anarchismus

„Meine Verse sollen Bomben sein…“

Glanz und Elend anarchistischer Poesie während des Spanischen Bürgerkriegs 1936-1939

| Joseph Steinbeiß

In Madrid kann, hat man den Goyas und Velásquez des spanischen Nationalmuseums ausreichend Referenz erwiesen, in einem prunkvollen Nebengebäude des Prado Pablo Picassos „Guernica“ bewundert werden. Immer wieder wird von berufener Seite Kritik laut. Oder BesucherInnen beschweren sich: man könne sich dem Gemälde nicht nähern, man könne es, je nach Lichtverhältnissen, nicht einmal richtig sehen. In der Museumsdirektion zuckt man die Achseln: „Nicht zu ändern!“. Pablo Picassos „Guernica“ hängt hinter einem mächtigen Kasten aus Panzerglas.

1981, als das Kunstwerk aus den Vereinigten Staaten nach Spanien überführt wurde, war die gläserne Panzerweste Pflicht. In der spannungsgeladenen Atmosphäre der Jahre nach Francos Tod, der sogenannten Transición, dem gewaltlosen Übergang von der Diktatur zur Demokratie in Spanien, fürchtete man mit Recht „Attentate“ gegen das Gemälde. Am 23. Februar unternahmen abtrünnige Militäreinheiten unter Colonel Antonio Tejero einen Putschversuch gegen die kaum sechs Jahre alte Republik. Sie besetzten die spanischen Cortes und nahmen sämtliche ParlamentarierInnen als Geiseln. König Juan Carlos erschien persönlich auf den Fernsehschirmen des Landes, bekannte sich zur parlamentarischen Demokratie und befahl dem Militär, in die Kasernen zurückzukehren. Der Aufstand brach zusammen. Picassos weltberühmte Bürgerkriegsklage war für Spaniens konservative Rechte – man mag die klischeebehaftete Plumpheit des folgenden Sprachbildes verzeihen – damals ein rotes Tuch

Den heutigen Betrachter beschleichen, 20 Jahre nach den turbulenten Februartagen, vor dem gewaltigen Gemälde andere Gefühle. Spaniens parlamentarische Demokratie ist längst gefestigt, das Land ein moderner Industriestaat, fest verankert im Machtgewebe des Westens. Das Panzerglas aber blieb. Man hat den Eindruck, als solle der ominöse Kasten nun etwas im Gemälde fest-, und nicht etwa die Kugel (oder den Farbbeutel) eines für Symbole empfänglichen Attentäters fernhalten. Anlässlich des fünfzigsten Jahrestages des Ausbruchs des Bürgerkrieges sagte Spaniens damaliger sozialistischer Staatspräsident Felipe Gonzáles, der Bürgerkrieg sei „kein Ereignis, dessen man Gedenken sollte“. Auf eine Umfrage der Zeitschrift Cambio, für welche der beiden Seiten im Bürgerkrieg sie sich entscheiden würden, hätten sie heute zu wählen, antworteten 48% der Befragten: „Für keine von beiden!“. Man mag in Spaniens Gesellschaft und Politik nicht gerne an den Bürgerkrieg erinnert sein. Dann lieber Panzerglas.

