anarchismus

„Georges Brassens. Anarchiste.“

Der französische Chansonnier Georges Brassens und die anarchistische Zeitschrift Le Libertaire von 1946 bis 1947

| Joseph Steinbeiß

"Das Chanson, so sagt man für gewöhnlich, ist ewig. Ein Irrtum, fürchte ich: das Chanson ist, gerade als Chanson, unmittelbar verbunden mit der Existenz des Menschen auf diesem Planeten" - Boris Vian

Wir schreiben das Jahr 1946 nach Christus – oder das Jahr Zwei der Befreiung der französischen Hauptstadt von deutscher Besatzung und Nazi-Terror. Jean-Paul Sartre, Albert Camus, „Combat“ und Django Reinhart haben Konjunktur. An Vichy mag niemand recht erinnert sein. Laval und Henriot sind Tod, Pétain sitzt im Gefängnis, in den Kellern des Viertels Saint Germain-des-Près brodelt, jazzt und tanzt die „Existentialistenmode“. Einige Meter oberhalb jedoch geht alles wieder seinen gaullistisch geordneten Gang. Von gelegentlichen Ausnahmen abgesehen.

Im Herbst 1946 versucht an einer belebten Pariser Straßenkreuzung ein Gendarm einen unbotmäßigen Radfahrer mittels Trillerpfeife zu stoppen. Der Radler verliert vor Schreck zunächst die Nerven, dann das Gleichgewicht. Schließlich stürzt er – genau auf den Gendarm, der seinerseits zu Boden geht und sich auf dem Pflaster den Schädel einschlägt. Ein tragischer Unfall? Nicht für alle.

Am 27. September erscheint unter dem Titel „Der Zufall fällt die Polizei an“ in der anarchistischen Zeitschrift Le Libertaire die Glosse eines gewissen „Gilles Colin“. Dessen Mitgefühl für den verunglückten Polizisten hält sich – wir wollen es vorsichtig ausdrücken – sehr in Grenzen: „Es ist uns keineswegs entgangen, daß trotz seines Dahinscheidens Tausende anderer Polizisten unglücklicherweise zu leben fortfahren und die arme Erde einstänkern […] Im Grunde bedauern wir Witwe und Kind, die er zurückläßt. […]. Aber, zum Teufel! Warum müssen Gendarmen auch Trillerpfeifen haben, und warum gibt es überhaupt Gendarmen?“. (1)

Antimilitarist, „anticonformiste, ‚anti-tout'“

Georges-Charles Brassens, 1921 in Sète als Sohn eines Maurers und einer italienischen Einwanderin geboren, Poet und Liedersänger, friedfertiger Querkopf, rüde Spottdrossel mit Schnauzbart und Gitarre, gilt sehr zurecht als einer der besten und einflußreichsten Chansonniers Frankreichs. De Gaulles Kultusminister André Malraux ließ ihn als ersten Vertreter jener Kunstgattung, die in Frankreich noch immer den bezeichnenden Namen Variété trägt, im Theatre National Populaire auftreten: einer sakrosankten Einrichtung des französischen Kulturbetriebes, sonst ganz den Molières, Racines und Corneilles der dramatischen Klassik zugeneigt. Der Romancier und Filmemacher Marcel Pagnol zettelte gar eine freundschaftliche Intrige an, die Brassens in die Académie Francaise locken sollte. „Ein Witz!“, war dessen Kommentar: „Ich hasse Uniformen – außer der des Briefträgers, wohlgemerkt“. (2) Brassens Chansons haben nicht nur zahllose Künstler beeinflußt und inspiriert (von Georges Moustaki, den Brassens sehr schätzte, über Maxime LeForestier bis zu Francis Cabrel und Renaud Séchan, der sein 20-jähriges Schallplattenjubiläum immerhin mit einer ganzen CD voller Brassenslieder feierte) sondern sie gehören in Frankreich längst zum kulturellen Kanon – und manche sogar zur Schullektüre! Von den zahllosen wohlmeinenden Musikern abgesehen, die auf Bänken und Mäuerchen französischer Provinzstädte hocken und leidlich „Le Gorille“ [„Der Gorilla“] oder „Chanson pour l’Auvergnat“ [„Lied für den Averner“] auf lädierten Gitarren herunterschruppen, um vorbeiflanierenden PassantInnen einige Münzen zu entreißen.

