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Zwischen Liebe und Nordsee

Annäherung an den Schweigekreis in zwölf Schritten

| VIOLA

Ich träume von abstürzenden Flugzeugen im Vorgarten. Angesichts der Feuersbrunst im Traum: Hilflosigkeit. Das Gefühl bleibt mir im Wachen. In der nächsten Nacht das Gleiche. Am Tag lese ich über die Merkmale nach denen bei der Rasterfahndung Auslese getroffen werden soll. Wie lange kann ich Freunde davor schützen, zu Opfern einer Politik zu werden, die spätestens im Herbst Erfolge vorweisen will. Hilflosigkeit.

Wir diskutieren: ob dieser Krieg eine besondere Qualität hat, die US-Amerikaner besonders böse sind, welche Rolle Israel hat, ob und wann die Gesellschaft in Afghanistan eher eine feudale oder eine patriarchale war und ob sie durch den Krieg eine demokratische werden kann. Wir landen schnell bei unseren Standards: aus welcher Gesellschaftsform erwächst die Freie Gesellschaft. Für uns satte Privilegierte sollte es leicht sein, unserer Solidarität mit libertären Personen und Gruppen im Kriegsgebiet Ausdruck zu verleihen, diese zu unterstützen und zu schützen. Ist es sinnvoll die Begriffe und Slogans zu verwenden, die mittlerweile von anderen dazu benutzt werden, um das Gegenteil von dem zu propagieren, was wir erreichen wollen? Es ist mir wichtig, unsere Diskussionen und unsere Perspektiven: Freie Gesellschaft und Anarchismus in Herz und Kopf und im Gespräch zu behalten. Die gewaltfreie Aktion lindert meinen Schmerz.

Warum sagt jetzt keiner etwas? Sehen die anderen dem Beginn eines Weltkrieges unbeeindruckt zu? Wieso schicken die ihre Kinder zur Bundeswehr? Verschlägt es der schweigenden Masse die Sprache darüber mit welcher Dreistigkeit sie zur Kasse gebeten wird, um Terror, Mord und zunehmende Überwachung des eigenen Lebens zu finanzieren? Warum schreit die schweigende Mehrheit nicht auf? Weil sie allenfalls flüsternd zugibt, dass ihre einzige Hoffnung ist, dass der Kelch auch dieses mal an ihr vorüberziehe, wenn sie nur still hält. Das wäre ein typisches Verhaltensmuster für die Bevölkerung in der Diktatur. Wo stehen wir?

Diesem Impuls nachgebend, kann ich schweigend auf das Mißverständnis hinweisen.

„Wer schweigt, scheint zuzustimmen“, die Betonung liegt auf „scheint“. Niemals tue ich Milch oder Zucker in den Kaffee, wenn ein Gast meine Frage schweigend beantwortet. Wer schweigt lehnt ab! Unser Schweigen ist: Nicht – Zusammenarbeit. Mit den Kriegstreibern, die sich auf meine Zustimmung zu ihrem Machtgehabe berufen, die sich anmaßen mein Leben mit Mord, Folter, Verfolgung, Vergewaltigung und Vertreibung schützten zu wollen. Nein Danke! Das ist nicht mein Leben. Ich schweige!

Das Schweigen ist der adäquate Aufschrei, durch den Stille einkehrt, in den Lärm aus Kriegsgetöse, patriarchalem Machtgehabe und Geschwätz über vermeintliche „Innere Sicherheit“. Mit dem öffentlichen Schweigen demonstrieren wir, unser NEIN zum Krieg. Aus Kriegen entstehen weder Chancen noch Perspektiven. Neues Leben wächst nie aus Ruinen, es wächst vielleicht [und auch nur sehr mühsam] aus dem, was unter den Ruinen verborgen war. Realistisch betrachtet, spielte selbst die Arbeiterorganisation eine wesentlich produktivere Rolle für die Entwicklungsgeschichte der Demokratie, als jeder noch so gigantische Krieg. Jeder Krieg ist ein Rückschlag für die Entwicklung der Gesellschaft. Morden, Verstümmeln, Foltern, Vergewaltigen und Vertreiben sind Verbrechen. Wer daran deuteln möchte, kann nicht auf unsere Gesprächsbereitschaft setzen. So schweigen Friedensbüro, Versöhnungsbund Hannover und Graswurzelgruppe Hannover gemeinsam, seit dem 15. Januar 2002, jeden Dienstag ab 17.00 für eine halbe Stunde vor dem Blätterbrunnen in der hannoverschen Innenstadt. Die beteiligten Gruppen verfügen über langjährige Erfahrungen in gewaltfreier Aktion. Das regelmäßige Schweigen ist Anfang der gemeinsamen Arbeit gegen den Krieg. Wir entwickeln uns, die Aktion und unsere Zusammenarbeit.

