Fritz und Sieglinde Mierau (Hg.), Almanach für Einzelgänger, Edition Nautilus, Hamburg 2001, 203 S., 20,80 €
Jes Petersen, Strontium. Briefwechsel mit Raoul Hausmann und Franz Jung, BasisDruck, Berlin 2001, 295 S., 19,40 €
Es sind die Verschollenen, die Vergessenen, die nach Jahrzehnten des Exils versuchen, sich wieder in der deutschen Öffentlichkeit Gehör zu verschaffen, die sich – auch geographisch – Deutschland wieder annähern: Karl Otten, der 1957 von London in schweizerische Locarno übersiedelt oder Franz Jung, der nach einem Leben auf der Flucht, körperlich erschöpft, 1960 aus Kalifornien nach Europa zurückkehrt und seine letzten Lebensjahre ohne festen Wohnsitz zwischen Deutschland und Frankreich hin und her reisend verbringt.
Wegen einer Expressionismus-Anthologie, die er gerade für einen deutschen Verlag zusammenstellt, nimmt Otten den Kontakt zu Jung, dem alten Mitstreiter aus expressionistischen Tagen, wieder auf. Es entspinnt sich eine Korrespondenz, die bis zu beider Todesjahr 1963 andauert.
Weitere Einzelgänger kommen ins Spiel, Freunde, Kollegen, Gleichgesinnte, die mittlerweile verstorben sind und für deren Vermächtnis sich Jung und Otten einsetzen: Ernst Fuhrmann, Wilhelm Reich, Adrien Turel. Es ist die Zeit, Bilanz zu ziehen, über eine Existenz, ein Jahrhundert, eine „Unzeitgenossenschaft“. Otten ermutigt Jung, seine Autobiographie zu schreiben, die 1961 unter dem Titel „Der Weg nach unten“ erscheint und erhält selbst aus der Wiederbegegnung den Anstoß für einen autobiographischen Roman („Wurzeln“), der u.a. die gemeinsame Zeit in Erich Mühsams Tat-Gruppe evoziert, in der sich beide eine radikale gesellschaftliche Veränderung auf Grundlage der sexualpolitischen Thesen des libertären Psychoanalytikers Otto Gross erhofften: „Auf eine soziologisch-revolutionäre Formel gebracht – erst wenn alle Klassen und Schichten des Volkes hier, von der Maas bis an die Memel, Gewesene sein werden, ihnen das Dach über dem Kopf und der Boden unter den Füßen schwankt, erst wenn alle zertreten und der bürgerlich-proletarische Eigentumsbegriff in ihnen zerstört und durch das Nichts ersetzt ist, besteht Aussicht auf eine grundlegende Änderung, wie sie Othmar [=Otto Gross] erdacht und erarbeitet hat“ (S. 173).
Eine der Verbindungslinien, die das Buch durch das Jahrhundert spannt, führt zu eben jenem Otto Gross, der 1914 auf Betreiben seines Vaters entmündigt und in der Irrenanstalt Troppau interniert wird, wo er vom Insassen zum Assistenzarzt aufsteigt (ja, das gab es seinerzeit!) und sich des an Verfolgungswahn leidenden Anton Wenzel Groß annimmt. Franz Jung, der die Öffentlichkeit mobilisiert, um die Freilassung von Gross zu erreichen, wird bei einem Besuch in Troppau auf jenen Anton Wenzel Groß aufmerksam, der für ihn in der Folge zu einer Art Identifikationsfigur avanciert, als hätte er geahnt, daß dieser Gehetzte, dieser Ruhelose ein Stück weit sein eigenes Schicksal vorwegnahm. Er schreibt mehrere Texte über ihn, darunter die verstörende Erzählung „Der Fall Gross“, halb Dokumentarbericht, halb Bekenntnis, die sich dann Jahrzehnte später Karl Otten als Beitrag für seine Espressionismus-Anthologie von ihm erbittet.
Es ist ein fein komponiertes Lesebuch, voller solcher Querverweise und Korrespondenzen, das Fritz und Sieglinde Mierau da zusammengestellt haben. Ausgangspunkt und Leitfaden ist der Briefwechsel zwischen Jung und Otten, der die Stichworte liefert, die zu weiteren Texten führen. So ist der „Almanach für Einzelgänger“ eine Einführung in das gedankliche Universum der beiden Hauptpersonen Jung/Otten und entwirft zugleich ein zeitgeschichtliches Panorama aus ungewöhnlichem Blickwinkel.
„Übungsstücke für fremden Blick“ nennen die Herausgeber die versammelten Texte, und tatsächlich ist es allerhand Befremdliches, Verrücktes, mitunter Hellsichtiges, was sie zutage fördern. Etwa die „irgendwie“ (ich kann es nicht besser beschreiben) beunruhigenden „Anekdoten“ Franz Jungs über menschliche Beziehungen, Adrien Turels Ansichten einer Termite über die Menschenwelt, Wilhelm Reichs Ansprache an den „kleinen Mann“, den Konformisten des 20. Jahrhunderts.