Daß Brassens Anarchist war, wird selbst von seinen konservativen VerehrerInnen nicht ernsthaft in Abrede gestellt. Bis zum Ende seines Lebens machte er nie einen Hehl aus seinen Sympathien für die libertäre Sache: „Ich bin Mitglied einer Bewegung gewesen, der libertären Bewegung, und eigentlich habe ich sie nie verlassen. Ich habe nie einen Mitgliedsausweis besessen und bin nie ausgetreten. Ich bin bloß kein Aktivist mehr. Ich habe noch alte Freunde dort. Ich bin ein bißchen vom Aktivismus abgerückt, wenn Sie so wollen. Was die anarchistische Moral und Philosophie angeht, habe ich mich aber kein bißchen bewegt“. (3) Radikalität und gleichzeitige geistige Beweglichkeit scheinen Brassens den Anarchismus zuforderst attraktiv gemacht zu haben: „Das ist schwer zu erklären, die Anarchie.[…] Jeder hatte von der Anarchie seine ganz persönliche Vorstellung. Das ist es ja eben, nebenbei, was so spannend ist: daß es kein wirkliches Dogma gibt. Es ist eher eine Moral, eine Art, das Leben zu begreifen, glaube ich. Der Einzelne steht im Vordergrund“. (4) Fast bis zuletzt war Brassens gerne bereit, für die Fédération Anarchiste – oft gemeinsam mit Léo Ferré – zu spielen und aufzutreten: „Georges machte im Prinzip alles, wenn ihn Anarchisten darum baten“. (5) Wie aber sein „Aktivismus“ für die libertäre Bewegung nach dem Krieg ausgesehen habe, darüber schweigen sich Biographen und Freunde gemeinhin geflissentlich aus: eine „Grammatik-Kolummne“ (!) habe er geschrieben für den anarchistischen Libertaire, ein wenig Handverkauf mochte dabei gewesen sein, hier und da eine Demonstration. Nicht viel. Nicht viel? Darf’s auch ein bißchen mehr sein? Vielleicht wird sich herausstellen, daß Brassens – nicht zuletzt in seiner Kunst – tatsächlich nie von „anarchistischer Moral und Philosophie“ abgerückt ist: einer etwas ruppigeren „Moral“ freilich, als man sie dem „fast krankhaft schüchternen“ (6) Künstler in Frankreich später zubilligen mochte; und daß Ton und Themen jener Chansons, die ihn bald weltberühmt machen sollten, in den frühen fünfziger Jahren bereits fast fertig ausgeprägt waren – nicht zuletzt durch Brassens Mitarbeit beim Libertaire und bei den Anarchisten der Rue du Croissant.

Die Anarchistinnen und Anarchisten der Rue du Croissant

Die anarchistische Bewegung Frankreichs, im Vergleich zur anarchosyndikalistischen Massenorganisation Spaniens in den dreißiger Jahren ohnehin ein eher zartes und weitlich zerfasertes politisches Mauerblümchen, hatte den Zweiten Weltkrieg schlecht überstanden. In der Rue du Croissant im 15. Arrondissement trafen sich nach der Befreiung die, die übrig geblieben waren, um die Trümmer beiseite zu räumen und einen Neubeginn zu unternehmen: anarchistische Arbeiter, eine handvoll politisch interessierter Studentinnen und Studenten, aber auch der ein oder andere „bunte Vogel“; Bohémiens reinsten Wassers, die bei den Zusammenkünften in Montparnasse ungewollt so etwas wie eine „libertäre Kunstszene“ aus der Taufe hoben – eine Kunstszene freilich, von der außer ein paar Eingeweihten niemand etwas ahnte. Maurice Joyeux, gelernter Schlosser und Urgestein des französischen Anarchismus, erinnert sich: „Georges Brassens hat eine Weile zur Fédération Anarchiste gehört. Mitgebracht hatte ihn, glaube ich, ein anderer großer Poet: Armand Robin“. (7) Der libertäre Dichter Armand Robin war allem Anschein nach ein farbiger Charakter. Glühender Antistalinist, hatte er sich eigenständig vier oder fünf osteuropäische Sprachen angeeignet, um, wie er sagte, aus erster Hand den Niedergang des Sowjetreiches verfolgen zu können – nämlich am Radio. (8) [Brassens] erzählte später, zu jener Zeit habe Armand Robin die Angewohnheit besessen, so gut wie jeden Abend beim Kommissariat seines Viertels anzurufen und, nachdem er sich in aller Form vorgestellt hatte, dem wachhabenden Offizier ins Ohr zu raunen: ‚Monsieur, ich habe die Ehre Ihnen mitzuteilen: Sie sind ein Arschloch!'“. (9) Der Humor der französischen Ordnungshüter hatte offensichtlich Grenzen: Armand Robin starb unter nie ganz geklärten Umständen auf einer Pariser Polizeiwache.