Die anarchistische Poesie des Bürgerkriegs

Die anarchistische Poesie des Bürgerkrieges bildet, legt man selbst bescheidenste Schätzungen zugrunde, ein enormes Textkorpus. Nur ein Bruchteil liegt editiert und einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich vor. Übersetzungen ins Deutsche existieren gar nicht. (1)  Der französische Hispanist Serge Salaun, Herausgeber des „Romancero Libertario“ (2), der einzig heute verfügbaren Anthologie ausschließlich libertärer spanischsprachiger Gedichte des Bürgerkrieges, ging in den siebziger Jahren von immerhin 8500 Gedichten aus, verfaßt von 3400 AutorInnen: „Die Republik und vor allem die drei Jahre des Krieges waren Schauplatz eines der wunderbarsten poetischen Phänomene der gesamten spanischen Literaturgeschichte, einzig vergleichbar mit den Cantares de Gesta und den Romances des Mittelalters“. (3)  Aktuellere Untersuchungen lassen Salauns Schätzung weit hinter sich. Günther Schmigalle gibt die Zahl der während des Bürgerkrieges in der republikanischen Zone veröffentlichten poetischen Texte mit 15 – 20.000 an! (4)  Von den ca. 5000 AutorInnen dieser erstaunlichen Textfülle seien über die Hälfte AnarchistInnen gewesen – nicht unwahrscheinlich (wiewohl noch keineswegs bewiesen), bedenkt man das Übergewicht anarchistischer Zeitungen und Zeitschriften in der republikanischen Zone, die neben dem Radio das Hauptmedium zur Verbreitung libertärer Poesie waren. Nach den blutigen Mai-Ereignissen in Barcelona 1937, die das endgültige Ende der Sozialen Revolution in Spanien einläuteten, wurde die Veröffentlichung anarchistischer Texte von der kommunistischen Zensur weitgehend unterbunden. In kaum anderthalb Jahren also entstanden und erschienen in der republikanischen Zone mehr Gedichte als in Jahrzehnten vorheriger Literaturproduktion zusammengenommen!

Dabei handelte es sich überwiegend um „volkstümliche“ Literatur, also nicht das Werk professioneller AutorInnen, sondern einfacher Leute: ArbeiterInnen, Angestellter, Bauern, die in der anarchistischen Presse immer wieder ermuntert wurden, sich künstlerisch und literarisch zu betätigen. Das Echo war gewaltig: „Als die Herausgeber der Biblioteca Juventud Libertaria sich mit der Bitte an die Leser wandten, Gedichte und Lieder einzusenden, damit diese in einer Broschüre veröffentlicht werden könnten, sahen sie sich einer so großen Flut von Beiträgen gegenüber, daß es unmöglich war, sie alle in einer Broschüre zu veröffentlichen“. (5)  Zahlreiche anarchistische Zeitungen richteten feste Rubriken für libertäre Lyrik ein, so etwa die einflußreiche Gewerkschaftszeitung CNT mit ihren „Romances de CNT“, die der anarchistische Dichter Antonio Agraz dominierte und die 1936 als Buch gleichen Titels erschienen. „Optisch setzte man die Gedichte durch kontrastierende Schrifttypen, größere oder kleinere Schrift oder durch Kursivdruck vom übrigen Text ab. Auch innerhalb eines Gedichts konnte der Schrifttyp noch wechseln, um emphatische Ausrufe, Pointen oder Schlüsselbegriffe der anarchistischen Ideologie wie ´libertad´ [Freiheit] oder ´igualdad´ [Gleichheit] drucktechnisch hervorzuheben. Beliebt waren auch Randverzierungen: Blumen – und Pflanzenmotive, Sternchen oder einfach Doppelstriche“. (6)

Die anarchistischen Gedichte dienten – wie die anarchistische Presse allgemein – nicht zuletzt der Alphabetisierung. Zu Beginn des Bürgerkrieges und der Sozialen Revolution in Katalonien und Aragon betrug die Analphabetenrate in ländlichen Regionen teilweise über 70%. An der Front waren eigens geschaffene Kulturmilizen tätig, die Schulungen – vor allem mit Hilfe libertärer Zeitungen – abhielten, den meist illiteraten KämpferInnen die aufrüttelnde Agitationslyrik der AnarchistInnen vorlasen und mit ihnen diskutierten. „Es ist anzunehmen, daß die kämpferische, emotionale Lyrik der Anarchisten in einer kollektiven Rezeptionssituation eine ungleich größere Wirkung entfaltete […], da der jeweils Vortragende den Inhalt mit seiner Stimme, mit Gesten oder einer bestimmten Mimik unterstreichen konnte“. (7)  Fast jede Brigade hatte darüber ihre eigene Zeitung und nicht selten ihre eigenen Dichter, die kämpferische Hymnen für den Krieg verfaßten. Und manch militanter Arbeiter oder revolutionärer Bauer wird an den Texten von Antonio Agraz, José García Pradas oder Félix Paredes – von zahllosen Unbekannten, die ihre Texte mit „Iconoclasta“ [„Bilderstürmer“], „un miliciano“ [„ein Milizionär“] oder „No importa“ [„Spielt keine Rolle!“] signierten ganz zu schweigen! – Lesen und Schreiben gelernt haben.

„Ich schreibe keine Literatur!“

Die Explosion literarischer Produktivität seitens der Anarchisten während des Bürgerkrieges war keineswegs zufällig. Praktisch seit ihrer Formierung Ende des 19. Jahrhunderts hatte sich die anarchistische Bewegung Spaniens mit künstlerischen und kulturellen Fragen auseinandergesetzt: „Jede Revolution muß, wie sie eine Philosophie und eine Rechtswissenschaft besitzt, auch ihre Kunst und Literatur haben. So zumindest ist es immer gewesen. Warum also sollte unsere soziale Revolution nicht die ihr angemessene Kunst und Literatur hervorbringen?“. (8)  Künstlerische Betätigung gehörte für Spaniens AnarchistInnen untrennbar zu ihrem „ganzheitlichen Menschenbild“ (Sartre) und war keineswegs auf ein idealisiertes Proletariat als Träger des sozialen Umsturzes beschränkt: „Da wir wissen, daß der Mensch nicht nur vom Brot allein lebt, geben wir uns nicht damit zufrieden, nur gegen die ökonomische Sklaverei zu protestieren und zu rebellieren, sondern verlangen ebenso Teilhabe an den Schönheiten der Kunst. Wir wollen vollständige Menschen sein, wir wollen alle unsere Fähigkeiten entwickeln, wir wollen ganzheitlich leben“. (9) 

Um vor den Augen der AnarchistInnen als „wahre Kunst“ zu bestehen, hatten literarische Werke allerdings „Auflagen“ zu erfüllen. Formale Kriterien waren dabei vollkommen unerheblich. Die spanischen AnarchistInnen verabscheuten den vorgeblichen Formalismus der Modernisten (die man immerhin „literarische Anarchisten“ (10)  genannt hatte!) um die Jahrhundertwende fast ebenso tief wie es konservative Kunstrichter der vorrepublikanischen Zeit taten: „Wir empfinden nicht den geringsten Respekt vor jenen Autoren der Avantgarde, die nichts weiter revolutionieren wollen als die Form“. (11)  Auch dem professionalisierten Kunst- und Literaturbetrieb ihrer Zeit standen sie ausnehmend kritisch gegenüber – so kritisch, daß der Begriff „Literatur“ fast schon zum Schimpfwort degenerierte. „Literatur“, das war schöngeistige Nichtigkeit, zeitloser Salbader, l´art pour l´art und eines aufrechten Revolutionärs unwürdig. Wer sich einmal auf den Tand des literarischen Ruhmes und künstlerischen Eigenwertes einließ, dem rückte bald die bucklige Verwandtschaft nach. Der Akt der literarischen Schöpfung selbst war den Anarchisten ungleich wichtiger als ihr Resultat. Antonio Agraz schimpfte noch während des Bürgerkrieges: „Ich schreibe keine Literatur!“. Schreiben war für ihn und viele andere organisierte Anarchisten vor allem revolutionäre Arbeit. In seinem Gedicht „Romance de la pluma herida“ [„Romanze von der verwundeten Feder“] ließ Agraz eine durch und durch proletarische Schreibfeder wie einen Fabrikarbeiter über ihren Alltag stöhnen: „Sie lassen mich schuften/ Tag und Nacht/ ohne Feiertag, ohne Pause/ ohne Tinte […]“. (12)

Für die AnarchistInnen waren Begriffe wie Kunst, Volk und Revolution untrennbar miteinander verbunden. Wahre Kunst mußte aus dem Volke hervorgehen, dem Volke dienen, und letztlich das Ziel der Anarchisten, die Soziale Revolution, befördern. Sie waren dabei, was ihr Leseverhalten anging, alles andere als Sektierer, sondern begeisterte StudentInnen des klassischen spanischen wie europäischen Literaturkanons. Reinhold Görling spricht gar von einer „anarchistischen Lesewut“ (13). Freilich war man stets bemüht, „wahre Künstler“ sorgsam herauszusieben: Autoren wie Hugo, Zola, Tolstoi oder Schiller, die um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts entstandene novela social, aber auch die trivialen Feuilleton-Romane eines Eugène Sue oder Aygual de Izco, dessen Werke von der Literaturkritik für minderwertig befunden wurden, waren für Spaniens Anarchisten vorbildhaft. Juan Montseny, Vater der nachmaligen anarchistischen Gesundheitsministerin Frederica im Kriegskabinett Negrín und vielleicht der einflußreichste anarchistische Intellektuelle seiner Zeit, gab gemeinsam mit seiner Frau in Barcelona „La Novela Ideal“ heraus – eine Serie sozial – sentimentaler Groschenromane, deren Auflage selten unter 50.000 sank. Der Umgang der AnarchistInnen mit Literatur und Geschichte war in jeder Hinsicht freizügig: man verklärte gotische Kathedralen zu einem „ungetrübten Ausdruck der Volkskultur“, taufte Francois Rabelais „einen anarchistischen Kleriker“, machte aus Francisco de Quevedo einen „Revolutionär“, und 1937 erfuhr Miguel de Cervantes, Schöpfer des von den AnarchistInnen sehr geliebten „Ritters“ Don Quijote, die (sicherlich unverdiente) Ehre, zum Vordenker des Anarchismus gekürt zu werden.

Die erstaunliche Lyrikproduktion während des Bürgerkrieges war für die Libertären Teil eines Prozesses revolutionärer Umgestaltung der Gesellschaft. Die „Gelegenheitsdichter“ konnten auf einen Schatz mündlicher Literaturüberlieferung zurückgreifen, der in Liedern und Gedichten teilweise bis ins Mittelalter zurückreichte. Die Flut an Presseorganen bot ausreichende Veröffentlichungsmöglichkeiten, und das Fehlen jeglicher formaler Auswahlkriterien ermutigte zu eigener künstlerischer Betätigung. Ziel war eine revolutionäre Volkskultur, die gleichzeitig den sozialen Kampf vorantreiben und den angestrebten Zustand der Befreiung bereits wiederspiegeln sollte.

„Heilige Mutter Spanien“

Die während des Bürgerkrieges von den drei genannten Autoren Agraz, Pradas und Paredes verfassten Gedichte wurden diesem hehren Anspruch allerdings nur selten gerecht. Mit Fortdauer des Krieges wandelte sich die anarchistische Literaturproduktion zumindest dieser drei „semi-professionellen“ Dichter – Pradas war Herausgeber der bereits erwähnten Zeitschrift CNT, Agraz für lange Zeit sein wichtigster Mitarbeiter, Paredes hatte bei Fragua Social einen wichtigen Posten inne – von einem Instrument revolutionärer Befreiung zu einer Propagandakanone. Einer Kanone, die nicht selten mit genau demselben Pulver befüllt wurde, wie es die franquistische Seite verschoss, wenn sie sich als einzig legitimierte Vertreterin des „wahren Spaniens“ pries und Franco zu einer Art chiliastischem Helden verklärte, der ausgezogen sei, in einem neuerlichen „Kreuzzug“ Mauren und sonstige „Unspanier“ auszutreiben. Die anarchistischen Poeten reagierten auf diese Anmaßung mit fortgesetzten Versuchen, Begriffe wie „Nation“, „Spaniertum“, „Vaterland“, ja sogar „Kreuzzug“ und „Reconquista“ umzudeuten und für die eigene Sache zu verwenden. Die Folge war u.a. ein mystischer, patriarchaler Spanienkult, den Salaun nicht ohne Grund einen „Neonationalismus von links“ (14)  nennt. Spanien wurde in der anarchistischen Poesie des Bürgerkrieges zu einer ahistorischen, romantisch umnebelten Größe, zur „ewigen Mutter Spanien“, der zeitweise gehuldigt wurde wie vormals der Mutter Gottes, und die – selbstverständlich ausschließlich von Männern, ihren „wahren Söhnen“- gegen die „unspanischen Horden“ Francos verteidigt werden mußte:

Mutter Spanien
Du keusche, du treue und verschwiegene […]
Die du leidend träumst. Die Du arbeitest und singst.
Mutter Spanien, Du Gute! Mutter Spanien, Du Heilige!
(15)

Die Tasache, daß sich Francos Militärrevolte zunächst auf das teilweise muslimische marokkanische Expeditionscorps stützte, und die stetig wachsende militärische Unterstützung durch die Achsenmächte verführten vor allem Antonio Agraz – der bewundernswerte und interessante Texte verfaßt hat, aus dessen Feder aber auch äußerst unappetitliche Hetzgedichte flossen, etwa, wenn er „Verräter und Diebe“ [sic!] als Todfeinde brandmarkt, um im Refrain seines „Liedes“ nichts weiter zu fordern als „Todestrafe/Todesstrafe!“ (16)  – dazu, den propagandistischen Spieß umzudrehen und in seiner Lyrik immer wieder von einer „libertären Reconquista“ zu faseln, mit allem was dazugehört: der „Reinheit des Blutes“, Verteidigung der katholischen Muttererde gegen die „maurische Invasion“ und einer rassistischen Überhöhung „wahren Spaniertums“, wie man sie bis dahin nur aus der Francopropaganda kannte, die eine wirre „spirituelle Rasse der Spanier“ hochhielt.

„Wahre Spanier“ waren – ganz wie während der blutigen Austreibung der Juden unter den katholischen Königen, als erstmals rassische religiöse Kriterien ersetzten – bei Agraz Männer „reinen Blutes“, die allerdings (entgegen dem vornehmen Nichtstun des Hidalgo) aus der täglichen Berührung mit dem „Mutterkörper“, der spanischen Erde, ihre Kraft schöpften. Alle anderen waren „aus der Art geschlagen“:

Zwei Jahre, zwei Jahre ist es her
seit der Krieg gekommen ist
Gebracht haben ihn uns Feiglinge
Verräter, mit unreinem Blut […]
Abtrünnige ihrer Rasse
(17)

Wie sehr Agraz krauses Propagandagespinst, das so schlecht zum anarchistischen Menschenbild jener Zeit zu passen scheint, auch der franquistischen Anmaßung geschuldet sein mag: es ist eine Tatsache, daß auch spanische Anarchisten von seinerzeit wirkungsmächtigen „Rassentheorien“ keineswegs unbeleckt blieben. Juan Montseny erklärte in seiner unter dem Pseudonym Frederico Urales veröffentlichten „Entwicklung der Philosophie in Spanien“, daß Andalusier und Kastilier mehr einem verweichlichten „Dekadentismus“ zuneigten, da sie „von Natur aus“ schwächer sein als Nordspanier und Katalanen, die in ihren Werken „die Idee, die Moral und den Inhalt“ weit mehr hervorhöben als „Schönheit, Ästhetizismus und Form“. (18)  Auch der unverhohlene Machismo der anarchistischen Poesie – angesichts der Existenz so einflußreicher revolutionärer Frauenorganisationen wie der Mujeres Libres zumindest verwunderlich – kam nicht von ungefähr. Es war wiederum Juan Montseny, der in der meinungsbildenden libertären Theoriezeitschrift La Revista Blanca schon 1903 folgendes zu Papier brachte: „Sind etwa die größten Künstler nicht auch die größten Liebhaber gewesen? Der Mann, der nichts empfindet in Gegenwart einer schönen Frau, der nicht, brennend vor Leidenschaft, wünscht, ihre Lippen zu küssen, ihre Augen zu küssen, ihre Taille zu umfassen – wird der jemals unsterbliche Werke schaffen können?“. (19)  Es verwundert also nicht, wenn Félix Paredes in einem Gedicht den spanischen Frauen befiehlt, nicht zu weinen und sich an der Stärke der Männer zu erbauen, die „für sie“ in den Krieg ziehen:

Sie gehen, weil sie Deine Wache sind
Deine Wache, süßes Täubchen
und werden deine Garde sein
gegen Pfaffen und Mauren
(20)

Politische Programmatik oder soziale Analyse, wie sie für anarchistische Gedichte vor dem Bürgerkrieg charakteristisch waren, verschwanden während des Krieges bei Agraz, Pradas und Paredes praktisch ganz. In Ton und Inhalt näherten sich ihre Gedichte – erstaunlicherweise – mehr und mehr dem stalinistischen Dichtungsstil, jenem salbungsvollen Personenkult in Versen, in dem Stalin das Licht und die Sonne oder die spanische Kommunistin Dolores Ibárruri, die Pasionaria, ebenso erhoben und zur Mutter Gottes, zur ewigen, leidenden Mutter verklärt wurde, wie Spanien bei den Anarchisten. Zur Klärung der Ziele und Beweggründe des Bürgerkrieges hatte diese Poesie herzlich wenig beizutragen…

Die neonationale Propaganda der anarchistischen Bürgerkriegspoesie, die im reinsten Sinne des Wortes Kriegspoesie war und Aspekte der Sozialen Revolution beispielsweise völlig vernachlässigte, stieß in den Reihen der Anarchisten selbst keineswegs auf einhellige Zustimmung. Wütend schimpfte 1937 in der Zeitschrift Juventud Libre ein anonymer Autor, der seinen Text mit „Iconoclasta“ signierte (ein durchaus gängiges Pseudonym): „Dies ist kein vaterländelnder Krieg/ Dies ist der Krieg der Klassen/ Oder, Kämpfer?“ (21). Im Gegensatz zur Darstellung des Bürgerkrieges als Abwehrkampf fremder Invasoren, als einer Schlacht um die mütterliche Scholle, ist in Gedichten die Rede vom „kleinen Weltkrieg“, einer übernationalen Auseinandersetzung mit dem vorrückenden europäischen Faschismus, die der historischen Wirklichkeit des Krieges deutlich näher kam. Und auch Frauen griffen gelegentlich zur Feder, um sich dichterisch zu betätigen und das Männergehabe ihrer schriftstellernden Genossen anzuprangern – so zum Beispiel Lucía Sánchez Saornil, die Mitbegründerin der Mujeres Libres, in ihrem „Testament Durrutis“.

Die vergessene Literatur

Solange nicht zumindest ein Großteil der anarchistischen Literaturproduktion wissenschaftlich bearbeitet und gewissermaßen „für das Publikum erschlossen“ wird, ist es abwegig, allgemeine Aussagen machen zu wollen. „Semi-professionelle“ Dichter wie Agraz, Pradas und Paredes mögen zu ihrer Zeit einflußreich gewesen sein, vielleicht sogar stilbildend gewirkt haben. Repräsentativ für die Gesamtheit der anarchistischen Poesie des Bürgerkrieges sind sie nicht.

Nach dem Sieg Francos und der blutigen Repression des ersten Nachkriegsjahrzehnts geriet die anarchistische Poesie in Vergessenheit. Das literarische Bild des Spanischen Bürgerkrieges wurde – und wird eigentlich bis heute – dominiert von professionellen Schriftstellern, die allesamt der kommunistischen Partei zumindest nahestanden und schon während des Bürgerkrieges dafür sorgten, daß die volkstümliche libertäre Literatur nicht in den einschlägigen Anthologie auftauchte oder breitere Leserschaft etwa im europäischen Ausland fand. Dichter wie Pablo Neruda, Cesar Vallejo, Miguel Hernández oder Rafael Alberti, der sich selbst als „Sänger des Kommunismus“ bezeichnete und den Antonio Agraz bitter und sarkastisch befehdete, mögen Texte verfaßt haben, die qualitativ turmhoch über den oft unbeholfenen Versen frisch alphabetisierter Arbeiter stehen. Zu den Bemühungen auch und gerade der spanischen Kommunisten jedoch, die nicht zuletzt dank ihnen gescheiterte Soziale Revolution von 1936 vergessen zu machen zählte nicht zuletzt die ungebrochene Dominanz in der künstlerischen Aufarbeitung der Ereignisse.

