Freiheit stirbt mit Sicherheit. Handbuch gegen Überwachung und Ausgrenzung. Hg. von JungdemokratInnen/Junge Linke, Karin Kramer Verlag, Berlin 2001, 111 S., 14,90 DM, 8 €.
Big Brother, Gentechnik, elektronische Datensysteme und Verfassungsschutz – vis à vis, soweit das Auge reicht. Kaum ein Lebensbereich, der sich der staatlichen Kontrolle und Überwachung noch entziehen kann. Vater Staat sieht alles, die BürgerInnen schauen weg, private Firmen schnüffeln, und Kontrolle wird zunehmend verinnerlicht. Die fünfzehn AutorInnen dieses Handbuchs blieben jedoch nicht resigniert bei dieser Bestandsaufnahme stehen. Sie fragen kritisch weiter – nach den Ursachen der Verschärfungsspirale von Überwachung und Ausgrenzung. Sie analysieren die Strukturen der aktuellen Sicherheits- und Kriminalitätspolitik. Welche Machtinteressen verbergen sich dahinter? Zumeist sind es auf den ersten Blick undurchschaubare, schleichende Mechanismen, die subtil in die Privatsphäre der BürgerInnen eingreifen. Welche Faktoren, Institutionen oder Personengruppen bewirken diese Bestrebungen?
Erschreckend ist, dass weite Teile der Bevölkerung nicht nur in Deutschland, auch in anderen europäischen Ländern und in den USA die drastisch zunehmenden Maßnahmen der „Verbrechens“-bekämpfung befürworten und im Prinzip das Ausmaß der Freiheitseinschränkungen akzeptieren – zugunsten einer vermeintlich staatlich garantierten Sicherheit.
Verschiedene Beiträge des Handbuches gehen insbesondere der Frage nach, weshalb das Bedürfnis nach Kontrolle sowie „absoluter Sicherheit“, oftmals verbunden mit tief verwurzelter Staatsgläubigkeit, bei weiten Teilen der Bevölkerung in spätkapitalistischen Gesellschaften so stark verinnerlicht ist? Dabei verlieren die AutorInnen die wichtige Frage nach dem potentiellen Widerstand nicht aus dem Auge. Die Diskussionsanregungen hinsichtlich systemverändernder Strategien bilden gewissermaßen den roten Faden aller Beiträge. Um den LeserInnen detailliertere Einblicke zu geben, seien hier zwei in Beiträgen behandelte zentrale Problemkreise aufgezeigt.
„Die gläsernen IsländerInnen“
Der Beitrag „Freilandversuche im Atlantik. Genetische Erfassung der isländischen Bevölkerung“ von Christina Krebs (S. 62-66) thematisiert das Spannungsfeld zwischen wirtschaftlich-staalichen Macht- und Profitinteressen und einem bereit begonnenen organisierten Widerstand aus Teilen der Bevölkerung. In Island müssen die BewohnerInnen nämlich den Verlust ihrer Souveränität fürchten. Denn das „Modell Island“ dient einem neuartigen gentechnologischen Versuch, der angeblich der Erkennung und erfolgreichen Bekämpfung von Erbkrankheiten dienen soll. Vorangetrieben wird das Experiment von der isländischen Firma „DeCode Genetics“, die bestrebt ist, sich die Gesundheitsdaten der 270.000 IsländerInnen zunutze zu machen. Zu diesem Zweck wird das Genom (das ist die Gesamtzahl aller Gene, die der Mensch in seinem Erbgut vereinigt, inclusive der geschlechtsspezifischen Gene) jedes/jeder EinwohnerIn benötigt. Um sich gegen Proteste und Verweigerungen der BürgerInnen vorzeitig abzusichern, verabschiedete das Inselparlament 1998 in Absprache und Zusammenarbeit mit der Firma das „Gesetz zur Datenbank im Gesundheitswesen Nummer 139/1998“ (S. 62). Diese Gesetzesgrundlage sichert der Firma das Recht zum alleinigen Betrieb und Aufbau „einer Datenbank mit medizinischen Informationen“ über jede BürgerIn. „Laut Gesetzestext sicherte sich das Unternehmen auch noch ein Vetorecht der besonderen Art. Sollten isländische WissenschaftlerInnen die Daten benutzen und damit die kommerzielle Monopolstellung“ (S. 63) der Firma gefährden, kann DeCode Genetics den Zugriff auf die wertvollen Datenbankinformationen verwehren. Besonders gravierend ist, dass aufgrund dieses Datenbankgesetzes die einzelnen PatientInnen keine Verfügungsgewalt über ihre eigenen medizinischen Daten haben.
Wie konnte es in einem so genannten demokratischen Inselland zu diesen gesetzlich legitimierten Menschenrechtsverletzungen kommen? Der systematische Aufbau der Gendatenbank Islands begann bereits lange vor 1998 mit der Sammlung von zahlreichen genealogischen Berichten (Stammbäumen) über sämtliche Großfamilien der Insel, „die zum Teil Jahrhunderte zurückreichen und einer großen Gewebebank, in der Autopsieberichte und Gewebeproben seit mehr als 50 Jahren gesammelt“ (S. 62) wurden. Durch die „exzessive Unterstützung einer willigen Regierung sowie ein vollständig ausgebautes Computersystem“ gelang es DeCode Genetics, ein nahezu vollständiges Krankheitsbild über jede/n EinwohnerIn zu entwickeln. Inzwischen hat die Firma bereits die Daten von 600000 IsländerInnen (inclusive der Daten bereits Verstorbener) auf ihrer Datenbank. DeCode Genetics darf außerdem auf die seit 1915 verfassten ÄrztInnenberichte zurück greifen. Tragende finanzielle Unterstützung erhielt die Firma von dem Multi „Hoffmann-La Roche“, der sich mit „200 Millionen Dollar die potentiellen Rechte an einem Teil der Genstrukturen sicherte.“ (S. 62) Nachdem die Kooperation beider Firmen gesichert war, signalisierte Islands Regierungschef, dass eine engere Zusammenarbeit mit dem Parlament nicht weiter problematisch wäre. Und so kam es zum „Gesetz zur Datenbank“ von 1998.
Was geschah seitens der Bevölkerung? Bisher protestierte offensichtlich nur eine kleine Gruppe der insgesamt 900 isländischen ÄrztInnen gegen das Gesetz. Mittels einer Petition versuchte die Gruppe auf „die Einschränkung der Grund- und Freiheitsrechte hinzuweisen.“ (S. 63) Islands ÄrztInnen sind verbeamtet und fürchten eine Entlassung, wenn sie gegen die Gesetzesverpflichtung mit DeCode Genetics angehen. Sie müssen alle Informationen ihrer PatientInnen an die Firma weiterleiten. Sie wissen zudem nicht, was mit den Daten passiert, wie sie verwendet werden. Und es ist ihnen seit 1998 verboten, Aufklärungshinweise gegenüber ihren PatientInnen zu geben. Im Bündnis mit einer anderen Gruppe, „Mannvernd“ (dänisch: Menschenrechte, einem Zusammenschluss der isländischen Assoziation für Ethik in Wissenschaft und Medizin), konnte wenigstens erreicht werden, dass bis März 1999 180 ÄrztInnen öffentlich erklärten, sie würden die Daten nur mit einer schriftlichen Erklärung der PatientInnen weiter reichen. „Mannverd“ und andere Gruppen konnte zwar bisher nicht die Zurücknahme des Gesetzes erzielen, führten jedoch zu einer Verbreiterung von Verweigerungen, insbesondere unter den PatientInnen und weiteren EinwohnerInnen. Speziell Mannverd protestierte auch gegen die Tatsache, dass die Daten der PatientInnen ohne deren explizite Zustimmung zur Verwendung freigegeben werden. Denn DeCode Genetics geht von der prinzipiellen Zustimmung der PatientInnen aus. Mannvernd forderte daher den Standard einer prinzipiellen schriftlichen Einwilligung der PatientInnen; bei jeder Forschungsfrage. Bis zum März 2000 hatten bereits 18000 IsländerInnen die bürokratischen Hürden genommen und ein Verweigerungsformular ausgefüllt. Dies garantiert jedoch keineswegs, dass die jeweiligen Daten der PatientInnen vernichtet werden. „Eine Multiple-Sklerose-Patientin z.B. verlor das Vertrauen in DeCode Genetics und meldete sich bei der Datenkommission, um ihre Blutproben zurückzufordern. ‚Man wollte die Blutproben nicht zurückgeben, sondern aufheben an einem sicheren Ort und mit einem neuen Code versehen.’“ (S. 64)