Georges Brassens jedenfalls war zu jener Zeit weit davon entfernt, als aufgehender Stern am Himmel des französischen Chansons in Gesellschaft Figur zu machen. „Als ich Zwanzig war, machte ich egal was, ich war für alles verfügbar. Dann hab‘ ich drauf gepfiffen, hab‘ plötzlich alles hingeschmissen, um dann…[…] Ich kann nicht Boule spielen, ich bin kein Jäger, ich bin kein Angler, und Kartenspielen mag ich auch nicht. Ich hatte keinen Beruf, nichts, ich langweilte mich derartig, daß…“. (10) Brassens erste, zaghafte, von seiner notorischen Bühnenangst nicht gerade erleichterte Versuche, mit eigenem Material vor Publikum aufzutreten, waren grandiose Fehlschläge gewesen. Nicht zuletzt deshalb, weil Brassens, vollkommen ahnungslos über die Wirklichkeit des Pariser Showbetriebes, sein Glück in Lokalen versucht hatte, die eher für japanische Reisegruppen ausgelegt waren als für freche Lieder. „Er verwirrte nicht schlecht. In dieser Art von Läden sind die Leute oft sehr unachtsam, und der Typ war vollkommen unbekannt. Man mag, was läuft; man applaudiert dem, was eh längst jeder kennt. Für einen unbekannten Anarchisten bewegte sich kein Mensch! Seine Erscheinung, sein Look, haben zu Anfang wohl auch gegen ihn gearbeitet […]. Und dann, na ja: Antikonformist, ‚Anti-alles’…das gefiel den Chefs solcher Buden nicht sonderlich“. (11) Auch im Kreise seiner anarchistischen Genossinnen und Genossen in der Rue du Croissant hatte man Zweifel: „Kein Mensch hat so recht an ihn geglaubt, und als er plötzlich mit einem Knall auf der Bühne erschien, um sie nie wieder zu verlassen, war das eine Überraschung für eine Reihe von Künstlern, die mit der Fédération Anarchiste zu tun hatten“. (12) Bedenkt man, daß zu den Chansons, die Brassens damals (schwitzend wie ein Verdammter und sich ständig verhaspelnd) einem bestenfalls kopfschüttelnden Publikum vortrug bereits ironische Meisterwerke wie „La mauvaise réputation“ [„Der schlechte Ruf“] oder „Hécatombe“[„Blutbad“] gehörten – Lieder, die in Frankreich heute jedes Kind nachpfeifen kann – mag der mangelnde Kunstsinn seiner anarchistischen Bekannten verwundern. Aber Maurice Joyeux hat eine Erklärung: „Man hat sich schon oft gefragt, warum den Anarchisten die Begeisterung für diese unbekümmert arrangierte Poesie fehlt. Die Antwort ist einfach und ich habe sie oft gegeben: die militanten Anarchisten waren in allem, was die Kunst und die dichterische Freiheit berührt, furchtbar altmodisch geblieben; eine Poesie, die bewußt die von der Akademie angelegten Ketten zu sprengen versuchte, erschien ihnen als Ketzerei“. (13) Was man bei der Fédération allerdings sehr wohl erkannte war, daß dieser Brassens mit Sprache umgehen konnte – besser als manch anderer. Es war also kein Wunder, daß man ihn 1946 bat, die Druckfahnen von Le Libertaire zu korrigieren. Er hatte ja sonst nichts zu tun…

