"Bei hundert oder tausend kriegen sie langsam Ohrensausen. Sie werden zwar sagen 'Das sind nicht viel!', aber tausend sind auch kein Pappenstiel..." (Ton Steine Scherben, Allein machen sie dich ein)
Die Zahlen von Samstag (13.10.) schwanken noch beträchtlich: selbst die – grundsätzlich nicht ernst zu nehmenden -veröffentlichten Zahlen der Polizei liegen inzwischen nicht mehr bei 8.000, sondern bei 25.000 Protestierenden, und die VeranstalterInnen sprechen in ihren optimistischsten Einschätzungen von 60.000 Menschen! Ab einer gewissen Menge aber wird die genaue Zahl für Beteiligte nebensächlich und das Erlebnis das Gleiche: so weit das Auge reicht Menschen, die aus demselben Grund wie man selbst nicht schweigen wollen und beweisen, dass es möglich ist, die massive Medienpropaganda zu hinterfragen. Wichtigste Aussage also: es GIBT eine Opposition zu der z.Zt. in ihrem Umfang niederschmetternden Zustimmung zu den US-Bombenangriffen. Die Fassungslosigkeit, die die derzeitigen Entwicklungen hervorrufen müssten, ist wenigstens bei einem Teil der Bevölkerung zu spüren, der merkt: „Jetzt oder nie!“ Für mich als Münsteranerin war die Wirkung wie erwartet: eine Erholung von den gelegentlichen herablassenden bis aggressiven Kommentaren der PassantInnen vor dem Münsteraner Friedenssaal und ein enormer Motivationsschub. Da die Demo von unterschiedlichen Leuten auch sehr unterschiedlich empfunden worden ist, möchte ich noch mal deutlich sagen, dass dies gezwungenermaßen nur ein Beitrag aus meiner Perspektive sein kann.
Um 5 Uhr morgens waren wir in Münster losgefahren, mit fünfzig Leuten war der Bus voll besetzt. Da wir eine Stunde vor Beginn des Auftakts vor dem Roten Rathaus um 13.00 Uhr bereits ankamen, hatten wir Zeit, in Ruhe Transparente und das 3-Personen-Friedenspferd (keiner wollte das Hinterteil machen.) zu versorgen. Das mulmige Gefühl angesichts der anfangs noch sehr vereinzelten Protestierenden verschwand bald, als sich der Neptunplatz zu füllen begann. Anstrengend und penetrant waren die DKP- und MLPD-Fahnen und die massive Parteipropaganda der PDS, die neben Fahnen auch fleißig Luftballons an die Kinder verteilten, in echter Jahrmarktsmanier. Ständige Bemühungen, sich als Individuum von den Parteiflaggen zu distanzieren, waren die Folge. Aufdringliche Versuche der MLPD, rhythmische Protestparolen unters Volk zu bringen („Gegen Bush und Taliban“, „Kein Kriegseinsatz der Bundeswehr – Schröder, Fischer: Hört ihr schwer?!“, „U.S.A. – Raus aus Afghanistan“), wollten nicht recht gelingen. Trotz allem waren die Musikeinlagen auch anderer Gruppen gute Stimmungsmacher, die uns auf dem Demonstrationszug begleiteten. Vom Roten Rathaus vor dem Fernsehturm am Alexanderplatz ging es Richtung Leipziger Straße, deren vier Spuren zur Hälfte wegen des Demonstrationszugs für den Verkehr abgesperrt worden war. Über die Markgrafenstraße gelangten wir zum Gendarmenplatz, auf dem die Menschen bald so dicht gedrängt standen, dass sie sich gegenseitig auf die Füße traten. Durchsagen ließen uns wissen, dass dennoch längst nicht Alle auf den Platz gelangen könnten und über weniger verstopfte Nebenstraßen eventuell noch in Nähe der Kundgebungsbühne gelangen könnten. Dabei fiel der durchaus hohe Anteil an „NormalbürgerInnen“ positiv auf, oder nennen wir sie „Personen, die nicht durch ihr Äußeres Stellung nehmen und Aussagen treffen.“ Einen schönen Anblick boten außerdem die unmissverständlichen und geistreichen Transparente (s. Fotos in dieser GWR).
