Gegen das Vorurteil, es sei eine Internet-Bewegung, die über ihre Ziele und Strategien nicht diskutiere, versuchten ca. 150 AktivistInnen aus der globalisierungskritischen Bewegung bei einem internationalen Treffen Mitte September in Zürich den Gegenbeweis anzutreten. Es ging um eine Lageeinschätzung nach Genua, direkt nach den Anschlägen auf die USA und vor der nächsten transnationalen Mobilisierung gegen das World Economic Forum im Februar in Davos. Die Graswurzelrevolution war explizit eingeladen worden, um auf dem Treffen die Position der gewaltfrei-libertären Aktionsgruppen deutlich zu machen. (Red. France-Sud)
Die Vorstellung der Gruppen, deren Mitglieder oder Delegierte auf dem Treffen anwesend waren, machte deutlich, dass es sich hier nicht um den reformistischen und NGO-nahen, sondern um den revolutionären Flügel dieser neuen transnationalen Bewegung handelte. Unter den Anwesenden waren AktivistInnen aus der Schweiz, Frankreich, der BRD, Italien, Österreich, der Türkei, sowie von der ImmigrantInnenorganisation „The Voice“. Die gesellschaftlichen Ziele schwankten zwar sehr zwischen Kommunismus und Anarchismus, zwischen autonom-militanten Kampfmitteln und radikal-gewaltfreien, doch etwa in der Ablehnung staatsprotektionistischer Strategien wie der Tobin-Steuer oder des Dialogs mit den Herrschenden war man/frau sich einig. Der Nationalökonom James Tobin hatte sich zwischenzeitlich ja auch mit einem Interview im „Spiegel“ zu Wort gemeldet, in dem er sich selbst von der Bewegung distanziert und seine Unterstützung für Weltbank und Internationalen Währungsfonds zum Ausdruck gebracht hatte – ein klar keynesianischer Standpunkt für die Wiedereinsetzung des Staates als ideellen Gesamtkapitalisten, an dem die VertreterInnen der Tobin-Steuer noch lange zu knabbern haben werden.
Repression nach Genua
Zunächst wurde auf dem Treffen noch einmal über die Repression in Genau berichtet, und sowohl die noch in Genua verbliebenen Leute von der Antirepressionsarbeit als auch ein italienischer Anwalt informierten vom Stand der Dinge. Hierüber werde ich mich kurz fassen, weil dazu bereits in GWR 261 ausführlich berichtet wurde. Es wurde noch einmal die neue Qualität der Polizeistrategie dargestellt, die tendenzielle Folter der Gefangenen und die Tatsache, dass der brutale Überfall auf die Diaz-Schule von langer Hand geplant sein musste. Die vier noch Inhaftierten und weitere DemonstrantInnen haben jetzt Prozesse zu erwarten unter Anklagen, die es in sich haben: von krimineller Vereinigung über Plünderung bis hin zu versuchtem Mord ist alles dabei. Auch der Sprecher der Tutte Bianche, Casarini, ist inzwischen der Bildung einer terroristischen Vereinigung angeklagt worden (1). Es ist daher wichtig, dass die transnationale Solidarität weiter geht, die Prozesse beobachtet werden und sich die internationale Antirepressionsarbeit vernetzt. Die deutschsprachigen AktivistInnen, die jetzt noch in Genua Antirepressionsarbeit machen, regten dazu zwei- bis dreiwöchige Besuche von AktivistInnen in Genua an, damit sich die Arbeit auf mehrere Schultern verteilen und rotieren kann. Kritisiert wurde von ihnen, dass sich nach Genua eine Art Antirepressions-Nationalismus einschlich, dass die AktivistInnen dann in ihr Heimatland zurück reisten, als sie erfuhren, dass von ihrem Land niemand mehr im Knast sei – auch eine Art von Nationalismus, der ganz im Gegensatz zum neuen transnationalen Charakter der Bewegung steht. Gewarnt wurde auch vor allzu naiven Berichten von eigenen Aktionen oder gar „Heldentaten“ im Internet – es sei nur eine Frage der Zeit, wann solche Berichte strafrechtlich verfolgt würden. Alle aktuellen Infos zum Stand der Verhaftungen und der zu erwartenden Prozesse, sowie die Anlaufstellen der Antirepressionsarbeit finden sich im Internet unter prigionerig8@gmx.net.