„Géo Cédille“, „Gilles Colin“, „G.C.“

Die anarchistische Zeitschrift Le Libertaire war zwar kein großes, aber ein traditionsreiches Blatt der libertären Bewegung Frankreichs: 1892 in Alger gegründet, erschien sie ab 1895 in Paris. Mit Beginn des ersten Weltkrieges mußte die Zeitung ihr Erscheinen einstellen. Von 1919 bis 1939 erschien sie wiederum in Paris, dann kam der zweite große Krieg und Le Libertaire verschwand von der publizistischen Bildfläche. Von 1944 an fungierte die Zeitung als interner Rundbrief des Mouvement Anarchiste Francais (MAF), dann, von ihrer zwölften Nummer an, für die neu gegründete Fédération Anarchiste. Die Zeitung erscheint unter dem Titel Le monde libertaire übrigens noch heute und ist in jedem gut sortierten Zeitungsgeschäft in Frankreich zu haben.

Von September 1946 bis Juni 1947 arbeitete Brassens für Le Libertaire – keineswegs nur als Korrektor. Sein Freund René Iskin, damals Bankangestellter, erinnert sich:[…] Er arbeitete nebenan, Rue du Croissant, beim Libertaire. Eine zeitlang schrieb er praktisch sämtliche Artikel, unter verschiedenen Pseudonymen. Die Zeitung hatte nur zwei Seiten […] Einmal hat er mir die Druckfahnen der Zeitung gezeigt und gesagt: ‚Das hab‘ alles ich geschrieben. Und jetzt, wenn Du magst, lad‘ ich Dich zum Fressen ein, ich hab’ein bißchen Geld‘. Er bekam einen bescheidenen Lohn“. (14)

Ganze 19 Texte für den Libertaire können Brassens eindeutig zugewiesen werden – andere sind verschollen oder nicht zweifelsfrei als seine identifizierbar. Er schrieb unter wechselnden Pseudonymen – zur damaligen Zeit und angesichts etwa des Schicksals seines Freundes Robin keineswegs eine bloß manierierte Konspirationsmasche – die aber alle die Initialen seines vollen Vornamens trugen: „Géo Cédille“, „Gilles Colin“, oder ein Kürzel: „G.C.“.„Diese Artikel, ganz gewiß keine Glanzstücke der Mäßigung und Zurückhaltung, zeigen einen jungen Mann (er ist 24 Jahre alt) der aus allen Rohren eine Horde Pappenheimer unter Feuer nimmt: die Polizei, die Kirche […] und – etwas unerwarteter – die kommunistische Partei und die Stalinisten“. (15)

