Einstieg
Im August 1997 hat eine fast ausschliesslich kurdische Gruppe in den Niederlanden „Askere Gitme!“ gegründet. Nach einer Anti-Kriegsversammlung, in der ein türkischer Kriegsdienstverweigerer, Aziz Koþgin, die TeilnehmerInnen adressierte, haben sich einige kurdische Kriegsdienstverweigerer mit der Bitte um Unterstüztung im Aufbau einer Organisation an niederländische AntimilitaristInnen gewandt. Sie gründeten die Gruppe in Den Haag, wo eine grosse kurdische Gemeinschaft von hauptsächlich unqualifizierten ArbeiterInnen lebt, die z.T. keinen legalen Status haben. Askere Gitme! erhebt zwei Forderungen: Das Recht auf KDV in der Türkei und politisches Asyl für KDVer in den Niederlanden. Ein kurzer Rückblick.
Antimilitarismus unter Einwanderern aus der Türkei
Seit fast 40 Jahren kommen türkische StaatsbürgerInnen in die Niederlande um zu arbeiten und zu leben. Die erste Gruppe von ArbeiterInnen kam Mitte der 60er Jahre mit einem einzigen Ziel: zu arbeiten. Doch in den 70ern und hauptsächlich während den 80ern kamen viele politische AktivistInnen, um der harten Repression des türkischen Staates zu entgehen.
Sie opponierten gegen den militaristischen türkischen Staat ohne ihre Kritik je spezifisch gegen das Militär zu richten. Ebenso wenig kritisierten sie den Konter-Militarismus der Linken. Aktionen der massiven Verweigerung der Zusammenarbeit, wie z.B. KDV waren kein Thema für sie.
Ende der 80er und besonders während den 90ern stellte sich heraus, dass die in den 60ern eingewanderten TürkInnen gar keine TürkInnen, sondern KurdInnen waren. Unter den politischen MigrantInnen bildete sich ebenfalls ein starkes kurdischnationalistisches Selbstverständnis. Diese Pro-PKK-Einstellung war als solche nicht antimilitaristisch. Diese AktivistInnen kritisierten den (Militarismus des) türkischen Staat(es), aber versuchten nicht eine wirklich antimilitaristische Perspektive für sich selbst zu eröffnen. KDV war für sie zu individualistisch oder nach geläufigem Code de Lenin ausgedrückt, kleinbürgerlich.
Doch Realität war, dass Hunderttausende von hauptsächlich kurdischen Wehrpflichtigen vor dem türkischen Militär flüchteten. Manche traten in die PKK-Armee ein, andere suchten nach allen nur erdenklichen Fluchtmöglichkeiten innerhalb der Türkei und wieder andere flüchteten ins Ausland. Sie kümmerten sich nicht um leninistische Feinheiten, sondern mussten ihren eigenen politischen Weg beschreiten.
Unterschriften
In dieser politischen Umgebung versuchte Askere Gitme! in den Niederlanden einen Anfang zu machen. Askere Gitme! präsentierte sich der Öffentlichkeit zuerst mit einer Petition, die ihre beiden Forderungen beinhaltete. Unterschriftenlisten wurden in allen möglichen Friedenszeitschriften abgedruckt und Leute wurden auf Marktplätzen in Den Haag für eine Unterschrift angefragt.
In Kürze waren 2000 Unterschriften gesammelt und wurden der Türkischen Botschaft und dem Niederländischen Parlament übergeben. Die Zahl der Unterschriften war nicht riesig, doch ausreichend um zu belegen, dass innerhalb der kurdischen und türkischen Bevölkerung und der niederländischen Friedensbewegung eine bestimmte Unterstützungsbasis gegeben ist.
Die Türkische Botschaft weigerte sich (natürlich) die Petition entgegen zu nehmen. Eine Grosszahl von Polizisten wurden mobilisiert und eine Kamera der Botschaft filmte jede unserer Bewegungen am 15. Mai 1998, als Askere Gitme! ihre Erklärung vor der Botschaft verlas.
