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Die Eurasien-Strategie der USA und die Türkei

Der Aufstieg der neuen militaristischen Welle

| Serdar Şen

Das neue Jahrhundert hat entgegen einiger Erwartungen mit einem grossen Durcheinander angefangen. Der Propaganda der Ausrufer des Endes der Ideologien und der Geschichte nach, befand sich nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion eine monozentrierte Welt im Gründungsprozess und eine konfliktärmere – wenn auch nicht demokratischere – Ära bahnte sich an. Doch in kürzester Zeit stellte sich heraus, dass dies nichts mehr als ungereifte Träume waren. Im Gegenteil; die militaristische Welle hat die Welt von einem Ende zum anderen überflutet.

Auch in der Türkei gewann durch die Erstarkung der Opposition nach dem Putsch vom 12. September 1980 die Erwartung einer sich entwickelnden Zivilgesellschaft und einer Schwächung des Unterbaus, welcher militaristische Lösungsansätze favorisierte, an Gewicht. Doch es kam zu entgegengesetzten Entwicklungen, und vor Ende des 20. Jahrhunderts ist die Armee – wenn auch in einem anderen Stil – wieder als politischer Akteur aufgetreten um eine Überbrückung von Spannungen und Verstopfungen zu ermöglichen. Und der Intervention, die als „Entschlüsse des Nationalen Sicherheitsrates vom 28. Februar 1997“ (1)  bekannt ist, wurde von der Gesellschaft und vielen Institutionen unübersehbare Unterstüztung entgegengebracht. Kurz darauf trat eine weitere Wahrheit ans Tageslicht; die Türkei sollte als ein Akteur der US-amerikanischen Eurasien-Strategie agieren und neben ökonomischer und ideologischer Einwirkung wichtige Aufgaben im militärischen Bereich übernehmen. So kam es, dass die Armee, die seit Gründung der Republik die introvertive Funktion „das Regime zu beschützen” innehat, nun zum ersten Mal Teil einer umfangreichen Aktivität über die Landesgrenzen hinaus werden soll. Unter Einfluss interner und weltweiter Dynamiken ist die Türkei im Vergleich zu anderen Ländern, militärischer Politik sehr viel stärker zugewandt.

Der Aufstieg der neuen militaristischen Politik hat weder mit dem Angriff vom 11. September, noch mit dem Krieg gegen Afghanistan angefangen. Diese beiden Ereignisse haben lediglich gezeigt, dass der nicht mehr allzu neue Prozess eine neue Stufe erreicht hat. Die Darlegung dieses Prozesses sollte erläutern, warum die Welt in Windeseile in den Sumpf militaristischer Politik abdriftet. Die neoliberale Politik, die das letzte Quartal des letzten Jahrhunderts bestimmte, bedeutete einen Abschied von Keynes, also die Aufgabe des Sozialstaatprinzips und die Herabsetzung öffentlicher Ausgaben. Obwohl nach Zusammenbruch der bipolaren Welt die USA in den Vordergrund traten, kam aufgrund neuer Strategien und der Existenz von Zentren, die weltweit wirksam sein könnten, eine Stabilisation nicht zustande. Daher konnte für die Kräfte am Ruder weder innerhalb der nationalen Ökonomien, noch global, keynesianische Politik zum Abbau des Mehrwerts wünschenswert sein. Stattdessen bevorzugten sie die Verschleißung des Mehrwerts durch Aufrüstung. Auf diese Weise sollte die Vorbereitung für die unumgänglich konfliktive Phase, die auf diese neue Strategie zu folgen hatte, vervollständigt und zudem Kontrolle über die Verschleissmethode des Mehrwerts der als entgegengesetzt definierten Länder gewonnen werden.

