Winter in Berlin. Mein erster. Schlimm sind die Tage, die einfach nur grau sind. Morgens auf dem Weg zur U-Bahn klirrt einem eisiger Wind ins Gesicht und die Kälte kriecht grinsend von hinten die Hosenbeine hoch, um sich dann den Rücken hochschleichend in einem Schauer über den ganzen Körper zu verteilen. An diesen grauen Tagen ist morgens die Spitze vom Fernsehturm am Alexanderplatz unter einer ebenso grauen Decke aus Nebel und Wolken verschwunden. Dort ist sie auch noch am Mittag, bleibt bis zum Nachmittag und plötzlich ist es dunkel. Da fühlt man sich verdammt klein.
An so einem Tag kam mit der Post die neue CD von Daddy Longleg und Petrograd. Das heißt, ich musste sie von dort abholen. Dem Postboten war es zu lästig, in den vierten Stock zu laufen, um das Päckchen abzugeben. Also stapfte ich mit der Abholkarte durch das Dunkel des trüben Tages und überlegte mir, bald lange Unterhosen anzuschaffen, obwohl ich die Dinger hasse wie die Pest.
Endlich zu Hause packte ich die CD aus, klappte sie auf, und von der Scheibe strahlten mir die schönsten Sonnenblumen entgegen. Orangegelb stehen sie vor einem blauen Himmel in der Abendsonne. Da habe ich mich ganz kurz wie im Sommer gefühlt.
Ebenso herzerwärmend ist die Musik. Daddy Longleg spielen soliden, gradlinigen Punkrock wie er anders nicht sein sollte und haben ein Lied von der Crust-Band World Chaos gestohlen. Die Postpunker von Petrograd haben einen unverkennbaren Stil. Die Luxemburger machen melodischen Poppunkrock, geprägt von vielen Geschwindigkeitsvariationen und dem abwechselnden Gesang von Sängerin und Sänger. Leider sind die neun Stücke der beiden Bands nur gute fünfundzwanzig Minuten lang.
Etwas besonders Schönes sind die Texte. „Todo para todos!“ ist der Titel der CD: Alles für alle! Daddy Longleg und Petrograd greifen diese Forderung in ihren Liedern zwar nicht direkt auf, setzen sich aber kritisch mit den Institutionen auseinander, die zugunsten des eigenen Profits eine freie und gerechte Weltordnung verhindern: Weltbank, multinationale Konzerne, WTO, G7, Überwachungsstaaten. Und trotz der scheinbaren All- und Übermacht der Gegner geben sich die Bands kämpferisch – Seattle, Göteborg und Genua im Hinterkopf.
Aber es wird nicht nur über Politik gesungen, sondern auch über Freundschaft und zwischenmenschliche Beziehungen. Oder darüber, dass diese Dinge in Zeiten, in denen es aufgrund der Geschehnisse auf der Welt immer weniger zu lachen gibt, immer wichtiger werden. Das schönste Lied auf der Platte ist Petrograds „Next exit… wonderland“. Da zeigen die LuxemburgerInnen – wie auf anderen Platten zuvor auch -, dass es sich nicht ausschließt, Punkrock zu spielen und Märchen zu erzählen. Mit freigeküssten Fröschen oder erwachten Prinzessinnen enden diese Geschichten allerdings nicht. Auch wenn aus manchen Songs von Daddy Longleg und Petrograd eine vom Leben gemachte Melancholie spricht, sind sie dennoch motivierend. Denn eins wird nicht vergessen – und jetzt kommt ein in letzter Zeit vielzitierter Slogan – : Eine andere Welt ist möglich. Trotz langer Unterhosen.
Petrograd: Dear log
You call me a terrorist while you load your gun
You suppose resistance is a synonym for violence
You’re the one who’s watching me wherever I may go
You go out and tell the world it’s all about security
You’re the one who gave me numbers, rapes my personality
You’re the one who pulls the trigger, a minor majority!
This is not monopoly – get your asses out of here!
You’re the one who puts the fire, holds water hoses on demonstrators
You’re the one who steals resources, sells it as democracy
You’re the one who breeds fascism, substitutes of the bourgeoisie!
You’re the one who puts the pressure, the legal arm of hypocrisy.
Petrograd: Liebes Tagebuch
Ihr nennt mich einen Terroristen, während ihr die Pistolen ladet
Ihr nehmt an, Widerstand ist ein Synonym für Gewalt
Ihr seid die, die jeden meiner Schritte beobachten
Ihr erzählt, dass sich in dieser Welt alles um Sicherheit dreht
Ihr habt mich zu einer Nummer gemacht, meine Persönlichkeit vergewaltigt
Ihr, eine kleine Mehrheit, drückt den Abzug!
Hier geht’s nicht um Monopoly – schafft eure Ärsche weg von hier!
Ihr legt das Feuer, ihr zielt mit Wasserwerfern auf Demonstranten
Ihr stehlt die Ressourcen und verkauft es uns als Demokratie
Ihr züchtet den Faschismus, einen Ersatz für die Bourgeoisie!
Ihr erzeugt den Druck, den legalen Arm der Heuchelei.