Beweise, dass Du Kurde bist
Zur selben Zeit fand in Den Haag ein wichtiger Prozess von sechs kurdischen KDVern statt. Sie unterstrichen, dass sie Kurden sind und nicht gewillt seien der türkischen Armee beizutreten. Manche nicht, weil sie garkeiner Armee beitreten wollen, andere wegen den Greueltaten an der kurdischen Bevölkerung, zu denen türkische Soldaten gezwungen wurden.
Da die Verteidigung des niederländischen Staates zu dem Zeitpunkt nicht sehr viel mehr war, als die Übersetzung der offiziellen türkischen Aussagen, war es für gute AnwältInnen eher einfach jede Art von Beweisen und Dokumenten zu Menschenrechtsverletzungen in der Türkei glaubhaft vorzubringen. Dies geschah mit Hilfe einer Freundin vom ISKD (Verein der KriegsgegnerInnen Izmir), die vor Gericht über die organisatorische Struktur der Wehrpflicht in der Türkei und den Einsatz von kurdischen Wehrpflichtigen gegen die kurdische Bevölkerung aussagte.
So entschied das Gericht, dass Kurden nicht gezwungen werden können, gegen ihre eigenen Menschen zu kämpfen und es daher erforderlich ist festzustellen, wer denn wirklich Kurde ist.
Weiter wurde eine umfangreiche Recherche über Menschenrechtsverletzungen in der Türkischen Armee angefordert.
Ein staatliches Komitee sollte entscheiden, ob ein kurdischer KDVer wirklich ein Kurde war. Und so kam es zu surrealistischen Unterhaltungen, als niederländische Beamte eine Art Test durchführten um eben dies zu beweisen. Als Zeuge einiger dieser Unterhaltungen kam ich mir eher vor als befände ich mich in Absurdistan, statt in den Niederlanden. Nur wenige der kurdischen KDVer erhielten Asyl.
Doch der niederländische Staat versuchte dieses Loch im System zu stopfen, denn er fürchtete „grosse Zahlen“ von neuen Asylbewerbern. Einige KDVer zu akzeptieren stellt für die Niederlande kein Problem dar, doch eine grosse Zahl von Kurden, die als KDVer einreisen wird als eine Katastrophe angesehen.
Aksoy und Çiçek
1999 starben drei kurdische Männer, die versucht hatten in den Niederlanden Asyl zu erlangen. Sie weigerten sich die Wehrpflicht zu erfüllen. Süleyman Aksoy, Savaþ Çiçek und ein Dritter, dessen Familie nach seinem Tod bevorzug zu schweigen, wurden aus den Niederlanden in die Türkei abgeschoben. Kurz nachdem sie rekrutiert wurden starben sie. Selbstmord sagt die Türkei, Mord ist unsere Annahme.
Nachdem dies im August öffentlich wurde, verhängten die niederländischen Behörden einen Abschiebestopp in die Türkei. Im Dezember ’99, zwei Tage bevor die Türkei als EU-Kandidat akzeptiert wurde, entschloss sich die niederländische Regierung, KurdInnen wieder abzuschieben. Mehr noch, sie erklärten Menschenrechtsorganisationen hätten auf Anfrage bestätigt, dass Aksoy Selbstmord begangen habe.
Das konnten wir nicht glauben und kontaktierten die angesehenen Menschenrechtsorganisationen. Es stellte sich heraus, dass die niederländische Regierung sich auf eine falsche Behauptung stützte. Für IHD und TIHV war es unmöglich zu wissen, was in den Kasernen wirklich vor sich ging.
