Der EU-Gipfel in Barcelona vom 15. bis 16. März war begleitet von einer Vielzahl von Straßenaktionen, Diskussionsrunden und Demonstrationen. Am 16. März demonstrierten laut Polizeiangaben eine viertel Million Menschen von der Plaza Cataluña zum Kolumbus-Denkmal am Hafen. Die Innenstadt war voller DemonstrantInnen. Laut Angaben der Veranstalter, der „Kampagne gegen das Europa des Kapitals“, lag die TeilnehmerInnenzahl bei einer halben Million Menschen.
Den letztendlich erlaubten Protesten war eine monatelange Kriminalisierungskampagne seitens der spanischen Regierung vorangegangen. So wurde Ende Januar ein internes Rundschreiben des Innenministers Mariano Rajoy an die Polizei in der Zeitung El Mundo lanciert, in dem nicht nur eine Gefahr von Anschlägen der ETA während des Gipfels behauptet wurde – auch Attentate von anarchistischen Gruppen auf Polizisten wurden als reale Gefahr dargestellt. Außerdem wurde vor 4.000 gewaltbereiten Globalisierungsgegnern gewarnt, die zum Gipfel anreisen wollten. Zusammengenommen mit dem Gerede von möglichen neuen Terroranschlägen im Gefolge des 11. September ergab sich so ein umfassendes Bedrohungsszenario für die Chefs der EU-Staaten und ihr Gefolge, mit dem ein in Barcelona beispielloser Polizeiaufmarsch legitimiert werden sollte. Und der Einsatz der Armee gegen Bedrohungen aus dem Wasser, der Luft und vom Land.
Vier F-18-Abfangjäger wurden auf den zivilen Flughafen Barcelona verlegt, dazu zwei kleinere C-101-Jagdflugzeuge. Ein AWACS-Aufklärungsflugzeug kreiste die ganze Zeit über Barcelona, während Luftabwehrraketen in ständiger Bereitschaft waren. Vor dem Hafen kreuzte die Korvette ‚Vencedora‘ begleitet von zwei Patrouillenbooten.
Daneben war ein großes Polizeiaufgebot in Barcelona unterwegs: Die Polizeidichte von 8.500 in Bereitschaft stehenden Einheiten der Nationalpolizei, der paramilitärischen Guardia Civil, der katalanischen Mossos d’Esquadra und der städtischen Polizei war größer als bei den Olympischen Spielen 1992 in Barcelona. Dazu Räumpanzer, Wasserwerfer und Wannen in großer Zahl.
Die konservative spanische Regierung unter José María Aznar hat 2500 Polizisten sechs Monate lang speziell für den Einsatz gegen militante DemonstrantInnen trainieren lassen. Parallel fand in Barcelona eine massive Kriminalisierung vonZentren linksradikaler Politik statt: Besetzte Häuser wurden geräumt, einige bekannte AktivistInnen verhaftet unter dem Vorwand, sie seien Mitglieder von ETA. Am 13. Februar legte die spanische Regierung in der EU-Koordinationsgruppe gegen Terrorismus ein Konzept zur europaweiten Kriminalisierung aktiver GlobalisierungsgegnerInnen vor, wie die spanische Zeitung El País unmittelbar vor dem EU-Gipfel am 13. März berichtete: Gefordert wird darin eine Datenbank „für den Austausch von Informationen über Verbindungen zwischen radikalen gewalttätigen Gruppen mit terroristischen Gruppen“. Das klingt erstmal wie ein weiterer Schritt zur Illegalisierung baskisch-linksnationaler Organisationen, denen Verbindungen zu ETA vorgeworfen werden. Der Vorschlag geht darüber noch hinaus: Die spanische Regierung schlägt vor, ihre Sichtweise, wonach radikale antistaatliche Gruppen im Baskenland im Verbund mit Terroristen stehen, auszudehnen auf die ganze EU, wie sie selbst schreiben. Es gehe „um ein sehr nützliches Instrument für die Prävention und Verfolgung der gewalttätigen urbanen Jugendradikalität“. Laut der spanischen Regierung hätten die Mitgliedstaaten „eine graduelle
Steigerung der Gewalt und der kriminellen Sachbeschädigung, ausgelöst von radikalen extremistischen Gruppen, bei verschiedenen Treffen der EU erlebt, wodurch die Gesellschaft eindeutig terrorisiert wird“.
Einschränkend heißt es weiter: „Es geht nicht um Personen, die ihr Demonstrationsrecht ausüben … nur um Elemente, die sich in perfekt organisierten Gruppen zusammenfinden, dirigiert von terroristischen Organisationen, um ihre Ziele der Destabilisierung und Propaganda zu erreichen.“ Bis jetzt werden nur in Spanien und Italien linksradikale Zusammenhänge unter dem Vorwand, sich angeblich terroristisch betätigt zu haben, verfolgt.
