anarchismus

Das Ende der Polarnacht

Le Poulpe oder der triviale Charme der Anarchie

| Joseph Steinbeiß

„Wer Kitsch erzeugt“, wetterte 1950 der große, alte Romancier Hermann Broch, „ist nicht einer, der minderwertige Kunst erzeugt, er ist kein Nichts – oder Wenigkönner, […] er ist kurzerhand ein schlechter Mensch, er ist ein ethisch Verworfener, ein Verbrecher, der das radikal Böse will. Oder etwas weniger pathetisch gesagt: er ist ein Schwein“. (1)

Tja, wirklich schrecklich, diese Sache mit der Trivialliteratur (auf die Broch im wesentlichen Bezug nimmt, wenn er von „Kitsch“ redet). Wohl jeder und jede, der oder die sich auf Bildung und Belesenheit etwas zugute tut, wird bereitwillig die Nase rümpfen, wenn Worte wie „Trivial-„, „Groschen-“ oder „Unterhaltung“ sich verunzierend vor die altehrwürdige Vokabel „Roman“ gedrängelt haben. Trivialliteratur zu lesen hat bis heute etwas Heimliches, Verborgenes, Unanständiges: ein halbweltliches Treiben an wie zufällig herumgedrehten Bücherständern am Bahnhofskiosk, voller „John Sinclair“, „Dr. Andrea Bergen“, „Der Bergdoktor“ oder „Legenden der Leidenschaft“; ein Bastei-Lübbe-Strich, zu dem man sich nur mit dunkler Brille und hochgeklapptem Kragen wagt.

Jahrzehntelang schwebte auch der literaturwissenschaftliche Bannfluch über so unterschiedlichen Genres wie dem Science Fiction, dem Liebes-, Abenteuer-, Grusel – oder Kriminalroman. Man versteifte sich auf wohlbegründete Verachtung, der Erfolg manch seichten Machwerks machte seine „künstlerischen“ Absichten nur noch verdächtiger, und seufzend nahm man die Existenz der sogenannten Populärlitertur hin wie das schlechte Wetter. Niemanden schien es zu beunruhigen, daß es nicht selten die populären Genres und Geschmäcker sind, die weit genaueren Aufschluß über den Zustand bestimmter Epochen und Gesellschaften geben als deren sogenannte „hohe“ Literatur. Und niemand machte viel Aufhebens um die ihrerseits triviale Erkenntnis, daß die Ein – bzw. Abstufung eines fiktionalen Textes nach „U“ – und „E“- Literatur eine höchst zeitgebundene und relative Angelegenheit sei.

Denn mal Hand auf’s Herz: Wer würde wohl auf seinen Winnetou verzichten? Wer auf seinen Hexer oder Zinker? Wer auf seinen Graf von Monte-Christo? Kapitän Nemo? Albus Dumbledore? Scarlett O’Hara? Gestalten hochtrivialer Literatur gehören untrennbar zum kulturellen Kollektivbewußtsein, und ihre „verderbte Herkunft“ fällt kaum jemandem mehr auf. Manche gefeierten Romane und Erzählungen entpuppen sich bei näherem Hinsehen als zum Heulen sentimental (Man denke nur an Rilkes „Kornett Malte Laurids Brigge“, bei dem man passagenweise den Eindruck hat, als handele es sich um ein Libretto für Udo Jürgens grausigste Schnulzen: […] wo traurige Frauen von uns wissen“). Manche ausgewiesenen Trivialtexte dagegen, wie der zu Unrecht vergessene Roman der verbrannten Dichterin Adrienne Thomas: „Reisen Sie ab, Mademoiselle“, gehören zum Spannendsten und Aufschlußreichsten, was etwa über die Jahre des Exils zur Zeit des Dritten Reiches geschrieben wurde. Romanciers wie Günther Grass oder Siegfried Lenz bedienen sich ganz selbstverständlich trivialer Strukturelemente zur Bereicherung ihrer Erzählkunst, und manch ehemaliger Groschenromanschreiber (etwa Georges Simenon) ist aus den Literaturgeschichten längst nicht mehr wegzudenken. Der zu Lebzeiten ständig angefeindete Feuilletonromancier Alexandre Dumas père, der zeitweise ein ganzes Heer von „Ghostwritern“ in den Kellern seines Hauses an den „Drei Musketieren“ arbeiten ließ – jeden zu bestimmten Details – hat es mittlerweile sogar bis in die französische Ehrenhalle historischer Unvergänglichkeit geschafft: ins Pariser Pantheon. Literarische „Verbrecher“ mit den Abzeichen der Légion d’Honneur – wer soll sich da noch auskennen…