Die USA verfechten die These, dass Energie-Kriege Politik und Beziehungen des 21. Jahrhunderts bestimmen werden. In diesem Kontext wurde Eurasien ein besonderer Stellenwert beigemessen. Bis vor kurzem haben die USA sich an die Notwendigkeiten der ersten Phase ihrer Eurasien-Strategie gehalten, die unter Berücksichtigung der Faktoren EU, Russland und China keinen Konflikt vorhersah. Während Russland durch Putin Interesse in der Region und die Absicht eine aktive Politik zu verfolgen zu Verstehen gab, signalisierten die USA nach der Wahl von George W. Bush den Übergang zu einer neuen Phase der Eurasien-Strategie. Der Afghanistan-Krieg und die Bemühungen die Region unter dem Schlagwort eines „Kriegs gegen Terror” einzuschüchtern, bedeuten nun den Startschuss dieses Übergangs in die konfliktive Phase.

Oben versuchten wir kurz zusammen zu fassen, dass die systematische Eskalation militaristischer Politik dem Wunsch, die Region und die Länder/Faktoren, die in diesem Prozess eine Rolle spielen, zu kontrollieren, entspringt. In der nächsten Zukunft sind innerhalb dieser konfliktiven Phase verschiedene Stufen und eine weitere Eskalation zu erwarten.

Ausser den gegebenen Folgen der geographischen Zugehörigkeit hat die Türkei ihr Interesse an der Region und die USA als ihren Alliierten offen bekundet und sich somit von vornherein vorgenommen im Einklang mit der Eurasien-Strategie zu handeln. Die Vorbereitung auf die konfliktive Phase, welche eine Dominanz militaristischer Politik bedeutet, und die Auswirkungen auf die Innenpolitik waren seit einiger Zeit offen zu beobachten. Während die militärische Vorbereitung bis in die Mitte der 80iger Jahre zurückgeht, traten in den letzten Jahren neue Schritte zur Professionalisierung der Armee und Modernisierung des Waffenbestands in den Vordergrund. Ausserdem ist besonders auffällig, dass Soldaten mancher Länder der Region in der Türkei ausgebildet werden, die Türkei die Reorganisierung der entsprechenden Armeen unterstützt und die türkischen Streitkräfte bemüht sind, militärische Erfahrung in Auslandseinsätzen zu erwerben.

Die Gründe für eine militaristische Eskalation in der Türkei können nicht nur mit der Eurasien-Strategie und äusserlichen Einwirkungen erklärt werden. Im Gegenteil gibt es eine Reihe von internen Dynamiken, die diesen Prozess speisen. Drei Krisen, die nicht zeitgleich angefangen haben, haben direkten Einfluss auf die Entwicklungen im Land. Dies sind die Regime-Krise, die ökonomische Krise (die sich mit der globalen ökonomischen Krise mit der Zeit vertieft hat) und die Krise der politischen Vertretung, welche die Summe und mehr als die Summe der Folgen dieser beiden Krisen ist. Die Regime-Krise ist verbunden mit dem Bedürfnis, die im Spannungsfeld der Moderne und der Tradition geformte Positionierung der gesellschaftlichen Beziehungen und Institutionen grundlegend zu überwinden.