Bereits auf der 1.Europäischen Konferenz über Terrorismus in Madrid im Januar 2001 sagte der damalige spanische Innenminister, Jaime Mayor Oreja: „Terrorismus besteht nicht nur in Form von aktiven Gruppen von Kommandoeinheiten, er ist auch ein Projekt, das versucht, Wurzeln in der Gesellschaft zu fassen. Um ihn zu bekämpfen, ist es auch notwendig, gegen die sozialen, ökonomischen, politischen und kommunikativen Strukturen zu kämpfen, die ihn nähren und unterstützen.“ Falls sich Spanien mit dem Vorschlag einer Datenbank für militante Jugendliche durchsetzt, könnte es mehr Leuten so ergehen wie dem Sänger der Barceloneser Punkband KOP, Juan Ramón Rodríguez Fernández, der seit über zwei Monaten in Holland im Gefängnis sitzt.
Auch die Reisebeschränkungen für GlobalisierungsgegnerInnen könnten dann ausgeweitet werden. Wie letztes Jahr Italien vor dem G7-Gipfel in Genua, setzte auch Spanien eine Woche vor dem Gipfel das Schengener Abkommen aus. Die Guardia Civil kontrollierte selbst an kleinen Grenzübergängen in den Pyrenäen und in den Zügen. An dem großen Grenzübergang La Jonquera bei Girona wurden bereits Tage vor dem Gipfel 200 mutmaßlichen militanten Globalisierungsgegnern die Einreise nach Spanien untersagt, die daraufhin aus Protest zeitweilig die Autobahn an der Grenze blockierten. Am 16. März wurden dort Dutzende von Reisebussen aufgehalten, die zur Demonstration nach Barcelona wollten.
Erst um 18 Uhr, als die Demo bereits begann, durften sie nach langem Hin und Her einreisen. Die Polizei erklärte, unter ihnen würden sich „gewalttätige Elemente“ befinden, von denen sich einige auf Listen von Interpol befinden würden, weil sie bei früheren Gipfeln verhaftet worden wären. Hier wurde deutlich, wofür Spanien eine umfassende Datenbank vermeintlich militanter Globalisierungsgegner anlegen möchte. Eintausend Leute, die nicht mehr an eine spätere Einreisemöglichkeit glaubten, kehrten um und demonstrierten in der nahegelegenen französischen Stadt Pergignan „gegen das Europa des Kapitals“ und für ihre Reisefreiheit. Eine Folge der peniblen Grenzkontrollen war auch, das in La Jonquera Mitte März über 1.500 MigrantInnen an der Grenze abgewiesen wurden, die keine gültigen Papiere hatten.
In Barcelona selbst war die Polizeipräsenz derart massiv, dass die dezentralen Aktionen, welche am ersten Gipfeltag stattfanden, unter ständiger Observation standen. Am 15. März gab es dabei mindestens 26 Festnahmen. Sechs Leute wurden verhaftet, weil sie an einer Aktion der baskischen Organisation Zuzen (Recht) teilnahmen: Sie hatten mitten auf der Avenida Diagonal einen Unfall nachgestellt, wofür sie ein dort abgestelltes Auto umkippten. Bei dem Unfall waren Angehörige eines politischen Gefangenen aus der ETA gestorben. Dafür macht nicht nur Zuzen die spanische Gefängnispolitik verantwortlich, weil die Gefangenen Etarras zum Teil weit entfernt von ihren Angehörigen einsitzen müssen. Zwei über 60jährige Eltern eines Gefangenen wurden bei dieser Aktion verhaftet.
Zu 10 Festnahmen kam es auf den belebten Ramblas am Hafen. Dort sollte eine kleine Demonstration der Gruppe Mars-Attack stattfinden. 30 Polizeiwannen waren vor Ort, jede kleine Versammlung der etwa 500 anwesenden Protestierer wurde von Polizei eingekreist. Mit dem Einsatz von Schlagstöcken und Gummigeschossen und zivilen Greiftrupps wurden Versuche, militant zu protestieren, unterbunden. Das Motto von Mars-Attack lautete: „Auch die Reichen weinen. Der Kapitalismus lässt sich nicht reformieren, sondern nur zerstören“.
