R.Raasch/H.J. Degen (Hrsg.): Die richtige Idee für eine falsche Welt? Perspektiven der Anarchie, Oppo-Verlag, Berlin 2002, ISBN 3-926880-12-0, 130 Seiten
Umfragen z.B. während der Libertären Tage in Frankfurt/M. 1993 oder auch bei anderen anarchistischen Kongressen haben gezeigt, dass die, die sich als Libertäre oder AnarchistInnen sehen, durchschnittlich Anfang/Mitte 20 sind (1).
Viele AktivistInnen verlassen die anarchistische Szene nach Beendigung des Studiums, nach der Geburt eigener Kinder, nach frustrierenden Erfahrungen, aufgrund der Unfähigkeit des in erster Linie aktionsorientierten Gegenwartsanarchismus ihnen eine längerfristige Lebensperspektive in basisdemokratisch organisierten Projekten zu bieten, …
Als Bewegungsspiegel fungieren nicht zuletzt die Medien der anarchistischen Szenen. Abgesehen von Ausnahmen, wie z.B. der seit 1977 erscheinenden anarchosyndikalistischen direkten aktion, der seit 1980 vom Trotzdemverlag herausgegebenen „Vierteljahresschrift für Lust und Freiheit“ Schwarzer Faden, der seit 1972 erscheinenden „Monatszeitung für eine gewaltfreie, herrschaftslose Gesellschaft“ graswurzelrevolution und der seit 1980 erscheinenden Edition Nautilus-Zeitschrift Die Aktion, sind die meisten anarchistischen Periodika kurzlebig, regional begrenzt und oft intern. (2)
Trotzdem ist der Anarchismus nach wie vor eine lebendige Bewegung. Das zeigte sich z.B. auch während des „30 Jahre Graswurzelrevolution“-Kongresses im Juni 2002 (siehe: www.graswurzel.net). Von 17-jährigen SchülerInnen bis zu 74-jährigen VerlegerInnen: generationsübergreifend feierten AnarchistInnen den Geburtstag ihrer langlebigsten Bewegungszeitung. Ein Hauch „gelebte Utopie“ wehte durch die Veranstaltungsräume und es wurde sichtbar, dass der Anarchismus keineswegs auf dem Misthaufen der Geschichte liegt.
Um so erstaunter bin ich, wenn ich lese, was Hans Jürgen Degen in dem von ihm mitherausgegebenen Buch „Die richtige Idee für eine falsche Welt? Perspektiven der Anarchie?“ konstatiert:
„Der Anarchismus als gesellschaftspolitische Perspektive ist bei uns an seinem Ende angekommen. Viel hat er von seinem libertären Gehalt verloren. Auch ist er Spielwiese von ‚Gescheiterten‘ geworden. Anarchismus ist fast nur noch ein historisches Relikt. Er ist nicht mehr Lebensentwurf und -haltung, nicht mehr selbstständiges konzeptionelles Denken und Verwirklichen.“ (S. 121)
Degen behauptet, die „‚anarchistische Bewegung‘ ist nur noch ein Mythos“.
Das ist zwar Unsinn (s.o.), aber aus der Perspektive eines verdienten (3) Altanarchisten als persönliche Einschätzung vielleicht verständlich.
Der Gegenwartsanarchismus ist keine Massenbewegung, aber „an seinem Ende angekommen“ ist er noch lange nicht. Totgesagte leben bekanntlich länger.
Der vielversprechende Buchtitel „Die richtige Idee für eine falsche Welt? Perspektiven der Anarchie“ führt in die Irre. Die Schreibenden repräsentieren keinen Querschnitt der bunten und überwiegend jungen libertären Bewegung. Nicht eine einzige Autorin (!), aber 17 Autoren im Alter von 37 bis 76 Jahren skizzieren ihre Sicht auf die Perspektiven und öfter noch auf die vermeintliche Perspektivlosigkeit des Anarchismus. Überrepräsentiert sind Autoren aus der im Vergleich zum kollektivistischen Anarchismus marginalen Szene der Individualanarchisten. Und da findet sich dann auch einiges an Ärgernissen, etwa, wenn Klaus Schmitt – trotz der scharfen Kritik an seinem Buch über den vermeintlichen „Marx der Anarchisten“ (4) – immer noch Silvio Gesell ohne einen Hauch von Kritik abfeiert, oder wenn Bernd A. Laska den Psychoanalytiker Wilhelm Reich posthum zum Anarchisten verklärt und Werner Portmann über den „rechten Anarchismus“ phantasiert und in diesem Zusammenhang den Republikaner und US-Senator Buchanan als „Anarchisten“ bezeichnet,… Das und einiges mehr ist haarsträubend. Wer die Bereitschaft hat sich auch über Texte zu ärgern und keine großartigen Anregungen für mögliche libertäre Perspektiven erwartet, sollte sich dieses schnell lesbare Buch dennoch zu Gemüte führen. Die lesenswerten Beiträge von verdienten Autoren wie z.B. Jürgen Mümken, Lou Marin, Uli Klemm und Ralf G. Landmesser sorgen dafür, dass die „Perspektiven der Anarchie“ am Ende nicht ganz so traurig erscheinen, wie es Degens düsteres Schlusswort vermuten lässt.
(1) Siehe Bernd Drücke: "Zwischen Schreibtisch und Straßenschlacht? Anarchismus und libertäre Presse in Ost- und Westdeutschland", Verlag Klemm & Oelschläger, Ulm 1998
(2) Siehe ebenda.
(3) Siehe dazu auch William Wrights Besprechung des neuen Degen-Buches "Anarchismus in Deutschland 1945-1960" auf dieser Seite.
(4) Vgl.: Horst Blume: "Der Marx der Anarchisten: Ein Faschist?", Schwarzer Faden Nr. 19; sowie die Diskussionsbeiträge dazu in: Schwarzer Faden Nr. 20.