Voraussichtlich zum Fest "30 Jahre Graswurzelrevolution" (21.-23.6.2002) - wird das bisher aufwendigste Buchprojekt des Buchverlages Graswurzelrevolution zum Abschluß kommen und veröffentlicht werden: eine dreibändige Ausgabe der Schriften Gustav Landauers, des neben Pierre Ramus, Erich Mühsam und Rudolf Rocker wohl einflussreichsten deutschsprachigen Anarchisten des 20. Jahrhunderts. Um unsere LeserInnen auf dieses Ereignis vorzubereiten, werden wir versuchen, jeden Monat ein Häppchen aufzutischen, das den Mund wässrig machen soll. Hier der Text "Die Sozialdemokratie und der Krieg", der 1913 entstanden ist und angesichts des Baseler Friedens-Kongresses der Sozialdemokratie deren Kriegslüsternheit aufzeigt. Die Sozialdemokratie neigt nicht von sich aus zum Frieden, so Landauer, sondern nur durch Einfluß von außen, von der Bevölkerung. Leider ist der Text so aktuell, als wäre er gestern geschrieben worden. (Red. France-Sud)
Gegen den Krieg hat in Basel ein internationaler Sozialisten-, das heißt Sozialdemokratenkongreß, der aber keine ernste Beratung, sondern nur eine theatralisch wirkungsvolle Demonstration und im besten Fall eine imposante Drohung war, stattgefunden. Ängstlich wurde von den diplomatischen Regisseuren darauf gesehen, daß der Kongreß nicht in eine wirkliche Vorbereitung auf den Ernstfall ausartete, wozu Debatten notwendig gewesen wären, die die sozialdemokratischen Nationen nicht vereint, sondern getrennt gezeigt hätten. So hörte man starke Worte, von Ausländern, zumal dem Engländer Keir Hardie, auch einen entschiedenen Hinweis auf den Generalstreik, aber im großen ganzen war alles politisch und auf den Effekt und die Scheinharmonie herausgearbeitet.
Wir haben gewiß auch Sinn für eine eindrucksvolle Theaterszene, die, wie jedes Drama, belebend, anfeuernd, erhebend, warnend wirken kann. Auch uns muß es freuen, daß vom altehrwürdigen Münster in Basel aus mit der Wucht internationalen Massenaufmarsches und dem Glanz internationaler Rhetorik auf Völker und Staatenlenker gewirkt wird. Was immer wir Ernstes und Schweres gegen die Sozialdemokratie auf dem Herzen haben, sie repräsentiert, gerade für die Massen der Zurückgebliebenen und Gegner, den Sozialismus, und so wird die Proklamation des Friedenswillens durch die Internationale des Sozialismus im christlichen Münster ein Anblick sein, den man hüben und drüben nicht so schnell vergessen wird.
In einer Geschichte der marxistischen Sozialdemokratie wird das Kapitel, das von ihrer Stellung zu Krieg und Frieden handelt, besonders interessante Wandlungen zeigen. Der Kampf gegen den Krieg als solchen ist in den Marxismus durchaus von außen und gegen den Sinn seiner Theorie eingedrungen. Der Marxist ist von Haus aus geneigt, gegen jede Ideologie, gegen alles Seelenvolle, gegen alle ethischen Gesichtspunkte zu höhnen. Für den Marxisten gibt es keinen Grund, prinzipiell gegen den Krieg als solchen zu sein; sowenig wie für den Revisionisten; beide sind Realpolitiker, die auf dem Boden der bestehenden Staaten stehen und den Internationalismus, wenn es sich um in der Zivilisation „zurückgebliebene“ Völker und um wirtschaftliche Lebensfragen der Einzelstaaten gehandelt hat, nie anerkannt haben. So bedeutet die immer mächtiger gewordene prinzipielle Haltung gegen jeglichen Krieg einen Einbruch des von den Massen gefühlsmäßig erfaßten wahrhaften, das heißt staatsfeindlichen, die Gesellschaft auf neue Grundlagen aufbauenden Sozialismus in das Gehege des politischen Marxismus. Ungezählte Beispiele für die Kriegsbereitschaft und geradezu Kriegslüsternheit der marxistischen Sozialdemokratie könnte man aus den Schriften von Marx, Engels, Liebknecht, Bebel zusammenstellen. Hier ein paar Proben von Marx-Engels aus der „Neuen Rheinischen Zeitung“, denen man andere Stellen anfügen könnte, die zeigen, wie die beiden mit fanatischer Verbissenheit für die Unterdrückung der südslawischen Völker durch einen großen österreichischen Zentralstaat eingetreten sind:
19. August 1848: „Was war der Krieg mit Rußland? [Das heißt im Zusammenhang: was wäre er, den ich gewünscht hätte, gewesen?] Der Krieg mit Rußland war der vollständige, offene und wirkliche Bruch mit unserer ganzen schmachvollen Vergangenheit, war die wirkliche Befreiung und Vereinigung Deutschlands, war die Herstellung der Demokratie auf den Trümmern der Feudalität und des kurzen Herrschaftstraums der Bourgeoisie. Der Krieg mit Rußland war der einzig mögliche Weg, unsere Ehre und unsere Interessen gegenüber unseren slawischen Nachbarn und namentlich den Polen zu retten.“
7. September 1848. „Werden die Repräsentanten der Bourgeoisie in Frankfurt nicht lieber jeden Schimpf einstecken, werden sie nicht lieber unter Preußens Knechtschaft sich begeben, als daß sie einen europäisch-revolutionären Krieg wagen, als daß sie sich neuen Stürmen aussetzen, die ihre eigene Klassenherrschaft in Deutschland gefährden? Wir glauben es. Die feige Bourgeoisienatur ist zu mächtig. Wir haben zu der Frankfurter Versammlung nicht das Vertrauen, daß sie die schon in Polen preisgegebene Ehre Deutschlands in Schleswig-Holstein auslösen werde.“
9. September. „Der dänische Krieg ist der erste Revolutionskrieg, den Deutschland führt. Und darum haben wir uns, ohne dem meerumschlungenen bürgerlichen Schoppenenthusiasmus die geringste Stammverwandtschaft zu bezeigen, von Anfang an für energische Führung des dänischen Kriegs erklärt …“
„… Mit demselben Recht, mit dem die Franzosen Flandern, Lothringen und Elsaß genommen haben und Belgien früher oder später nehmen werden, mit demselben Recht nimmt Deutschland Schleswig: mit dem Recht der Zivilisation gegen die Barbarei, des Fortschritts gegen die Stabilität. Und selbst wenn die Verträge für Dänemark wären, was noch sehr zweifelhaft ist, dies Recht gilt mehr als alle Verträge, weil es das Recht der geschichtlichen Entwicklung ist. …“
„… Der Krieg, der möglicherweise jetzt aus den Beschlüssen in Frankfurt entstehen kann, würde ein Krieg Deutschlands gegen Preußen, England und Rußland sein. Und gerade solch ein Krieg tut der einschlummernden deutschen Bewegung not; ein Krieg gegen die drei Großmächte der Konterrevolution …, ein Krieg, der ‚das Vaterland in Gefahr’ bringt und gerade dadurch rettet, indem er den Sieg Deutschlands vom Sieg der Demokratie abhängig macht.“
Und in der Neujahrsbetrachtung der „Neuen Rheinischen Zeitung“ zum Jahr 1849 schildert und wünscht der Verfasser (wahrscheinlich Marx, vielleicht Engels), daß um des Sieges der Demokratie willen nicht bloß ein europäischer, sondern ein Weltkrieg kommen müsse. „Er wird geführt in Kanada wie in Italien, in Ostindien wie in Preußen, in Afrika wie an der Donau.“
Immer sieht Marx die Revolution in der Gestalt eines Krieges von Staaten gegen Staaten zum Zweck der Konsolidation einiger sozial-demokratischen Zentralstaaten. Daß das meistens nur komische Kannegießereien im wissenschaftlich unfehlbaren Leitartikeljargon sind, sei nur nebenbei erwähnt; die Entwicklungsgeschichte des Marxischen Entwicklungsstils kann ein andermal betrachtet werden. Absichtlich sind die Zitate aus der Zeit von 1848 gewählt, weil es sich hier um Karl Marx’ Politik zu einem Zeitpunkt handelt, wo er an die nahe Erfüllung seiner Ziele glaubte. Sowie die Sozialdemokratie sich der Herrschaft wieder nahe glaubte, wäre ihre Staatspolitik wieder genau die nämliche. Wer einwenden wollte, nur der junge Marx sei ein Kriegspolitiker, der reife aber ein prinzipieller Gegner des Krieges als solchen gewesen, den würden wir durch reichliche Zitate eines besseren belehren.