Besonders die Polizei hatte unter Brassens wüst rempelnder Feder nichts zu lachen. Am 11. Oktober 1946 rekapitulierte „Géo Cédille“ in einem Jubelartikel „Der Tod zieht in den Krieg gegen die Polizei“ die aktuellen Opferstatistiken der französischen Polizeibrigaden: „Man sei vergewissert: der Tag wird kommen […], an dem die Sonne über einer neuen, endlich aller Gendarmen ledigen Welt aufgeht […] Alles ist möglich, Sapperlot! Vertrauen wir auf den Tod. Er wird uns nicht enttäuschen“. (16) Keine sieben Tage später erschien folgender Text, diesmal signiert mit „G.C.“: „Mit unerschütterlicher Festigkeit fährt der Tod in seinem Unternehmen fort, die Polizeikräfte dieses Landes zu dezimieren. Am 11. Oktober erfuhr in Marseille ein Ordnungshüter, der sich äußerst störend in eine Schlägerei zwischen einem Motorrad, – und einem Autofahrer einmischen zu müssen meinte, das zweifelhafte Vergnügen, unter den Hieben diverser Tische und Stühle zu lernen, daß es besser sei, sich um seine eigenen Angelegenheiten zu kümmern. Er wurde ins Krankenhaus […] eingeliefert in einem mehr als alarmierenden Zustand. Nicht für uns, versteht sich“. (17) In der gleichen Ausgabe applaudiert Brassens dem jüngsten Einbruch in eine Pariser Kirche: „Ganz der Ansicht, daß Kelche aus Gold und massivem Silber ebenso wie Ketten aus Edelsteinen kaum zur Verehrung Jesu – Christi nötig seien, der ja, wie jedermann weiß, die Armut pries, hat es Unbekannten gefallen, die Türen der Basilique du Bon-Secours aufzumeißeln und die genannten Preziosen zu entwenden“. (18) Brassens, der später immerhin ein Gedicht des Lyrikers Louis Aragon, „Il n’y a pas d’amour heureux“ [„Es gibt keine glückliche Liebe“], vertonen sollte, war 1946 auch auf seine Kollegen aus den Reihen des PCF sowie auf deren Zentralorgan, die Massenzeitung L’Humanité, nicht gut zu sprechen. Am 4. Oktober wagte „Gilles Colin“ einen Ausblick auf den bevorstehenden Herbst: „Die stalinistischen Poeten werden den Musen auf die Nerven fallen, die ihnen doch nichts getan haben. Eluard, Aragon und Konsorten werden den guten Papa Stalin um Erlaubnis bitten, das Fallen der Blätter zu besingen… Stalin, in seiner unermesslichen Großmut, wird ‚ja‘ sagen, und wir haben die grausigen Konsequenzen zu tragen. Uns bleibt wirklich nichts erspart!“. (19) Am 27. Oktober wendet sich „G.C.“ sogar persönlich an seine kommunistische Leserschaft: „Die Stalinisten sind überaus geistvolle Wesen. Und menschenfreundlich weit über dem Durchschnittsmaß, was keineswegs ein Nachteil ist. Dank ihrer erhält eine trübe und einfältige Zeitung, die sich Le Libertaire nennt, allwöchentlich ihre kleine Ration Esprit. Letzte Woche etwa sah sie einen ihrer eigenen Artikel zurückkehren, auf dem ein auf den ersten Blick alltäglicher, aber bei näherer Betrachtung ungeheuer tiefsinniger Satz geschrieben stand: ‚L’Humanité sagt euch: leckt uns am Arsch!‘. Und mit roter Tinte, wenn ich bitten darf! Diese Woche hat das verderbte Journal den Vorzug genossen, sich als ‚hirnverbrannt‘ titulieren zu lassen. Allerdings mit blauer Tinte: öfter mal was Neues. Hoffen wir, daß unsere geschätzten Briefpartner in der nächsten Woche weiße Tinte benutzen werden. Dann können wir uns eine hübsche Trikolore basteln, die wir wirklich bitter nötig haben“. (20)

„Diese Arschlöcher! Die wissen gar nicht, was Anarchie ist.“

Es hat etwas von der Entdeckung eines lebenden Fossils, solch einen von keiner Rücksichtnahme gehemmten Verbalradikalismus in voller Armierung daherrasseln zu sehen. Immerhin: der rüde Kraftmeierton hat auch in der anarchistischen Presse Tradition – keine ruhmreiche vielleicht, aber er hat eine. Johann Most und Reet Marut stehen ihm Pate, und in schwungvoller Sprache ohne jeden Benimm auf Staat, Kirche und Autoritäten einzuhacken – zumal gerade die Polizei noch heute in Frankreich mit Geduld und Hingabe allenthalben verabscheut wird – war schon für den mittelalterlichen Dichter Francois Villon ein stetes literarisches Vergnügen. Brassens jedenfalls hat nie große Anhänglichkeit für seine journalistischen Produkte aus der Nachkriegszeit bekundet. Die fünfziger Jahre waren für den aufstrebenden Chansonnier in erster Linie ein Experimentierfeld, auf dem er sich in verschiedenen literarischen Formen und Stilen übte und vervollkommnete. Aber man täusche sich nicht: in Brassens bereits erwähntem Chanson „Hécatombe“ [„Blutbad“] verprügelt eine Schar draller Marktweiber ein paar unvorsichtige Dorfgendarmen, die sich unseligerweise in einen Streit um Zwiebeln eingemischt haben. Das wunderschöne Lied „La non-demande au mariage“ [„Der Nichtantrag auf Heirat“] war ganz gewiß nichts, was in den Ohren kirchlicher Honoratioren als Wohlklang wirken konnte. Und mit „Mourir pour des idées“ [„Sterben für Ideen“] machte Brassens sich in den Reihen des märtyrerversessenen PCF mehr Feinde als mit allen Polemiken des Libertaire zusammengenommen…