Die anarchistische Poesie ist ein wichtiger und höchst faszinierender Teil spanischer Kulturgeschichte, gerade wegen ihrer vielen überraschenden und mitunter fragwürdigen Eigenheiten. Es ist an der Zeit, sich diesem literarischen Schatz, der noch immer in den Archiven lagert, zuzuwenden. Nicht nur in Spanien könnte eine Auseinandersetzung mit volkstümlichen künstlerischen Zeugnissen des Bürgerkrieges zu einer lebendigeren Diskussion um die revolutionäre Vergangenheit des Landes führen und, wer weiß, vielleicht eines Tages dafür sorgen, daß man die gelebte Wirklichkeit des Bürgerkrieges nicht weiter hinter Panzerglas verbergen muß.

(1) Die Übersetzungen der folgenden Gedichte und spanischen Quellen stammen allesamt von mir, Joseph Steinbeiß. Ich bitte, mir darob auftretende Fehler oder Unbeholfenheiten zu verzeihen.

(2) Salaun, Serge, Romancero Libertario, Alencon, 1971.

(3) ebenda, S.6.

(4) Schmigalle, Günther: "Anarchistische Lyrik im Spanischen Bürgerkrieg", in: LiLi (Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik), XV, Nr.60, Jahrgang 1985, S.68-94.

(5) Glöckner, Wolfgang Karl, Anarchie und Dichtung, Bamberg, 1989, S.364.

(6) ebenda, S.360.

(7) ebenda, S.358.

(8) Hope: "Excursiones literarias", Acracie, I, 8, Barcelona (August 1886), S.79, in: El Anarquismo Espanol. Sus Tradiciones Culturales, Hrsg. Bert Hofmann, Pere Joan i Tous, Manfred Tietz, Madrid ,1995, S.130.

(9) El Porvenir del Obrero, 127, Mahón (10.1.1903), S.1, in: ebenda.

(10) Vgl. Zavala, Iris M. : "Espejos, reflejos: Anarquismo y literatura", in: ebenda, S.409-421.

(11) Libre Studio, III, 8, Valencia (Januar 1938), S.21, in: ebenda, S.131.

(12) Agraz, Antonio, Romance de la Pluma herida, CNT, Nr.732, 28. Oktober 1937, in: Romancero Libertario, S.89.

(13) Vgl. Görling, Reinhold, Dimanita Cerebral. Politischer Prozeß und ästhetische Praxis im Spanischen Bürgerkrieg (1936-1939), Frankfurt a.M., 1986.

(14) Salaun, Serge, Romancero Libertario, Alencon, 1971, S.30.

(15) Agraz, Antonio, Mater Nostra, CNT, Nr.578, 25.März 1937, in: Romancero Libertario, S.61.

(16) Agraz, Antonio, Pena de Muerte, CNT, Nr.755, 23. November 1937, in: Romancero Libertario, S.95-96.

(17) Agraz, Antonio, El Penultimo, CNT, Nr.962, 18. Juli 1938, in: Romancero Libertario, S.119.

(18) Vgl. Glöckner, Wolfgang Karl, Anarchie und Dichtung, Bamberg, 1989, S.199.

(19) Urales, Frederico: "El arte, el amor y la mujer en el Ateneo de Madrid", La Revista Blanca, VI, Nr.115, 1.4.1903, S.80, in: Anarchie und Dichtung, S.320.

(20) Paredes, Félix, Con el arma al brazo, Fragua Social, Nr.437, 16. Januar 1938, in: Romancero Libertario, S.170.

(21) Iconoclaste, Indignación, Juventud Libre, Nr.64, 13. November 1937, in: Romancero Libertario, S.246.