Am 10.Oktober wurde in Istanbul der Prozess gegen 18 Frauen und einen Mann fortgesetzt, denen "Verunglimpfung des Staates" vorgeworfen wird. Sie hatten auf einem Kongress die Praxis der sexuellen Folter auf Polizeistationen angeprangert und die Bestrafung der Täter gefordert.
Nein zu sexueller Gewalt durch staatliche Sicherheitskräfte“ – lautete der Titel des Kongresses im Juni 2000 (vgl. Otkökü 2/GWR 260, Sommer 01 & Otkökü 6/GWR 271, Sept. 02). Ein breites Frauenbündnis hatte ihn in Istanbul organisiert, um auf die Praxis der sexuellen Folter auf Polizeistationen oder während militärischer Operationen in den kurdischen Gebieten aufmerksam zu machen. Beklagt wurden körperliche Durchsuchungen durch männliche Beamte, Jungfräulichkeitskontrollen und selbst Vergewaltigungen (auch mit Polizeiknüppeln). „Die Täter wählen diese Art der Folter, weil sie damit rechnen, dass die Opfer darüber Stillschweigen bewahren“, erläutert die Anwältin Eren Keskin. „Die Ehre einer Frau hat in der Türkei einen hohen Stellenwert, und nicht immer ist die Familie damit einverstanden, dass eine Frau ihre Vergewaltigung öffentlich macht, abgesehen von den Repressionen, die dies mit sich bringt.“
Der Kongress versuchte dieses Tabu zu brechen, um betroffene Frauen zu ermutigen und die Dimension der Verbrechen aufzuzeigen. So berichtete Rechtsanwältin Fatma Karakas von systematischen Vergewaltigungen bei Razzien und Hausdurchsuchungen in kurdischen Dörfern. Das Militär begreife dieses Vorgehen als Teil seiner Kriegsstrategie gegen die kurdische Bevölkerung. Andere Kongressteilnehmerinnen sprachen von sexueller Misshandlung oder Vergewaltigung durch Polizisten und forderten deren Bestrafung. Ein Vater prangerte das Verbrechen an seiner Tochter an.
Obwohl der Kongress offiziell genehmigt worden war, müssen sich Redner und Rednerinnen ebenso wie die Organisatorinnen seit fast zwei Jahren wegen „Verunglimpfung und Verleumdung des Staates und seiner Organe“ vor dem Gericht in Istanbul verantworten. Ihnen drohen Haftstrafen bis zu sechs Jahren.
Der Prozess gegen die 19 Angeklagten zeichnet sich in erster Linie durch Absurditäten während der jeweils etwa 30-minütigen Verhandlungen aus. Am 21. März 2001 beispielsweise wurde Fatma Pollatas zur Kongressrednerin erklärt, obwohl sie eine zwanzigjährige Haftstrafe absitzt und zum fraglichen Zeitpunkt schon ein Jahr lang inhaftiert war. Daraufhin ordnete das Gericht die Prüfung des Sachverhalts an. Bis heute waren die Ermittlungsbehörden nicht in der Lage oder willens zu klären, ob Frau Pollatas aus dem Gefängnis fliehen und am Kongress teilnehmen konnte oder nicht.
Auch den 15. Mai 2002, den fünften Verhandlungstag, hätte man sich sparen können: Verlesen wurde der Schriftverkehr zwischen Staatsanwaltschaft, Polizeipräsidium und dem Gericht über den Verbleib einer Videokassette. Das bewusste Video über den Kongress, das vom Gericht von Anfang an als Beweismittel herangezogen wird, ist und bleibt verschwunden.
Der 10.Oktober reihte sich in den bisherigen Prozessverlauf ein: Die Verhandlung wurde nach kurzer Zeit um weitere vier Monate vertagt.
Der Grund für die Verzögerungstaktik liegt auf der Hand: Der Prozess wird nicht auf der juristischen, sondern auf der politischen Ebene entschieden, und die ist zur Zeit unsicher. Denn wenn die Angeklagten freigesprochen würden, könnten sie den Vorwurf der sexueller Folter durch Polizei- und Militärangehörige ungestraft weiterverbreiten. Die Forderung nach Bestrafung der „Ordnungshüter“ wäre folgerichtig – aber nicht im Sinne der türkischen Regierung. Andererseits wäre eine Verurteilung der 19 Angeklagten ein Minuspunkt auf dem Bewerbungszeugnis für die Europäische Union. Nach Einschätzung der EU-Kommission erfüllt die Türkei trotz jüngster Reformen ohnehin nicht die Kriterien für die Aufnahme von Beitrittsgesprächen nicht. Es gebe im politischen System der Türkei noch „Grauzonen“, beispielsweise hinsichtlich der Rolle der Armee, ließ ein EU-Beamter wissen. Derweil überzieht die türkische Regierung Unterstützer von Vergewaltigungsopfern weiterhin mit Prozessen, um sie einzuschüchtern. Ärztinnen des Behandlungszentrums der Menschenrechtsstiftung werden der Unterstützung einer „kriminellen Organisation“ beschuldigt, weil sie misshandelten Frauen Atteste ausgestellt haben. Journalisten, die Betroffene zitieren, sehen sich mit Klagen wegen „Diffamierung des Militärs“ konfrontiert. Und auch die Rechtsanwältinnen der 19 Angeklagten werden traktiert. Allen voran Eren Keskin, die für ihre Arbeit wahlweise der „Verunglimpfung“ oder der „Aufstachelung der Bevölkerung zu Hass und Feindschaft“ angeklagt wird.
Nach einer Veranstaltung zum Internationalen Frauentag im März dieses Jahres in Köln, auf der Eren Keskin über Frauenrechte in der Türkei sprach, griff die türkische Presse sie massiv an. Die Tageszeitung „Hürriyet“ warf ihr Verrat vor und der Journalist Fatih Altayli drohte: „Ich denke, wenn Eren Keskin zurückkommt, wird sie ihre sexuelle Belästigung bekommen… Vielleicht ist es ja das, was sie will“
Die nationale Anwaltskammer in Ankara hat gegen Frau Keskin inzwischen ein einjähriges Berufsverbot ausgesprochen. Eine Klage dagegen ist zwar möglich, Erfolg hat sie aber nur, wenn sich eine internationale Öffentlichkeit dazu verhält.