Die Diskussion um Spaltung, politische Gewalt oder revolutionäre Gewaltfreiheit
Auf dem Treffen hatten vor dem Plenum ein Vertreter der Berliner Autonomen bzw. der Gruppe F.E.L.S. sowie ein gewaltfreier Anarchist aus der Graswurzelrevolution die Gelegenheit, ihre Sicht der Dinge darzustellen. Dies geschah vor dem Hintergrund der kommenden transnationalen Mobilisierung gegen das World Economy Forum (WEF) vom 29.1.-5.2.2002 in Davos, wobei in der Schweiz nach der totalen Abriegelung des Kantons Graubünden im Jahre 2001 und im Anschluss an Genua ein offizielles sicherheitspolitisches Papier bekannt wurde, in welchem – in der BRD seit Jahren üblicher Bestandteil der Polizeistrategie – die „dialogorientierte“ Einbindung der „Gewaltfreien“ erlaubt wird unter der Bedingung, dass sie sich von „Gewaltorientierten“ distanzieren. Unter diesen Bedingungen würde ihnen auch eine Demonstration erlaubt – absehbar harmlos und weit weg vom Kongressgeschehen. In diesem offiziellen „Arbenzbericht“ ist dann auch tatsächlich von einer Spielwiese/Spielfeld die Rede: „Für ein solches Spielfeld sind Zeit, Organisation, Koordination und diplomatisches Geschick erforderlich. Entscheidend wird die Erarbeitung eines Grundkonsenses mit jenen Teilen der Basisbewegung sein, die sich zum Gewaltverzicht verpflichten und über genügend Anhängerschaft sowie Legitimation verfügen, um die nicht völlig auszuschaltenden Gewaltorientierten unter den WEF-Gegnern zu marginalisieren.“ Einige reformistische NGOs und auch Attac-Gruppen stehen bereits im Dialog mit offiziellen Stellen über diese Strategie.
Gegenüber dieser polizeilichen Spaltungsstrategie wies der Graswurzelrevolutionär darauf hin, dass Dialogbereitschaft hier nichts anderes als Teilnahme an einem Gewaltverhältnis sei und deshalb gerade von Gewaltfreien abzulehnen sei. Generell ginge es bei solchen polizeistaatlichen Strategien immer wieder um eine herrschaftliche Entwendung von Begriffen, die in einem ganz anderen, emanzipatorischem Kontext entstanden seien. Gleichzeitig würden die Begriffe umdefiniert und staatlich neu besetzt, hier werde Gewaltfreiheit mit Dialog und Fixierung auf Legalität und Gesetzestreue identifiziert, was mit revolutionärer Gewaltfreiheit, die radikalen zivilen Ungehorsam und Sachbeschädigung als gewaltfreie Aktion miteinschliesse, nichts zu tun habe. Allgemein gehe es in der Bewegung aber gerade darum, diese Strategien offensiv zu durchkreuzen und die staatliche Gewalt an den Pranger zu stellen, die nicht legitimiert sei, angesichts ihrer eigenen Gewalt von anderen Gewaltfreiheit zu fordern. Allgemeiner ausgedrückt: sowenig wie sich gewaltfrei-libertäre SozialistInnen vom Staatssozialismus haben vorschreiben lassen, was sie unter „Sozialismus“ verstehen sollen, sowenig sie sich vom Kapitalismus vorschreiben lassen, was sie unter „Freiheit“ verstehen sollen, sowenig werden sie sich den Inhalt von „Gewaltfreiheit“ vom Staat diktieren lassen, sondern um diesen Begriff kämpfen. In diesem Sinne schlug der Graswurzelrevolutionär vor, bei der Davos-Demo auf dem vorderen Transparent einen prügelnden Polizisten mit einem Zitat aus dem Arbenzbericht abzubilden: „Gewaltorientierte, die an einem echten und offen geführten Dialog nicht interessiert sind und ihn ablehnen, sind unerwünscht.“
Im Bemühen um ein solidarisches Umgehen mit Autonomen innerhalb der Bewegung stellte der Graswurzelrevolutionär dem Berliner Autonomen drei Fragen:
- Da gegenseitige Toleranz der Aktionsformen gefordert werde, gilt das auch anders herum: können Autonome garantieren, dass gewaltfreie Aktionsformen nicht aus den eigenen Reihen behindert oder unmöglich gemacht werden, wie es in Genua geschehen ist?
- Wo bleibt auf autonomer Seite die Auseinandersetzung mit der neuen Polizeistrategie von Genua, in welcher Polizeispitzel militante Aktionen durchführten und neofaschistische Militante eingeschleust wurden? Zugespitzt: warum will der Staat offenbar militante Auseinandersetzungen?
- Und angesichts des Anschlags auf die USA: wo ist die Grenze autonomer Militanz? Denn angesichts der Anschläge kann wohl gesagt werden: wenn auch Finanzzentren und Pentagon sicher Ziele der GlobalisierungskritikerInnen sind, so sind die Mittel der Anschläge genauso sicher nicht deren Mittel.
Auf die dritte Frage gab der Berliner Autonome keine Antwort, sagte nur, es gebe in Berlin derzeit eine Arbeitsgruppe, in der auch darüber diskutiert werde. Zur zweiten Frage sagte er: es gehe dem Staat nicht darum, Militanz zu initiieren, sondern darum, einmal offen gewordene Militanz sozial zu desavouieren, sie also nach rechts abzudrehen und ihr dadurch die Popularität zu nehmen. Auf die erste Frage meinte er, dass er zugebe, dass militante Aktionen in letzter Zeit nicht genügend vermittelbar gewesen seien und dass unterschiedliche Aktionsformen respektiert werden müssten.
Damit verhielt sich der Berliner Autonome in der Diskussion konstruktiver als in dem von ihm selbst mitgebrachten Papier zur autonomen Auswertung von Genua (Titel: „Die wahre Geschichte vom…“), in welchem er so ziemlich alle Einsichten zur Polizeistrategie auf den Kopf stellte, die die Bewegung bis dahin analysiert hatte: zunächst einmal stellte er die Militanz als selbstinitiiert und nicht von Provokateuren initiiert dar, dann verharmloste er die Polizeispitzel und Neofaschisten unter den Militanten als zu vernachlässigende Einzelfälle; und die Schule sei schließlich nur überfallen worden, weil spontan Militante darin Zuflucht gesucht hätten. Letzteres widerspricht den bereits festgestellten Tatsachen einer langfristigen Planung des Überfalls von Seiten der Polizei, ersteres widerspricht der festgestellten Zurückhaltung der Polizei bei den ersten Straßenschlachten. Arrogant ist die in dem Papier behauptete Avantgarde-Funktion der Militanz, die auch immer wieder Gewaltfreien zugute käme. Nicht nur, dass in Wirklichkeit Gewaltfreie in Genua deshalb gerade nicht zu ihren Aktionen kamen, begründet wird das polemisch auch noch mit Martin Luther: „Martin Luther, der große Reformist (Reformator), hetzte ca. 1525 gegen die ‚mordischen und raubischen Rotten der Bauern’, nachdem ihm der Aufstand ebendieser Bauern zu erheblichem politschen Einfluß mitverholfen hatte.“ Was heißt: Gewaltfreie sind durchweg ReformistInnen und profitieren sowieso nur von der Militanz, die Bewegungen initiiert. Mir fallen spontan zig soziale Bewegungen ein, die nicht von Militanten, sondern von Gewaltfreien initiiert wurden, wo es vielmehr so war, dass Militante auf sie aufgesprungen sind und sie ins Verderben geführt haben: wäre etwa zu „Martin Luther“, auf den sich positiv zu beziehen bisher meines Wissens noch keinem gewaltfreien Revolutionär einfiel, nur der Name „King“ hinzugefügt worden, hätten wir da schon ein Beispiel.
