitblick, abgegeben zu Beginn aller bewaffneten Auseinandersetzungen. Dies zeigt, dass auch in dieser Frage gilt: es ist gerade der Beginn der bewaffneten Kämpfe, der verhindert werden muss; denn ist die bewaffnete Dynamik erst einmal entfacht, wird es immer schwerer, ihr Einhalt zu gebieten. Das musste dann auch Buber in seiner Zeit in Israel erfahren, wo er als kritischer Mahner ebenso präsent wie erfolglos war.
Seit Februar 2000 gibt es übrigens eine sehr rege Martin Buber-Gesellschaft, die nun bereits ihr zweites Halbjahresheft unter dem Titel „Im Gespräch“ herausgebracht hat. Die Zeitschrift ist schön gestaltet und bietet auch für Libertäre wichtige Diskussionsbeiträge: in der ersten Ausgabe zum Beispiel den meines Wissens einzigen bisher erschienenen deutschsprachigen Bericht über die Tagung zu Judentum und Anarchismus, die im Mai 2000 in Venedig stattfand, in der zweiten Ausgabe Beiträge über das Verhältnis von Buber zu Landauer oder den Messianismus Gershom Sholems. Diese aktuelle Zeitschrift ist als Ergänzung des besprochenen Buches über eine historische Zeitschrift von Buber und seinem Umfeld sehr zu empfehlen und zeigt, dass der Geist des ebenso libertären wie religiösen wie revolutionären Sozialisten Martin Buber auch heute noch lebendig ist.