Letzterer ist es auch, der vom „Recht auf Lebensglück im Diesseits“ spricht und damit vielleicht ein gemeinsamer Ziel all dieser Glückssucher benennt, die sich dennoch nur zu bewußt sind, daß ihnen angesichts der schier unerschöpflichen Bereitschaft des modernen Individuums zur Selbstversklavung allenfalls eine Position am Rande bleibt, als Einzelgänger, Spielverderber, Aus-der-Reihe-Tänzer, Fußgänger in einem motorisierten Zeitalter, immer in „Gegenrichtung“ unterwegs.
Eine markante Figur fehlt allerdings in diesem Reigen der Unzeitgemäßen, die des Dadasophen Raoul Hausmann, der in das mierausche Beziehungsgeflecht bestens hineingepasst hätte. Seit 1916 mit Franz Jung befreundet und ebenso stark wie dieser von der anarchistischen Psychoanalyse Otto Gross‘ beeinflusst, geistesverwandt mit Ernst Fuhrmann und Adrien Turel, mit denen er auch in Briefkontakt stand, 1931 einer der ersten Mitarbeiter der von Franz Jung neu herausgegebenen Zeitschrift „Gegner“ (die 1919, u.a. von Karl Otten gegründet worden war), vermittelt er 1961 den Kontakt zwischen seinem alten Gefährten Jung und dem jungen deutschen Verleger Jes Petersen. Im „Almanach“ berichtet Petersen über seine Beziehung zu Jung und die Gefahren und Schwierigkeit, in der Bundesrepublik der frühen 1960er Jahre ungewöhnliche Literatur zu verlegen , in dem Band „Strontium“ ist nun der gesamte Briefwechsel zwischen ihm, Jung und Hausmann aus den Jahren 1960-65 dokumentiert, der als gute Ergänzung zur mierauschen Anthologie gelesen werden kann.
Tatsächlich handelt es sich um ein mitunter tragikomisches Dokument einer letztlich gescheiterten Beziehung zwischen Personen, wie sie unterschiedlicher kaum hätten sein können. Hier der norddeutsche Großbauernsohn, der sich von der Landwirtschaft verabschiedet, um sich der avantgardistischen Literatur zu widmen, die sonst niemand verlegen will, dort die beiden Veteranen des kunstpolitischen Aufbruchs zur Zeit des 1. Weltkriegs, von den Nazis vertrieben, über das dritte Reich hinaus vergessen bzw. ignoriert. Erst in den 60er Jahren, als sich das restaurative Klima der frühen Nachkriegsjahre langsam ändert, findet die produktive Unruhe, die sie immer noch verkörpern, wieder Anknüpfungspunkte in der jungen Generation. Einen, wenn auch unglücklichen, Anfang stellt eben Jes Petersen dar, ein Enthusiast, aber auch ein Dilettant, der von allen praktischen Fragen des Verlegens keine Ahnung hat. Das müssen auch Jung und Hausmann erkennen, die von der Unzuverlässigkeit Petersens entnervt, zunehmend gereizt und verärgert reagieren. Ungeduldig, weil im Bewusstsein, dass ihnen die Lebenszeit davonläuft, überhäufen sie Petersen mit Ideen und Projekten, die diesem, ohne daß er es sich eingestehen würde, bald hoffnungslos über den Kopf wachsen. Am Ende steht die Ernüchterung. Noch wenige Monate vor seinem Tod sieht sich Jung zu einer sarkastischen Stellungnahme herausgefordert und auch Hausmann bricht nach weiteren fehlgeschlagenen Projekten schließlich resigniert den Kontakt ab.
Über die Dokumentation einer verkorksten Verleger-Autor-Beziehung hinaus enthält der Band interessante Porträts der Briefpartner. Da ist zum einen Raoul Hausmann, der in der Abgeschiedenheit der französischen Provinz, wohin ihn die Flucht vor den Nazis einst verschlagen hatte, und obwohl längst über 70 Jahre alt, immer noch rastlos an seinem künstlerischen Werk arbeitet, ein naiver Egozentriker, der um nichts so sehr besorgt ist, wie darum, dass seine vermeintlich herausragende Rolle in der Entwicklung der modernen Kunst auch entsprechend gewürdigt wird, der sich in kindische Prioritätsstreitigkeiten mit seinen ehemaligen Dada-Kollegen verwickelt und die jungen Künstler der Nachkriegszeit grundsätzlich nur als Nachahmer eigener Erfindungen wahrzunehmen bereit ist.
Ganz anders Franz Jung, der bis in seine letzten Lebenstage darum bemüht ist, das Werk seiner Freunde wie Ernst Fuhrmann oder Wilhelm Reich vor der völligen Vergessenheit zu bewahren, der bei aller körperlichen Hinfälligkeit bis zum Ende ein scharfsinniger (und manchmal scharfzüngiger) Beobachter seiner Zeit bleibt. So verfolgt er etwa mit großer Aufmerksamkeit die Aktivitäten und Publikationen der Situationistischen Internationale und die Auseinandersetzungen mit deren damaliger deutscher Sektion (der Gruppe „Spur“), wohlgemerkt zu einer Zeit, als diese noch, sofern sie überhaupt wahrgenommen wurden, als wildgewordne Künstler galten, und nicht als richtungsweisend für die kommenden Entwicklungen, die Jung leider nicht mehr miterlebte.