Ein postmoderner Krimi

In Frankreich macht gegenwärtig ein (populär)literarisches Phänomen Furore, das es in dieser Form noch nicht gegeben hat. Es heißt Le Poulpe (dt. ‚die Krake‘) und scheint alle Regeln des Literaturmarktes über den Haufen werfen zu wollen. Le Poulpe ist zunächst einmal nicht mehr und nicht weniger als eine Serie von Kriminalromanen.

Mittlerweile sind 203 Poulpes erschienen (bei Drucklegung dieses Artikels dürften es mehr sein). Es geht um Mord und Heimtücke, Rätsel und Verwicklung, Verbrechen und deren Aufklärung. Im Verkauf sind die Romane schmuddelig und kostengünstig; echte Groschenhefte für’s Klo oder für lange Zugreisen. Nichts Außergewöhnliches also. Nichts Außergewöhnliches?

Kaum je zwei Poulpe-Romane wurden von ein – und demselben Autor bzw. ein – und derselben Autorin geschrieben. Es gibt einen Poulpe, den eine Schulklasse in gemeinsamer Arbeit verfaßt hat und der passenderweise an besagter (und, wie’s scheint, hochkrimineller) Schule spielt. Ein anderer Poulpe stammt aus der Feder von französischen Strafgefangenen, und es ist nicht einzusehen, warum in Zukunft nicht Müllmänner, Skatspieler, PolizistInnen, Obdachlose oder Universitätslektorinnen ihr Glück einmal mit einem Poulpe versuchen sollten. Einen Poulpe können alle schreiben – das gehört zum Konzept.

Werden einige wenige biographische Daten beibehalten und strukturelle Vorgaben berücksichtigt, steht einem schreibenden Spaziergang durch die Welt des Poulpe nichts im Wege.

Denn hinter der Maske des Trivialromans verbirgt sich ein postmodernes Genrehopping.

Der programmgemäße Mord ist nichts als ein Vorwand, ein Panorama der zeitgenössischen französischen Gesellschaft auszubreiten, das in seiner literarischen Umsetzung natürlich häufig höchst wechselnder Qualität ist, aber immer die Möglichkeit bietet, die Verdorbenheit und Ungerechtigkeit des eigenen sozialen Umfeldes vorzuführen, ohne zu langweilen oder moralinsauer daherzutropfen: ein Groschenheft als Narrenkappe! Die Poulpe– Romane sind nämlich echte Krimis, und gelegentlich nicht einmal schlechte: es wird geschlagen, geschoben, bestochen, beleidigt und vertuscht, daß es eine Freude ist. Gleichzeitig stecken die Romane voller intertextueller Anspielungen und ironischer Querverweise, Doppeldeutigkeiten und Wortspiele. Zu einer der erwähnten strukturellen Vorgaben gehört beispielsweise der spielerisch-ironische Titel, in dem bekannte Werke der Literatur oder französische Redensarten (mehr oder weniger) kunstvoll abgewandelt werden. So heißt ein Poulpe z.B. „Nazis dans le métro“ (dt: ‚Nazis in der Metro‘) nach dem Titel des berühmten Romans von Raymond Queneau, „Zazi dans le métro“. Ein anderer wandelt herrlich geschmacklos das altbekannte französische Proverbe „La cérise sur le gateau“ (dt. in etwa ‚Das Sahnehäubchen auf dem Kuchen/ das i – Tüpfelchen/ die Krönung‘) zu „La cérise sur le gateux“ (dt.:‚Die Kirsche auf dem alten Sack‘) ab. Manch kryptisches Titelkupfer der Poulpe– Romane ist (vor allem für NichtmuttersprachlerInnen) fast überhaupt nicht zu entschlüsseln.