Während der Reden auf der Kundgebung gab es wenig Anlass zu Bauchschmerzen, mit Ausnahme der Werbung für die PDS, die anerkennend als einzige Partei genannt wurde, die sich gegen die Kriegseinsätze äußert. Unmut im Publikum war hier auch hörbar. Als Seitenhieb auf die Grünen war diese Bemerkung allenfalls brauchbar. Von den vielen Briefen, die Solidarität mit den Protestierenden bekunden wollten, wurde einer von Joan Baez und Harry Belafonte vorgelesen, der einen Hauch von ’68-Stimmung mit sich brachte. Die Redebeiträge waren gut und deutlich, vielschichtig und hintergründig. Grundsätzliche Kritik war trotz des breiten Bündnisses oder gerade deshalb am richtigen Ort: die Kritik blieb nicht bei der Erkenntnis stehen, dass Gewalt gegen Gewalt keine Lösung ist und die Bombenangriffe weder mit dem Völkerrecht vereinbar sind noch menschlich zu verantworten. Die politischen Zusammenhänge und Hintergründe, jahrzehntelange imperialistische Außenpolitik der U.S.A. und die daraus folgenden Ungerechtigkeiten, Abhängigkeiten, sozialen und wirtschaftlichen Schieflagen in der Welt wurden thematisiert und angeprangert. Ebenso die massive Kriegspropaganda, der im Moment ein erschreckend hoher Anteil der Bevölkerung erliegt, völlig unbeeindruckt von der deutschen Geschichte. Das Transparent „Wollt Ihr den globalen Krieg?“ fand ich in diesem Zusammenhang besonders wirkungsvoll. Auch Schilys Innenpolitik, die massiven Verschärfungen der „Maßnahmen zur inneren Sicherheit“ und die rechtliche Aushöhlung in einem haarsträubenden Tempo auf direktem Weg zum Überwachungsstaat wurden scharf angegriffen und als schamlose Ausnutzung der angefachten Hysterie in der Bevölkerung entlarvt. Empörung und lauten Protest erfuhr auch die damit zusammenhängende Asylpolitik, die kaum noch schlimmer hätte kommen können, und doch noch immer unerträglicher wird. Durch die wirksame Propaganda rassistischer Gleichsetzung bzw. Assoziierung von Ausländern und (potentiellen) Verbrechern wird das Grundrecht auf Asyl weiter ausgehöhlt und gleichzeitig die Sensibilisierung für selbst ausgelöstes Flüchtlingselend behindert.
Von einer ernstzunehmenden, unparteiischen und differenzierten Medienberichterstattung würde ich beispielsweise die Übertragung eines Teils dieser Reden erwarten, anstatt in verqueren Formulierungen zu versuchen, die Forderungen der Demonstrierenden mehr schlecht als recht zu übermitteln.
Ein Zwischenfall darf nicht unerwähnt bleiben. Die NPD-Werbeplakate an Laternenpfählen, in kaum erreichbarer Höhe gehängt, waren uns schon am Rathaus übel aufgestoßen. Unterwegs hatte ein Demonstrant unter dem lauten Jubel der Menge in einer Kletteraktion eines davon entfernt. Was aber dann am Französischen Dom passierte, war den Aufstand der Menge wert: einige Nazis hatten ein großes NPD-Transparent ausgerollt. Oben an der Kuppel standen weitere Menschen mit einem „Wir sind das Volk“-Transparent, die von Einigen als Nazis eingestuft wurden. Aus voller Inbrunst kamen die Rufe „Nazis raus!“ und „Runterholen“. Die Rednerin hatte keine Chance, gegen die lautstarken Proteste der Demonstrierenden anzukommen, die den Blick nicht von dem Transparent abwandten und keine Ruhe gaben, eher es von einer einzelnen Person in einer stark umjubelten Aktion abgehängt und in einen Hinterhof geworfen wurde. Die Gefahr, auch in diesem Fall wieder mit den Falschen in einen Topf geworfen zu werden war ein besonderer Dorn im Auge. Beginnend mit Bushs „Either you’re with us or you’re against us“-Strategie, die alle Kritiker als solidarisch mit den Taliban und mit den grauenvollen Anschlägen abstempeln sollten, geht die Verleumdung weiter mit Äußerungen wie der des NRW-Innenministers Fritz Behrens, dass demnächst „Brandanschläge, Mahnwachen, …“ etc. zu erwarten wären. Wir werden uns darauf nicht einlassen und davon nicht einschüchtern lassen! Es bleibt viel Aufklärungsarbeit zu leisten. Auch wenn die Berichterstattung ein Armutszeugnis ist: ein deutliches Zeichen wie die Großdemos in Berlin und Stuttgart sind ein Schritt auf dem Weg dahin, erst Unsichere und Zweifler zu überzeugen und damit die Antikriegsproteste auszuweiten.
„Und was nicht ist, das kann noch werden – wir können uns ganzschnell vermehren…!“
Anmerkungen
Die Reden der Berlin-Demo vom 13.10. finden sich unter: