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Gewaltfreie Aktionen, Ideenschmiede und Betriebehaus

Zu Besuch im Ökozentrum in Verden

| Jutta Sundermann

November 2001, der Castor-Transport ins Wendland steht an. In der Verdener Umweltwerkstatt geben sich die AtomkraftgegnerInnen die Klinke in die Hand. Das Infotelefon der gewaltfreien Sitzblockade „X-tausendmal quer“ ist rund um die Uhr von mindestens zwei Leuten besetzt. In den Tagen vor dem Transport wird von hier aus die Pressegruppe zusammengetrommelt und manche Telefonkonferenz des Vorbereitungsteams geschaltet. BesucherInnen und HelferInnen kommen aus allen Ecken der Republik wie sie schon vor wenigen Monaten kamen, als im Nachbarbüro drei Reisebusse gen Genua zum Weltwirtschaftsgipfel organisiert wurden. Obwohl Verden nur eine Kleinstadt an der Aller, nicht weit von Bremen, ist, taucht der Name in vielen politischen Zusammenhängen als Kontaktadresse auf. In dem zum Ökozentrum umgebauten ehemaligen Kasernengebäude treffen sich AtomkraftgegnerInnen, GlobalisierungskritikerInnen, Internationalismus-Aktive, Frauenzusammenhänge und viele Gruppen mehr. Attac Deutschland hat hier sein Büro, X-tausendmalquer organisierte bis zum Frühjahr seine gewaltfreien Sitzblockaden gegen Atommülltransporte von Verden aus und kann auf das Infotelefon aus der Verdener Umweltwerkstatt zählen. Die „Restrisiko“ kommt aus Verden in die taz, jedes Mal bevor ein Castor-Transport ansteht. Die Bewegungsstiftung in Gründung hat ebenfalls hier ihren Schreibtisch und Medico international ein kleines Team ehrenamtlicher MitstreiterInnen. Die Kampagne gegen den Krieg „Gewaltspirale durchbrechen“ wurde in Zusammenarbeit mit dem Netzwerk Friedenskooperative ausgeheckt, die Internetseite wird von hier aus betreut.

Vom bundesweiten Jugendumweltnetzwerk zum Projekt in einer norddeutschen Kleinstadt

Die meisten Aktiven rund um das Ökozentrum sind keine VerdenerInnen. Sie zogen aus allen Himmelsrichtungen zusammen in die Kleinstadt an der Aller, um aus ihrer Motivation aus der bundesweiten Jugend-Umweltarbeit langfristiges Engagement zu machen und Leben, Arbeiten und Politik machen zu verbinden. Bis Mitte der 90iger Jahre entstanden viele Wohngemeinschaften in Verden, deren Mitglieder zum großen Teil in Bremen studierten, während sie in der übrigen Zeit an großen Träumen für eine kleine Stadt arbeiteten. Im Laufe der Jahre haben viele Leute dem Projekt wieder den Rücken gekehrt und neue sind hinzugekommen. 1997 konnte nach langen Auseinandersetzungen mit der Stadtverwaltung und Verdens Kommunalpolitik eines der alten Kasernengebäude der Engländerkaserne an der Lindhooper Straße

gekauft werden. Das ehemalige Naafi-Gebäude, der Supermarkt der Soldaten, ist heute voller Leben: Im Ökozentrum befinden sich 13 selbstverwaltete Betriebe, politische Initiativen und eine Wohngruppe – eine bunte Mischung.

Die NutzerInnen haben gemeinsam Statuten entwickelt, die als Grundlage für jeden Neueinstieg und die alltägliche Betriebs- und Initiativenarbeit gelten. In erster Linie ist damit die Selbstverwaltung festgeschrieben, die sowohl innerhalb der Betriebe und Initiativen beherzigt werden muss als auch für das ganze Haus. Außerdem legen die Nutzungsstatuten fest, dass ökologische Standards einzuhalten sind und es ein Solidarprinzip verbunden mit recht weitgehender Transparenz z.B. über Finanzen und Strukturen im ganzen Haus gibt: einmal im Jahr kommen alle Gruppen des Hauses zusammen und legen ihre Finanzberichte vor. Wo es die betriebliche Situation hergibt, ist eine Mieterhöhung angesagt, wo es gerade knapp wird, kann eine Senkung gemeinsam beschlossen und durch die anderen mitgetragen werden.

Vielfalt unter einem Dach

Die Betriebe und Initiativen sind unterschiedlich gestrickt, von der GmbH über die Genossenschaft bis zur GbR und dem Verein sind fast alle gängigen Rechtsformen vertreten. Vom Biobaustoffladen über das Architekturbüro bis zum Ballettstudio und Institut für Mensch und Natur reichen die Betriebe.