Mars-Attack ist Teil des Zusammenschlusses „Kampagne gegen das Europa des Kapitals“, einer der drei Koordinationen von GipfelprotestlerInnen. Andere der vielfältigen dezentralen Aktionen dieser Koordination waren etwa das Nachmalen eines ursprünglich von ZapatistInnen in Chiapas gemalten und dort vom Militär zerstörten Wandbildes oder Aktionen vor den Sitzen großer Firmen, wo mit Straßentheater in der Nähe der Sagrada Familia protestiert wurde „gegen die Schweinereien, die große Firmen oder die Lobbies unter den Teppich kehren“.
Die „Kampagne gegen das Europa des Kapitals“ war auch die Veranstalterin der riesigen Demo am 16. März gegen den Gipfel. Gemeinsamer Nenner dieser Plattform ist die Gegnerschaft zu den Institutionen der EU, IWF und WTO – und die Ablehnung von Reformversuchen innerhalb dieser Institutionen. In der Plattform arbeiten HausbesetzerInnen, Feministinnen, zahlreiche linksradikale Gruppen, kleinere linke Gewerkschaften und Parteien, MigrantInnengruppen, Peoples Global Action, Ökogruppen und NGOs mit. Sie schließt zwar Militanz aus, betont aber auch, dass der Kapitalismus Gewalt produziere, weshalb sie sich nicht von militanten Gruppen distanziert.
Zwei einflußreiche Organisationen arbeiten sowohl in dieser Plattform mit, als auch in einer zweiten: Attac und IU, die Vereinigte Linke, das Wahlbündnis rund um die spanische KP.
Die zweite Plattform, Soziales Forum von Barcelona, wird dominiert von der traditionellen parlamentarischen Linken: Vorweg die Partit dels Socialistes de Catalunya (PSC), die regionale sozialdemokratische Partei. Die stellt mit Joan Clos auch den Bürgermeister von Barcelona – und hat sowohl bereitwillig die städtische Polizei für den Polizeiaufmarsch zur Verfügung gestellt und nimmt an den offiziellen Empfängen des Gipfels teil. Deswegen hat ihr der spanische Regierungschef Aznar vorgeworfen, sich nicht eindeutig zum EU-Gipfel zu bekennen: Man könne nicht gegen etwas demonstrieren, woran man selbst ebenso wie zahlreiche sozialdemokratische Regierungschefs teilnehmen würde. Neben den sozialdemokratischen Spagatkünstlern und IU ist die linksnationalistische Partei ERC, Republikanische Linke Kataloniens, beim Sozialen Forum dabei. Außerdem die großen Gewerkschaften CCOO und UGT und viele NGOs.
Das Soziale Forum kritisiert die konkrete Politik der EU, aber lehnt ihre Institutionen nicht prinzipiell ab wie die Kampagne. Das Forum verurteilt den Gebrauch von Gewalt durch Demonstranten. Sie riefen mit auf zu der großen Demonstration, aber unter einem eigenen Slogan: „Ein anderes Europa ist möglich“.
Bereits in Porto Alegre beim Weltsozialforum im Januar waren Vertreter der PSC, auch der Bürgermeister von Barcelona, Joan Clos, um in der Antiglobalisierungsbewegung Einfluß zu gewinnen. Dabei hat sich – wie in Frankreich auch – an der Politik dieser Sozialdemokraten nichts geändert, es bleibt bei Lippenbekenntnissen.
Neben diesen beiden größeren Plattformen gibt es noch eine dritte, wesentlich kleinere: Die Plattform „Katalonien gegen das Europa des Kapitals“. Hier wirken Organisationen mit, welche die Institutionen der EU ablehnen, denen sie die vermeintlich authentischen Nationen des Baskenlandes, Galiziens und Kataloniens gegenüberstellen, die von Spanien unabhängig werden müssten. An erster Stelle steht die Betonung der Rechte von Völkern. Die bekanntesten Mitglieder dieser Plattform sind Batasuna, die linksnationale Partei des Baskenlandes, die sich nie von ETA-Anschlägen distanziert und die Batasuna nahestehende Gewerkschaft LAB sowie Estat Català, katalanischer Staat. Es sind Organisationen, die sich für Nationen ohne eigenen Staat meinen einsetzen zu müssen.