Der Berliner Autonome benutzte in der Diskussion ständig den Begriff der „politischen Gewalt“, auf den er sich positiv beziehe und der für ihn wohl so was wie zielgerichtete Gewalt bedeutet. Dieser Begriff aber kann nicht nur von anderen, auch von Rechten, für sich vereinnahmt werden, was der Autonome konzedierte – er zeigt vor allem, dass hier jemand für die Autonomen spricht, der nicht aus der libertären Tradition kommt. Libertären nämlich ist die positive Verwendung des Begriffs „politische Gewalt“ unmöglich, ist er für sie doch gleichbedeutend mit Staat (ob bestehend oder revolutionär zu erobernd) überhaupt.
Die Zukunft wird also zeigen, was bei den Autonomen überwiegt, konstruktive Zusammenarbeit oder Vorurteil, Ignoranz und autoritäres Verhalten. Auf dem Treffen wurde mehrfach bemerkt, dass sich die globalisierungskritische Bewegung thematisch sicher hin zu einer Antikriegsbewegung weiter entwickeln müsse, weil man/frau sich keine Illusion darüber machen darf, dass der staatlich propagierte kommende „Krieg gegen den Terror“ jederzeit auch diese Bewegung miteinbeziehen kann (unklar war bei der Mobilisierung zu Davos für den 2.2.2002 um 14 Uhr auch noch die Tatsache, dass in München für dasselbe Datum zu einer Anti-NATO-Tagung mobilisiert wird, und wie da eine inhaltliche und organisatorische Verbindung hergestellt werden kann). Bedingung für eine Solidarität innerhalb der Bewegung wird sein, dass sich Autonome an gemeinsame Aktionsabsprachen halten, zumal bei der Mobilisierung nach Davos, wo die örtlichen Verhältnisse so beengt sind, dass sowieso nur eine gemeinsame Demo oder Massenaktion möglich ist. Immerhin gab es auf dem Treffen keine Kritik an dem von den Davos-OrganisatorInnen vorgetragenen „Demo-Konsens Davos 2001“, der auch 2002 gelten soll und wo es an entscheidender Stelle heißt: „Wir wollen mit unseren Aktionen möglichst wirkungsvoll sein und gleichzeitig die physische Integrität aller Anwesenden respektieren.“ Ziel der Aktionen wird sein, sich dem „Spielfeld“-Szenario des Arbenzberichts in jedem Fall nicht zu beugen und entweder eine entschlossene Demo zum Kongresszentrum zu machen, die dann illegal sein wird. Oder es ergibt sich doch noch ein Aktionskonzept der direkten gewaltfreien Aktion, wie etwa eine Massenblockade, die die oft beobachtete Aufspaltung einer Demo in AktivistInnen an der Front und nachfolgender Masse, die nicht gefragt wird, überwinden kann. Das wird auch von den gewaltfreien AnarchistInnen innerhalb dieser Bewegung abhängen, die sich am Rande des Treffens in einem Workshop zu Geschichte und Theorie des gewaltfreien Anarchismus erstmals trafen und sich auf Anhieb sowohl im Hinblick auf Kritik wie auch auf kommende Strategien prächtig verstanden.
(1) Im persönlichen Gespräch bestritten mir gegenüber Libertäre aus der Schweiz und aus Italien einen libertären Charakter der Tutte Bianche. Casarini sei nicht nur deren unbestrittener Guru, zu dem alle aufsähen, er betreibe derzeit auch noch die Dialogannäherung mit offiziellen Stellen. Zudem seien die meisten AktivistInnen der Tutte Bianche gleichzeitig Mitglieder der kommunistischen Parteijugend und hätten mit Anarchismus nichts zu tun.
Anmerkungen
Infos zur Mobilisierung für Davos am 2.2.:
Direkte Solidarität mit Chiapas, Zürich
soliroc@chiapas.ch
Anti-WTO-Koordination Bern
anti-wto@reitschule.ch
Zu München 2.2. und zu diesem Züricher Treffen:
Für den 12. (Blockade und Kundgebung) und 13.10. (dezentrale Aktionen) wird auch noch gegen den Auftritt Berlusconis auf dem CSU-Parteitag in der Frankenhalle in Nürnberg mobilisiert:
Infotelefon tgl. 18-20 h
0160/91773464
0172/5856439