Wir schweigen jeweils nur für eine halbe Stunde. Es sind mehrere Eskalationsmöglichkeiten für die Aktion denkbar. Dabei soll die Aktion zunehmend „gewaltfrei“ im eigentlichen Sinne sein. Die Frage, ob wir uns überhaupt steigern müssen, bleibt offen. Eine Entwicklung wäre nicht zuletzt deswegen schön, weil es nach den ersten Erfahrungen z.B. nicht möglich ist, mit kleinen Kindern an der Aktion teilzunehmen, das Schweigen wirkt auf sie bedrohlich.

Auch die Schweigenden ohne kleine Kinder wünschen sich eine lustvolle Aktion, an der auch zu erkennen ist, wie wir uns unser Zusammenleben vorstellen. Unser Schweigen steht nicht für „Leiden“. Verliert oder gewinnt der Schweigekreis an Bedeutung, wenn wir den Abend gleichzeitig für ein Picknick nutzen oder Pantomimen engagieren?

Ist es eine Steigerung länger zu Schweigen oder läge die Steigerung gerade darin, den zeitlichen Rahmen zu verkürzen? Tatsächlich ist unsere Öffentlichkeitsarbeit weitgehend unabhängig davon, wie lange wir schweigend in der Stadt stehen. Würde ich mit einem kürzeren Zeitraum mehr Aufsehen erregen? Möglicherweise beteiligen sich mehr Menschen wenn, die Aktion nur fünf Minuten dauert. Ich würde der Auseinandersetzung, die ich ja auch nicht führen will, nicht nur meine Stimme versagen, sondern auch meine physikalische Anwesenheit. Andererseits würde immer längeres Schweigen mit immer mehr Menschen zwangsläufig zum Generalstreik führen, weil keiner mehr Zeit für die Arbeit hätte. Ich halte einen Generalstreik für das probate Mittel, um das Ende des Krieges herbeizuführen.

Bleibe ich bei praktikablen Aktionen. Schweigekreise an mehreren Orten zur gleichen Zeit oder eine Schweigestaffel. Wenn z.B. in Bremen um 17.00 Uhr aufgehört wird zu Schweigen, fangen wir in Hannover an, eine halbe Stunde später geht es in Oldenburg weiter oder so. Das könnten regionale Gruppen völlig unabhängig voneinander organisieren. Fände ich prima! Gebt uns doch bitte Bescheid, wenn ihr auch schweigt, dann machen wir während unserer „Schweigestunde“ einen Aushang dazu; am Besten mit Foto. Wir könnten uns gegenseitig besuchen, auf der Durchreise (Hallo Jan, das ist die Gelegenheit, um die Regenjacke vorbei zu bringen.) oder am Urlaubsort am Schweigekreis teilnehmen usw.. Gebt uns auf jeden Fall Bescheid, welche Aktionen und Veranstaltungen ihr in unserem Umkreis gegen den Krieg macht, dann weisen wir PassantInnen und Presse darauf hin.

Da wir mit dem Schweigen nun schon mal [und nicht ganz zufällig] bei dem Thema mit der Stimme sind, kommen wir auch gleich zur Stimmabgabe. Eigentlich kann nur Schweigen, wer seine Stimme nicht abgegeben hat und es ist umso wichtiger, seine Stimme auch in diesem Jahr nicht abzugeben.

Mittels des Schweigekreises nehmen wir öffentlich Stellung. Wir rufen dazu auf, alle Kriegsdienste zu verweigern, Deserteure zu verstecken und Kriegstreibern die Stimme vorzuenthalten. Wir begrüßen die Klagen gegen die Rasterfahndung und geben unserer Solidarität mit den, durch Denunziation im Kleinen und im Großen, Verfolgten Ausdruck.

Tatsächlich finde ich während des Schweigekreises weniger Gelegenheit zur Kontemplation, als ich es mir erwartet hatte. Im strömenden Regen fegt der Sturm meine Schilder um und reißt an dem Transparent in meinen Händen. Laut diskutierend begrüßen Passantinnen die Aktion und stellen sich zu uns, einige Passanten lesen sich gegenseitig unsere Schilder vor. Im Vorübergehen teilen sie uns ihre Erfahrungen aus selbst erlebten Kriegen mit. Ich sehe in den Himmel und verfolge die Wolken, da unterbricht mein Bruder neben mir sein Schweigen. Angesichts der Möglichkeit, noch morgen früh hier zu stehen, wenn keiner den Ablauf der Zeit beobachtet, erscheint es ihm unerträglich weiter zu schweigen. Kurz darauf läutet die Glocke vom nahen Kirchturm zur halben Stunde und ich freue mich auf das nächste Mal.

Annäherung einfach gemacht: Du gehst Dienstag 16.55 Uhr aus der U-Station „Kröpcke“, in Richtung Osterstraße, drehst Dich um 180°, Du siehst uns – zwischen der Parfümerie „Liebe“ und dem Fischladen „Nordsee“ – und mit 12 Schritten bist Du uns nahe.

Kontakt

Schweigekreis
c/o Friedensbüro
Haus der Jugend
Maschstraße 24
30169 Hannover