Die intellektuelle Angriffslust und Spielfreude der Serie kennt kaum Grenzen: es wird dem nationalen Bildungsdünkel der Franzosen auf der Nase herumgetanzt, es werden Film – und Fernsehfiguren zweckentfremdet, die extreme Rechte wie die Linke kommen (in den gelungeneren Poulpe– Romanen) selten mit weniger als einem blauen Auge davon, und die Kritik an Staat, Wirtschaft und Gesellschaft ist zuzeiten nachgerade haarsträubend grob und ruppig.

Diese Art, den Kriminalroman als strukturelle Folie zu benutzen und dabei ganz andere literarische Ziele zu verfolgen, ist nicht neu. Manuel Vásquez Montalbán hat sie im postfranquistischen Spanien mit seinen Pepe Carvalho – Romanen in die Welt gesetzt, und sein Kollege Leo Malet schlug jahrelang mit seinen „Nouveaux Mystères de Paris“ und deren Held Nestor Burma der etablierten Literaturkritik ein Schnippchen, die in seinen Büchern nichts weiter sehen wollte als eben ziemlich miese Krimis. Mit Le Poulpe ist der postmoderne Kriminalroman endgültig zum Massenphänomen geworden – in jeder Hinsicht, wie es scheint.

Vater, Sohn, unheiliger Geist

Es wird Zeit, ein wenig Vorstellung nachzutragen, ein paar Daten und Fakten. Le Poulpe heißt mit bürgerlichem Namen Gabriel Levasseur und arbeitet als Privatdetektiv. Seine enorm langen Arme haben ihm den Spitznamen „Krake“ eingebracht. Im Gegensatz zu seinen Kollegen Carvalho oder Burma, die zwar eine Reihe von Eigenschaften (man denke an die vornehme Freßsucht Carvalhos, der dem genervten Leser zuzeiten seitenweise Kochrezepte mitteilen zu müssen meint), aber keinen eigentlichen Charakter haben, darf Gabriel Levasseur in den besseren Poulpes zweifeln, hadern, seine Meinung ändern und ist überhaupt eine gelungenere, dreidimensionale Figur. Das eigentlich verblüffende aber ist: Gabriel Levasseur ist französischer Anarchist. Ein desillusionierter, einsamer Anarchist freilich: „Der Blödmann hatte lange Zeit geglaubt, das Menschengeschlecht solle sich sorgen um Wahrheit und Anständigkeit. […] Jetzt trudelte Gabriel ziellos an der Peripherie der menschlichen Komödie herum, eine Art Vorortbewohner, der aus den Augenwinkeln den Schuften bei der Arbeit zusah. Nur hin und wieder mischte er sich ein. Um eine Kopfnuß auszuteilen, wenn sie ihre Macht ein bißchen zu sehr missbrauchten. Oder ganz einfach, wenn ihm die Sache wirklich auf die Nerven ging“. (2) Gabriels Ziehvater ist katalanischer Anarchosyndikalist: Pedro, ehemaliger Kämpfer des Spanienkrieges, gegenwärtiger Wohnsitz – wie sollte es anders sein – Barcelona. Pedro fällt die Aufgabe zu, Gabriel mit falschen Papieren zu versorgen. Er tut dies nicht nur kunstvoll und direkt, sondern sogar politisch keimfrei. In jeden falschen Pass trägt Pedro als Name den eines berühmten historischen anarchistischen Aktivisten oder Attentäters ein, als dessen Wiedergänger Le Poulpe fortan durch den Roman spaziert: „Er nahm sich also ein Zimmer im ‚Sauvage‘, unter dem Namen Simon Biscuit. Der Patron wollte seinen Ausweis sehen. Kein Problem.