Im Kindergarten Grashüpfer spielen und toben jeden Werkstag 11 Kinder, in der Frauenprojektschmiede treffen sich Müttergruppen, Stockkämpferinnen, Theaterspielerinnen, Lesbengruppen, Filmfreundinnen und andere Frauen. Die Umweltwerkstatt beherbergt verschiedene Initiativen, neben Anti-Atomarbeit ist hier die Internet-Redaktion der Kampagne Gewaltspirale durchbrechen zu finden und läuft eine Nord-Süd-Gesundheitskampagne. Die Permakulturgruppe Almende e.V. hat inzwischen ein eigenes Büro und läßt auf einem Acker 4 km von Verden entfernt einen Waldgarten entstehen. Attac ist derzeit Medienliebling, im Ökozentrum belagern die Aktiven des globalisierungskritischen Netzwerkes mehrere Büroräume und oft genug auch alle Treffräume: Versand und Kampagnenplanung, Mitgliederverwaltung und Presse-Arbeit schmeißt eine kleine Gruppe, unterstützt von wechselnden ehrenamtlichen HelferInnen.

Jede Gruppe autonom – und doch eng vernetzt

Die Auftragslage des Biobaustoffladens Biber ist die Sache seiner KollektivistInnen, das Presseecho der Attacis wird von dieser Gruppe bewältigt und ob die große Ballettaufführung gelingt, ist allein die Sorge der Tanzlehrerin. Im Alltag begegnet man sich manchmal über Tage nur kurz am zentralen Fotokopierer oder im Foyer. Wenn jedoch mal wieder der Castor kommt, verschieben „die Biber“ ihre Baustellenplanung, damit viele ins Wendland fahren können. Attacis und Permakulturleute setzten sich mit ans Infotelefon und aus dem Ballettstudio gibt es neben Zuspruch regelmäßig Schokoladenspenden. Auch zum großen Attac-Kongress in Berlin machten sich viele auf, die sonst die Globalisierungskritiker im Haus einfach machen lassen. Der Seminarbereich im Haus wirkt nach innen und außen vernetzend: Die schönen, hellen Tagungsräume werden bei Leerstand auch für Kurztreffen genutzt, ab und zu schlafen Einzel-Gäste der NutzerInnen in den Zimmern, die Medien können verwendet werden. Wenn der Baustoffladen einen Farbenvortrag organisiert oder der Architekt ein Kurzseminar über Baubiologie anbietet, ist der Weg zum Tagungshaus kurz. Das Team des „Forums – Bildungsatelier im Ökozentrum“ hat sich auf sog. „Werkzeugseminare“ spezialisiert und bringt für 2002 erstmals ein eigenes Programm heraus. Attac-Gruppen oder Anti-Atominitiativen kommen ebenso wie Friedens-Gruppen oder andere Initiativen in den Genuss von Presse- oder Internetseminaren, Buchhaltungs-

oder Rhetorikschulungen. Eben alles, was der politische Aktivist und die politische Aktivistin gebrauchen kann. Eine kleine Gruppe seit langem Bewegungs-Aktiver Menschen aus dem Zusammenhang gründet derzeit die

Bewegungsstiftung. Anstatt sich auf zu erwartenden Erbschaften auszuruhen, wollen die Leute von der Bewegungsstiftung ihr Geld – und das weiterer Zustifter – für die Unterstützung sozialer Bewegungen sinnvoll einsetzen und ihre Arbeit und auch Kompetenz in der Geldbeschaffung konsequent über diese Stiftung fortführen.

Orte der Begegnung

Der wichtigste Ort täglichen Austausches ist zur Zeit der Mittagstisch, der für ein Jahr von einem Mitarbeiter im Rahmen eines Arbeit-statt-Sozialhilfe-Programmes für alle lecker und ökologisch zubereitet wird. Gegessen wird in den derzeit leerstehenden Räumen der Gastronomie – jeden Tag gibt es das eine oder andere neue Gesicht, gibt es Neuigkeiten aus den Gruppen und Gespräche zur aktuellen Lage. Bis zum Sommer gab es hier ein Cafe-Kneipe-Restaurant, das auch vom Verdener Publikum gerne besucht wurde. Damit fehlt dem bunten Haus sein zwangloser Treffpunkt, der auch für das „normale Publikum“ von außen attraktiv ist und Menschen mit dem Projekt in Berührung bringt. Im Haus vermissen alle die Kneipe, wo die Tischler und die Politaktivistinnen gemeinsam Tee trinken können, wo am Abend ab und zu ein Konzert stattfindet und Gäste oder HelferInnen gemütliche Pausen machen können. Die Suche nach einer Betreibergruppe wird mit Nachdruck betrieben – BewerberInnen sind herzlich willkommen. Vonseiten des Projektes gibt es gerne Unterstützung für den Start einer neuen Gastronomie.

Kontakt

Weitere Infos:
www.verbunt-netzwerk.de
www.attac-netzwerk.de
www.gewaltspiraledurchbrechen.de
www.x1000malquer.de

Nicht ganz aktuell ist die Seite
www.oekozentrum.org

Aktuelle Infos und das Seminarprogramm des Tagungshauses:
www.oekozentrum.org/forum

Anfragen und Besuche sind gerne gesehen:
umweltwerkstatt@oekozentrum.org

Ökozentrum
Artilleriestr. 6
27283 Verden/Aller
Tel. 04231/957-0
oder -555 Verdener Umweltwerkstatt