Genetiker: Und diese DNA-Sequenz bewirkt das Körperwachstum. Wenn hier eine Veränderung festzustellen ist, kommt es zu Fehlbildungen der morphologischen Gestalt.
Kritikerin: Also ich interpretiere das anders, für mich ist das in meinem subjektivem Fall Teil meiner Musikalität.
Genetiker: Was?
Kritikerin: Na, es ist Teil meines musikalischen Sehens, bei ihnen mag es ja das Körperwachstum bestimmen. Ich will ihnen das nicht nehmen, aber bei mir hat es nichts damit zu tun.
Genetiker: Es gibt eindeutige Belege das diese Sequenz für das Körperwachstum verantwortlich ist.
Kritikerin: Sie sagten doch das sei ein Text. Also kann und muß ich mir doch die je individuelle Interpretation anschauen. Muß mich fragen, wie der Text in meinem Kontext zu lesen ist. Und ich finde in der Anordnung da Teile meiner Musikalität wieder.
Genetiker: Sie können doch nicht einfach diesen Text auslegen, wie es ihnen paßt. Jede Gensequenz hat eine eindeutige Bedeutung. So wie die Buchstaben des Alphabets.
Kritikerin: Sie meinen also das A in Archschloch hat die selbe Bedeutung wie das A in Alphabet. Was würden Sie denn sagen, wenn ich zu Ihnen sage Sie A.. ?
Genetiker: Sie können die Genetik doch nicht mit der normalen Sprache vergleichen. Die Festellung der Bedeutung müssen Sie schon uns Naturwissenschaftlern überlassen – liebe Frau.
Kritikerin: Ich hoffe doch nicht, daß sie mich wirklich für lieb halten. Und die autoritäre Textauslegungspraxis wurde mit dem Mittelalter abgeschaft, das sollten auch Sie langsam begreifen. Oder fordern Sie neue Zensurbehörden gegen NichtnaturwissenschaftlerInnen, vor allem gegen Frauen.
Genetiker: Ich habe auch durchaus kompetente Koleginnen. Auch wenn Sie sich das vielleicht nicht vorstellen können.
Kritikerin: Aber Texte wie die Gene meinen Sie wie in autoritär totalitären Systemen behandeln zu können. Jeder Text ist höchst vieldeutig. Allein wenn ich versuche, die AutorInnenposition zu analysieren. In wie weit sie mit der Position der realen AutorIn übereinstimmt oder nur der Imagination eines Ichideals. Oder ..
Genetiker: Entschuldigen Sie, wenn ich Sie hier unterbreche, aber ich glaube Sie haben da etwas mißverstanden. Wenn wir als Genetiker heute vom Text des Genoms reden, dann sagen wir das natürlich nur so, aber ..
Kritikerin: Ach, Sie quatschen nur so rum. Und dann maßen Sie sich an, mir zu erzählen, was die richtige Interpretation ist.
Genetiker: Laßen Sie mich doch bitte ausreden. Wir wollen doch hier zivilisiert miteinander umgehen. Also, richtiger wäre es wohl von einem Code zu sprechen statt von einem Text.
Kritikerin: Ach Sie meinen so’n Strichcode.
Genetiker: Einen höchst komplexen Code.
Kritikerin: So einschließlich Haltbarkeitsdatum.
Genetiker: Ja, das könnte man so sagen. Wir suchen ja schon lange nach dem passenden Gen. Wobei die Wahrheit wohl komplizierter ist und hier eine ganze Reihe Gensequenzen zusammenwirken.
Kritikerin: Ach und Sie meinen, wenn Sie den Strichcode ändern, können Sie Waren ruhig länger lagern. Was ist denn das für’n Beschiß. Was würden Sie denn sagen, wenn Ihr Supermarkt das so machen würde.
Genetiker: Das ist doch völlig etwas anderes.
Kritikerin: Na, ich glaube Sie würden sich schon schärfer beschweren.
Genetiker: Ich glaube nicht, daß da ihnen da noch viele aus dem Publikum folgen können. Gehen wir halt ganz weg. Keine Beschriftung, begreifen Sie die Gene als Bauplan.
Kritikerin: Ach und wer ist der Bauherr und die Bauaufsicht?
Genetiker: Im gewissen Sinn ist das auch im Bauplan enthalten. Man könnte sagen, daß ..
Kritikerin: Wie, der Bauplan ist der Bauherr?
Genetiker: Also wir wollen doch sachlich bleiben. Die Natur ist natürlich der Bauherr. Und wenn der Bauplan einen Fehler hat, dann ..
Kritikerin: Hier habe ich einen Bauplan, erläutern Sie ihn mir doch mal. Und sagen Sie mir, ob da ein Fehler drin ist. Kritikerin legt einen Plan vor.
Genetiker: Na ja, also, – – – – sind das Straßen? Sie müssen mir schon sagen, wie ich den lesen soll.
Kritikerin: Wieso?
Genetiker: Das kann doch alles sein, und alles bedeuten. Sind das Straßen oder Oberleitungen. Kanalisation? – Oder was?
Kritikerin: Und wer sagt das der Natur – Gott oder wer? Der große Hermeneutiker, der allumfassende Textauslegungsbefugte oder wie?
Genetiker: Genetische Informationen sind in der Sprache der Natur niedergeschrieben.
Kritikerin: Jetzt haben wir schon wieder eine Sprache und eine Niederschrift, also einen Text. Damit sind wir also wieder am Anfang unserer Diskussion.
Genetiker: Sie wollen doch gar nicht verstehen.
Kritikerin: Das hat der Pastor beim Konfirmationsuntericht auch immer gesagt.
Anmerkungen
Der Text ist literarisch.