Fast bis zum Ende seines Lebens hielt Brassens Kontakt zur Fédération Anarchiste und seinen „alten Freunden“ der Jahre 1946 und 1947. „Brassens, ein freiheitlicher Geist, war ein Anarchist auf seine Art, das heißt ein Genie außerhalb aller Dogmen. Wir Anarchisten haben zu sehr die Tendenz, diese geistvollen Menschen, die sich uns manchmal nähern […] so zu betrachten, als ob es sich um militante Gruppen handelt, die die soziale Revolution vorbereiten“. ((219) Aber auch die anarchistische Bewegung Frankreichs veränderte sich: „Später trennten sich unmerklich unsere Wege, das Klima unserer Feste verschlechterte sich, Schreihälse eroberten unsere Sääle, angefeuert von einer Gruppe von Idioten, die wir zu unrecht unter uns tolerierten […] All diese Kleingeister von damals, die von Spießbürgern zu Dreckskerlen geworden waren, hatten ‚gesiegt'“. (22) Maxime LeForestier, damals ein unbekannter Sänger mit einer handvoll Songs zur Gitarre, erinnert sich an die letzten Auftritte Brassens im Bobino: „Das waren die siebziger Jahre. Wie ein Pawlowscher Effekt kam der Applaus jeden Abend mit gleicher Stärke an derselben Stelle, bei dem Wort ‚Anarchie‘ […] Jeden Abend trank er ein Glas Wasser nach ‚Hécatombe‘ […] und jeden Abend sagte er zu Nicolas [Pierre Nicolas, Brassens Bassist seit über 30 Jahren, Anm. JS]:‘ Diese Arschlöcher! Die wissen gar nicht, was Anarchie ist‘. Und dann machte er weiter“. (23)

(1) Gilles Colin, "Le hasard s'attaque aux Gendarmes", Le Libertaire, 27. September 1946, zitiert nach: Calvet, Louis-Jean, Georges Brassens, Paris, 1993, S.85.

(2) Georges Brassens, Radioscopie de Jaques Chancel, le 30 novembre 1971, Radio France/France Inter.

(3) Brassens zitiert nach Vassal, Jaques, Brassens ou la chanson d'abord, Paris, 1991, S.83.

(4) Brassens zitiert nach Calvet, Louis-Jean, Georges Brassens, Paris, 1993, S.93.

(5) Pierre Onteniente, genannt "Gibraltar", Sekretär von Brassens, zitiert nach Poulange, Alain/Guillaume Vincent, Brassens - der grenzenlose Poet, Frankreich, 2001 (ARTE Themenabend), o.D.

(6) Vassal, Jaques, Brassens ou la chanson d'abord, Paris, 1991, S.85.

(7) Joyeux, Maurice, L'anarchie dans la société contemporaine. Une hérésie nécessaire?, Tournai, 1977, S.79.

(8) Vgl. Calvet, Louis-Jean, Georges Brassens, Paris, 1993, S.93.

(9) Vassal, Jaques, Brassens ou la chanson d'abord, Paris, 1991, S.82.

(10) ebenda, S.73.

(11) Pierre Onteniente, zitiert nach ebd., S.86.

(12) Joyeux, Maurice, L'anarchie dans la société contemporaine. Une hérésie nécessaire?, Tournai, 1977, S.80.

(13) Joyeux, Maurice: "Georges Brassens", in: Trafik, Internationales Journal zur libertären Kultur und Politik, 34/1/1991, S.26.

(14) René Iskin, zitiert nach Vassal, Jaques, Brassens ou la Chanson d'abord, Paris, 1991, S.82.

(15) Calvet, Louis-Jean, Georges Brassens, Paris, 1993, S.84-85.

(16) ebenda, S.85-86.

(17) ebenda, S.86.

(18) ebenda, S.87.

(19) ebenda, S.90.

(20) ebenda, S.91.

(21) Joyeux, Maurice, Georges Brassens, In: Trafik, Internationales Journal zur libertären Kultur und Politik, 34/1/1991, S.28.

(22) ebenda, S.27.

(23) Maxime LeForestier, zitiert nach: Poulange, Alain/ Guillaume Vincent, Brassens. Der grenzenlose Poet, Dokumentation, Frankreich, 2001 (ARTE Themenabend).