In den Unterkünften und bei den Debatten der GlobalisierungsgegnerInnen gab es entsprechend den drei unterschiedlichen Koordinationen eine in sich widersprüchliche Vielfalt der Meinungen. Neben galizischen und baskischen Nationalisten waren auch nicht national orientierte Feministinnen präsent, Kollektive von MigrantInnen oder AnhängerInnen der zapatistischen EZLN. Dazwischen tummelten sich auch Einige, die für eine Solidarität mit Palästina eintraten und Israel als imperialistischen Brückenkopf betrachten. An den Bücherständen liefen die Bücher von Edward Said und Noam Chomsky gut. Alle sind irgendwie gegen das Europa des Kapitals, aber nicht unbedingt für Israel, es gab viele lebhafte Diskussionen. Zum Beispiel im Centro de Cultura Contemporània de Barcelona (CCCB), wo einige der dezentralen Diskussionsrunden stattfinden. Einem Migranten aus Nordafrika wurde aufmerksam zugehört, als er erklärte: „Ich bin kein Immigrant, ich bin ein Arbeiter, und es geht darum vom Klassenkampf zu reden, auch wenn es Leute gibt, die sagen, den gibt es gar nicht. Klassenkampf – na klar, es geht darum, unsere Position gegen die Politik der Liberalisierungen zu verteidigen.“ Er bekam viel Applaus. Jemand anderes erklärte, soziale Rechte und Kapitalismus seien unvereinbar. Die Deregulierung des Energiesektors, die auf dem Gipfel gerade beschlossen werde, sei ein gutes Beispiel dafür.
An der Spitze der großen Abschlußdemonstration am Abend des 16. März wurde ein großes Transparent der Kampagne gegen das Europa des Kapitals getragen: „Gegen das Europa des Kapitals und den Krieg – Eine andere Welt ist möglich“. Dahinter zahlreiche Transparente und Fahnen in allen Farben: Rote, Schwarzrote, die Fahne der im Bürgerkrieg unterlegenen spanischen Republik, baskische, katalanische und Fahnen von anderen „Nationen ohne Staat“ wie Okzitanien sowie von Lateinamerikanischen Staaten wie Argentinien. Auf den Transparenten wurde gegen den Nationalen Wasserplan ebenso protestiert wie für die Legalisierung von Marihuana. Dass alles zum Lärm einer Unmenge von Trillerpfeifen und Trommeln, auf die eifrig eingedroschen wurde. Als die Spitze der Demonstration am Kolumbus-Denkmal ankam, war ein Großteil noch gar nicht von der Plaza de Cataluña losgegangen.
Parallel zur Demo fand im Fußballstadion die Partie Real Madrid gegen FC Barcelona statt: Selbst dort war der Protest sichtbar. Zwei Aktivisten hatten sich mit T-Shirts, auf denen stand „Stoppen wir das Europa des Kapitals!“ an einem Tor festgekettet. Erst mit Verspätung begann so das Spiel, bei dem Zidane für Madrid ein Tor schoß, aber Barcelona den -ausgleich erreichen konnte.
Nach der Demonstration, die eher einem Festumzug glich, kam es noch zu einigen kleinen Aktionen. Kleine Gruppen von Maskierten attackierten Bankautomaten von Banesto, BBVA, Deutscher Bank und der katalanischen Caixa. Daneben wurde auch das zentrale Büro der KP-nahen Gewerkschaft CCOO, Arbeiterkommissionen, attackiert.
Polizisten auf Motorrädern jagten die Maskierten daraufhin. Vorne der Fahrer, hinten ein Polizist, der mit seinem Gewehr Gummigeschosse auf Verdächtige feuert. Es gab mindestens 38 Festnahmen. Unterwegs waren auch Greiftrupps, die gezielt nach vermeintlichen Militanten suchten. Die polizeiliche Bilanz: Insgesamt 109 Festnahmen und fast 30 Verletzte.
Die Kampagne gegen das Europa des Kapitals, die auch das Konzert veranstaltete,
bewertete die stattgefunden Aktionen positiv, auch die dezentralen Aktionen, die an verschiedene Punkten in der Stadt stattgefunden haben, und wies entschieden das Verhalten der Polizei zurück: „Es gab Situationen der Gewalt und der Anspannung gegen die Personen, die an diesen Aktionen teilnahmen“.
Schon tags zuvor war die Polizei zum Teil brutal gegen dezentrale Aktionen vorgegangen.
Während der Scharmützel nach der Demo strömten viele Menschen zu dem Open-Air-Konzert, dass auf dem unmittelbar neben der Demoroute an der Innenstadt liegenden Berg Montjuïc im Sot del Migdia zum Abschluß der Aktivitäten unter dem Motto „Wir sind Millionen, die Welt gehört euch nicht“ stattfand. Dort spielte nach dem Ende der Demo neben Jabier Muguruza, Cheb Balowski und anderen bekannten spanischen Musikern zum Abschluß um fünf Uhr Morgens Manu Chao.
Der erklärte am Tag vor seinem Auftritt, warum er dort singt „Wir leben in einer antidemokratischen Situation, weil die, welche entscheiden in den Holdings sind auch diejenigen sind, welche den Politikern sagen, was sie tun sollen.“