Nachdem tschetschenische Terroristen im Oktober 2002 ein ganzes Moskauer Theater als Geisel genommen hatten, beendeten russische Spezialeinheiten diese Geiselnahme mit einer Militäraktion, die ohne Rücksicht auf Verluste durchgeführt wurde und folglich zu jeder Menge Verluste führte.
Die Skrupellosigkeit der GeiselnehmerInnen machte es leicht zu behaupten, daß eine Verhandlungslösung ohnehin nicht möglich gewesen sei; jedenfalls wurde sie nicht einmal versucht. Die Rettung der Geiseln versank in dieser Aktion im Chaos: es ging nicht um ihr Leben, es ging um eine staatliche Machtdemonstration.
Danach verschärften sich die willkürlichen Repressalien gegen Tschetschenen in Rußland noch einmal. Der Krieg – nein, natürlich die antiterroristische Operation in Tschetschenien geht weiter; mittlerweile gab es den nächsten Anschlag der tschetschenischen Separatisten, die das Regierungsgebäude in Groznyj in die Luft jagten; das mordet und brennt so vor sich hin, und kein Mensch hat die blasseste Vorstellung davon, was am Ende dabei herauskommen soll. Eine Reintegration Tschetscheniens in die Russische Föderation ist, nach allem was geschehen ist, kaum denkbar; ein unabhängiges Tschetschenien wäre nichts anderes als das Plünderungsobjekt einer einheimischen Gangsterherrschaft.
Daß Tschetschenien es nur in Ausnahmefällen in die Schlagzeilen der westlichen Medien schafft, könnte auch mit dem ratlosen Entsetzen vor einem Musterbeispiel von Staatenzerfall und Militärpolitik zu tun haben. Wir beobachten ein Experiment: Was passiert, wenn zuwiderlaufende staatliche Interessen – den Laden zusammenhalten gegen den Widerstand derer, die einen eigenen aufmachen wollen – mit ihren ureigensten Mitteln, nämlich militärischen, aufeinanderprallen: eine kleine Apokalypse.
Nicht einmal mehr die Diplomatie hat die Chance, dem Krieg einen Rahmen zu setzen: es geht nicht mehr um irgendeinen Interessenausgleich (worunter man ja auch die Bedingungen einer Unterwerfung verstehen kann), es geht um alles oder nichts.
Sind die also alle vollends irrsinnig geworden?
Die tschetschenische Bevölkerung hätte allen Grund, die separatistischen Warlords zum Teufel zu schicken – unter ihrer Herrschaft ist das Land zum Menschenhändlerparadies geworden -, und sie tut es nicht, weil die russische Armee ihr keine Wahl läßt, als sich auf die Seite der Kidnapper zu stellen. Das Militär kann das Land nicht kontrollieren, nur mehr terrorisieren; was da mit Gewalt gehalten werden soll, ist keine staatliche oder wirtschaftliche Struktur mehr, nur noch ein weithin verwüstetes Territorium, durch das ein paar Pipelines laufen, die von verbunkerten Garnisonen bewacht werden.
Wenn der ganze Rest vor die Hunde geht, muß das niemanden interessieren, die Region ist eh abgeschrieben; wertvoll allenfalls noch als Beispiel staatlichen Selbstbehauptungswillens: wir lassen uns in unseren Machtbereich nicht reinpfuschen!
Im russisch-tschetschenischen Krieg spiegelt sich auch der Krieg des Westens gegen den Terrorismus, von dem man uns ja bereits gesagt hat, daß er lange dauern werde. Es geht auch hier nicht mehr darum, Staaten in das eigene Ordnungsgefüge, in den Weltmarkt zu integrieren; dem Markt kann sich sowieso niemand mehr entziehen. Wir haben es gerade nicht mit einer Wiederauflage des klassischen Imperialismus zu tun: die Welt ist erobert, und es geht darum, das Eroberte – jedenfalls die verwertbaren Teile davon – zu behaupten; auch um den Preis der Zerstörung der überflüssigen Bestände.
Das Hasardspiel, das die USA gegenwärtig mit dem Krieg gegen den Irak betreiben, gibt ein schönes Beispiel dafür. Nach den Maßgaben jeder halbwegs verantwortungsbewußten Politik kann das nur schiefgehen, und die Frage ist bloß, ob im Falle eines Krieges die Zerstörung sich auf den Irak beschränken oder ob nicht doch der gesamte Nahe Osten in Brand geschossen wird.
Genau so wenig wie der Staat der tschetschenischen Banden ist das Regime Saddam Husseins ein diskutables Modell; aber es gibt in keinem Fall eine militärische Lösung. So unerträglich die Zustände im der „Tschetschenischen Republik Itschkerija“ oder im Irak sein mögen, die staatliche Militärpolitik hat eben keine Alternative zu bieten – die Vorstellung, Zivilisation und Menschenrecht mit Hilfe militärischer Macht verbreiten zu können, hat sich bereits blamiert. Vor weiteren Versuchen in der Richtung kann nicht laut genug gewarnt werden: der Weltgeist hat sich der technischen Entwicklung angepaßt – er sitzt nicht mehr zu Pferde, er schwebt auf den Tragflächen eines Bombers ein. Das Ergebnis sieht danach aus.