Diese Vorgänge zeigen, wie schwer es ist, gegen die gentechnische Wirtschaftslobby anzukämpfen. Denn die Regierung Islands und das staatliche Gesundheitswesen arbeiten Hand in Hand gegen die Interessen und die Menschenrechte der Bevölkerung. Jede Person, die/der sich gegen das genetische Datenerfassungssystem entscheidet, hat mit Hindernissen zu kämpfen. Schlimmer noch: sollten die Daten für die Öffentlichkeit zugänglich sein – und das kann leicht passieren -, können beliebig Laborversuche durchgeführt werden, etwa um Forschungspatente zu erzielen. Selektion und Ausgrenzung finden bereits dadurch statt, dass die Krankheitsbilder der einzelnen Menschen datenmäßig erfasst und systematisch typisiert, mit entsprechenden Codes versehen, gespeichert werden. Die Autorin des Beitrags weist auf die Gefahr hin, dass es aufgrund dieser genetischen Datenerfassungssysteme durchaus zur Ausgrenzung spezifischer Personengruppen kommen kann; Menschen können aufgrund ihrer Gendefekte benachteiligt werden. Christina Krebs: „Es gilt also auch, durch Verhinderung des Projektes von DeCode Genetics die Gefahr des Rassismus, bzw. ausgeübter rassistischer Eugenik gegenüber Gruppen mit einer genetischen Disposition zu bekämpfen.“ (S. 65)
Das genetische Forschungsmodell Island gilt bereits als „Vorbild“. Andere Staaten wie z.B. Norwegen, Schottland, England, auch baltische Staaten werden für etwaige ähnliche Projekte in Betracht gezogen. Der Weg zu einer Selektion der Gene mit einer Disposition (bestimmten Anlagen), um ein einheitliches Menschenbild zu erzeugen, wird bereits beschritten. Diese Perspektive ist erschreckend, „und leise sind bisher alle kritischen Stimmen.“ (S. 66)
Verstärkte Prävention durch „Null Toleranz“
Seit einigen Jahren machen in Deutschland die Begriffe „Null Toleranz“ sowie „Broken Windows Theorie“ im herrschenden Diskurs um eine Reform der Kriminalitätspolitik die Runde. Im Kampf gegen das ‚Böse’ steht das so genannte „Modell New York“ Pate, für eine ganz neue Strategie der Polizeiarbeit. „Dieser Reform der Polizeiarbeit liegt die Idee zugrunde, Kriminalität sei abschaffbar, indem man die ‚Kriminellen’ abschaffe. Hinter dem blumigen Namen ‚Politik der Lebensqualität’ steckt jedoch alles andere als das: im Kern handelt es sich um staatlich verordnete Freiheitsberaubung, der sich ein Großteil der Bevölkerung bereitwillig unterwirft.“ (S. 68)
Der Beitrag „Prävention durch Null Toleranz. Die Politik der Repression macht Schule“ (S. 67-76) von Lena Schulz zur Wiesch thematisiert die destruktiven gesellschaftspolitischen Auswirkungen der „Zero Tolerance“-Policy. Besonders gravierend ist, dass diese praktizierten Strategien die Ausschaltung ganzer Bevölkerungsgruppen zur Folge haben. „Ganze Lebensstile werden kriminalisiert“ (S. 70) ohne Rücksicht darauf, dass die Betroffenen zum Teil gar keine Wahl haben, sich anders zu verhalten. Methodik und Ziel der Null Toleranz-Strategie implizieren tatsächlich soziale Säuberung, sie bedeuten „selektive Intoleranz gegenüber den Armen auf der Straße und gegen gewisse Verhaltensweisen der Armen, die als unerwünscht und gefährlich gelten.“ (S. 70) Zum Vergleich: niemand spricht im Zusammenhang mit Steuerhinterziehung oder politischer Korruption von Null Toleranz.
Die Politik der Null Toleranz befestigt ohne Zweifel rassistische Gewaltstrukturen. Presseberichten zufolge nimmt z.B im New Yorker Police Departement das Ausmaß rassistisch motivierter Übergriffe auf Nicht-Weiße zu. Die Berichte schildern den brutalen Umgang mit Unschuldigen, menschenverachtende Dauerverhöre und noch schlimmere Haftbedingungen. „Zwischen 1992 und 1996 stieg die Zahl der Beschwerden, die durch eine Assoziation von Anwälten erfasst werden, um über 60 % an. In drei von vier Fällen sind Opfer Schwarze oder Latinos.“ Von den 15-30jährigen schwarzen Männern sind zwischen 40 und 50 % entweder in Haft, im Gefängnis, auf Bewährung oder werden mit Haftbefehl gesucht; um so genannte Kleinkriminelle „unschädlich zu machen, werden Menschen in den USA regelrecht weggebunkert.“ (alle Zitate S. 70) Vor allem die Wohnviertel von ethnischen Minderheiten, die zudem überdurchschnittlich von Armut betroffen sind, sind in verstärktem Maße Ziele von Polizeikontrollen und rassistischer Willkür. So war es kein Einzelfall, als am 2. Februar 1999 der schwarze Amadou Diallo ermordet wurde. In den vergangenen Jahren starben allein im Wirkungsraum der New Yorker Polizei mehr als 100 Menschen durch die Schüsse aus Dienstwaffen.