Darauf luden wir die Väter von Aksoy und Çiçek ein, um sie in den Niederlanden zu Wort kommen zu lassen. Das Resultat dieses Besuchs war durchaus wichtig. Das Parlament eröffnete eine neue Untersuchung über den Todesgrund Savaþ Çiçeks. Doch der/die LeserIn kann sich vorstellen, dass es zwei Jahre dauerte, bevor diese Untersuchung zu einem Ende kam. Askere Gitme! musste sich wiederholt für einen Bericht einsetzen. Am 15. Mai 2001 machten wir eine Aktion im Parlament, bei der wir T-Shirts mit der Frage „Was geschah mit Savaþ Çiçek?“ anzogen. Wir sassen in der Gästeloge und die Sitzung musste unterbrochen werden, bis wir heraus gebracht wurden.
Im September machten wir mit der selben Frage eine „Selbst-Einlad-Aktion“ beim Justizministerium: Wir wollten kommen um den Bericht zu Savaþs Tod abzuholen. Nur ein paar Tage vor unserer versprochenen Aktion wurde ein geheimer Bericht veröffentlicht. Bei unserer Selbst-Einladung (wir wurden herein gelassen, bekamen aber keinen Tee oder Kaffee, schliesslich hatten wir uns ja selbst eingeladen. Nächstes Mal bringen wir unseren Kaffee selbst mit) konnten wir diesen Bericht den Zivis zeigen, denn wir hatten ihn in die Hände gespielt bekommen.
Der Bericht gab zu, dass der niederländische Staat nicht wusste, was Savaþ Çiçek widerfahren war. Eine Schande natürlich. Das Problem war, dass die Mehrheit des niederländischen Parlaments dieses Resultat akzeptierte. Es änderte sich also nichts, ausser dass das Thema (kurdischer) KDVer aus der Türkei öffentlich bekannter wurde.
Mustafa Polat
Am gleichen Tag erfuhr Mustafa Polat, dass er abgeschoben werden soll. Mustafa Polat ist einer der Gründer von Askere Gitme!
Mustafa hatte die Türkei schon 1989 verlassen, gleich nachdem er seine Einberufung bekommen hatte. Er lebt seit zwölf Jahren in den Niederlanden, hat drei Kinder, von denen zwei hier geboren wurden.
Er sollte das Land am 4. Januar 2002 verlassen. Askere Gitme! hat neue Aktionen gestartet, um ihm und seiner Familie zu helfen. Wir hoffen in der nächsten Ausgabe von Otkökü über seine Situation und die Aktionen von Askere Gitme! zu berichten.
Grosse Zahlen
Askere Gitme! hat nie recherchiert wieviel Kurden im weitesten Sinne KDVer (Deserteure, Wehrflüchtige, Pazifisten, etc.) sind, doch wahrscheinlich sind die Befürchtungen des niederländischen Staates berechtigt. Nur wenige sind bereit der Türkischen Armee zu dienen. KDVern Asyl zu gewähren würde die Niederlande also mit zwei Problemen konfrontieren: eine grosse Zahl von Asylbewerbern und ein Konflikt mit dem türkischen Staat.
Um diesen Phänomenen zu entgehen begannen die Niederlande das türkische Wehrpflichtssystem und seine Anwendung zu studieren und erstellen seit 1998 jährliche Berichte.
In diesen Berichten, die von Zivis des Aussenministeriums vorbereitet werden, wird die Situation eher realistisch wiedergegeben, doch in den Schlussfolgerungen heisst es jedesmal es gäbe Fortschritte in der Menschenrechtssituation und keine aktuellen Berichte über ernsthafte Vorfälle. Daher bestehe kein Grund zur Sorge um kurdische KDVer und es spräche nichts dagegen sie in die Türkei abzuschieben.
Um die Arbeit von Askere Gitme! zu unterstützen ist es wichtig an präzise Informationen zur Menschenrechtssituation innerhalb der Türkischen Streitkräfte zu gelangen. Mit verlässlichen Berichten können wir Druck auf die niederländische Aussenpolitik ausüben – und wahrscheinlich auch auf andere europäische Länder.
(1) Askere Gitme: Geh nicht zur Armee!
Kontakt
Askere Gitme!
Houtzagerssingel 30
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Niederlande
Tel.: +070 - 384 04 54
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