Trotz langanhaltender Transformationswehen konnten noch keine Ergebnise erreicht werden. Andererseits ist das Bündnis zwischen den Kapitalmächten, die die ökonomischen Beschlüsse von 1980 (2)  und den Militärputsch kräftig unterstützt haben, aufgrund objektiver Umstände mit der Zeit zerbrochen. Die ökonomische Krise hat den Spalt im „Kapital” vertieft. Seit Mitte der 90er die Spannung zwischen den Kapital-Gruppen offensichtlich wurde, sind nur wenige Jahre vergangen und der Konflikt ist nun voll im Gange. Krisen in verschiedenen Regionen der Welt haben die Position der einzelnen Kapital-Gruppen im Land zusätzlich beeinflusst. Schritte zur Bildung der neuen globalen Kräfteverhältnise zwischen den Kapital-Gruppen, die mit dem Weltmarkt durch unterschiedliche Kanäle verbunden sind, haben zu Spannungen und Konflikten geführt. In der Türkei hält seit langem der Kampf zur Neubildung der Klassenhierarchie an – der Kampf zwischen den verschiedenen Kapital-Gruppen stellt darin eine weitere Komponente dar. Der Aufbau der gesellschaftlichen Hierarchie über den Konflikt zwischen Tradition und Moderne ist nicht mehr möglich. Verschiedene Dynamiken, die oben aufgezählt wurden, haben direkten Einfluss auf diesen Prozess. Das Band der politischen Objekte zu den Massen ist gerissen und sie haben ihre Repräsentationskraft verloren. Dies ist ein weitererGrund, warum die Klassenhierarchie über gewöhnliche Wege nicht gegründet werden kann und ausserordentliche Lösungsansätze die Tagesordnung erneut mit ganzem Gewicht besetzt haben. Die Entschlüsse des Nationalen Staatssicherheitsrates vom 28. Februar 1997 stellen in diesem Prozess eine wichtige Intervention dar und beweisen, dass militärische Lösungen weiterhin gültig sind. Die Angewohnheit der oppositionellen Kräfte über veraltete Spannungsfelder und Beziehungsrahmen zu analysieren, erschwert leider die Wahrnehmung der Schritte der Machthaber und eine Kalkulation der Folgen.

Die Bürokratie, die sowohl zur Gründungszeit des Regimes als auch später eine der einflussreichsten Kräfte darstellt(e), wurde von den Entwicklungen ebenfalls beeinflusst und bemühte sich ihren eigenen Weg als stärkste Alternative für das Land durchzusetzen. Die wichtigsten Hinweise finden sich in den Diskussion um die EU-Mitgliedschaft. Eine Mitgliedschaft in der EU würde die Position der Bürokratie schwächen. Die Wahl der US-amerikanischen Eurasien-Strategie, welche eine neu definierte wirksame Position verspricht, ist mit dieser Situation eng verbunden.

Sowohl die ausserordentlichen Bedingungen im Land, als auch die internationalen Entwicklungen führen für die Türkei zur grundlegenden Wahl von militaristischer Politik als Wegweiser für die Zukunft. Dieser Prozess findet unter Kontrolle der Bürokratie und einem nicht zu unterschätzendem Teil des Kapitals statt. Die Kraft und Aufrichtigkeit der Teile des Kapitals, die für eine Demokratisierung plädieren und eine EU-Mitgliedschaft als wünschenswert ansehen, steht ernsthaft zur Debatte. Den restlichen gesellschaftlichen Kreisen ist aus verschiedenen Gründen die Möglichkeit, gegen die Entwicklungen zu opponieren oder wirksam zu werden, verwehrt. Unter Berücksichtigung der inneren und äusseren Dynamiken sind in der Politik der machthabenden Kreise auch in näherer Zukunft keine ernsthaften Wechsel zu erwarten.

(1) Sichtbare Folge der Entschlüsse des Nationalen Sicherheitsrates vom 28. Februar 1997 war der Sturz der islamistischen Erbakan-Regierung im Sommer 1997. Darüber hinaus funktionalisierte "der 28. Februar” die Polarisierung zwischen LaizistInnen und IslamistInnen und schuff der Armee durch das Projekt einer kemalistischen Restauration des Regimes eine neue Legitimationsbasis. (Anm. d. Übersetzers)

(2) Die Beschlüsse vom 24. Januar 1980 zur Liberalisierung der türkischen Wirtschaft (z.B. Devaluation, Liberalisierung der Zinsen-, Devisen- und Importbestimmungen, Abbau der Subventionen, ...). Ökonomischen Erklärungsansätzen nach ist der Entschluss zur rigorosen Durchsetzung dieser Beschlüsse einer der Hauptgründe für den Militärputsch vom 12. September 1980. (Anm. d. Übersetzers)