Pedro hatte gute Arbeit geleistet. Dieses mal zog der Katalane den Hut vor dem Rotzlöffel, der mit Ravachol und seiner wilden Horde umhergezogen war. In seinem Prozeß antwortete Simon, genannt Biscuit, auf alle Fragen des Gerichtes unerschütterlich: ‚Ganz recht‘. ‚Sie haben am Dardare-Prozeß teilgenommen?‘.- ‚Ganz recht‘.- ‚Sie haben die Verurteilten rächen wollen?‘.- ‚Ganz recht‘.- ‚Sie haben die Bombe gelegt, ohne im geringsten zu zögern!‘.- ‚Ganz recht‘. Später, auf den Iles du Salut [Strafgefangeneninseln vor Französisch-Guayana, Anm. JS], als er auf einen Baum geklettert war, um die Soldateska an der Nase herumzuführen, hatte ihn einer der Jäger wie einen Spatz heruntergeschossen“. (3)

Der Widerpart Levasseurs, sein Intimfeind und ständiger Verfolger ist Inspektor Jaques Vergeat. Schon der Name ist für literatur – und krimifeste Frankophile eine Gemeinheit. Vergeat, das ist zunächst einmal Vautrin, der verbiesterte, sture und unmenschliche Polizeibüttel aus Victor Hugos „Les misérables“. Zum anderen aber ist Vergeat einer der beliebtesten Kinohelden Frankreichs: eben Jaques Vergeat, der Bulle mit dem gewissen rüden Charme, den Lino Ventura in einer Reihe von Filmen großartig verkörpert hat (darunter „Adieu Poulet!“). Von Poulpe zu Poulpe wird Vergeats Biographie widerlicher: Fallschirmjäger im Algerienkrieg, Verbindungen zur rechtsradikalen Terrororganisation OAS, überzeugter Front-National-Wähler…dieser Mann hat einfach alles, was einen Anarchisten wie Gabriel vor Ekel schütteln muß. Vergeat repräsentiert im Universum der Poulpe-Romane unmissverständlich die französische Staatsgewalt – in Form ihrer vorzüglichsten Vertreterin, der Polizei. Sam Spades ewiger Ärger mit „den Bullen“ (4) wird bei Le Poulpe ins Politische gewendet.

Der triviale Charme der Anarchie

Weltanschaulich wetterfeste Genossinnen und Genossen werden mit einigem Recht zu schimpfen anfangen: in den Poulpe-Romanen werde am Anarchismus lediglich „der individualistische Aspekt gesehen, und nicht der eines Werkzeugs zur Befreiung“. (5) Auch, was auf den ersten Blick wie ein Schritt zur Verwirklichung alter libertärer Literaturträume aussieht – das allen Klassen und Schichten zugängliche Produktionskonzept der Poulpe-Serie – könnte mit gleichem Recht als das erste erfolgreiche Franchisingunternehmen der populären Literatur bezeichnet werden. Zumal, wenn man bedenkt, daß mittlerweile der französische Verlagsgigant Seuil die Rechte übernommen hat. Um all das soll es aber gar nicht gehen.

Es geht um die doch bemerkenswerte Tatsache, daß der anarchistische Außenseiter, in Zolas „Germinal“ noch ein dämonisch-getriebener Menschenschlächter, mittlerweile in einer bestimmten, überaus populären und verbreiteten Literatur nicht nur salonfähig, sondern zu einer positiven Identifikationsfigur geworden ist. Ein Wandel, den zu konstatieren und zu analysieren vielleicht interessanter wäre, als ihn von vorneherein besserwisserisch beiseite zu schieben. Nicht zuletzt, um zu klären, welche Vorstellung von Anarchismus transportiert wird.

Gabriel Levasseur ist ohne Zweifel literarisch traditionsgebunden. Aber gleichzeitig ist er eine durch und durch zeitgenössische, zeitgemäße Figur, in der sich die sozialen und politischen Umbrüche der letzten zwei Jahrzehnte spiegeln. Die „transzendentale Heimatlosigkeit“ (Lukács) der Romanhelden des 19. Jahrhunderts ist in den Poulpe-Romanen zur völligen Loslösung des Individuums aus allen gängigen Welterklärungsmustern geworden. Gabriel Levasseur gehört keiner philosophischen oder ideologischen Schule mehr an. Er betritt Kirchen nur zu konspirativen Zwecken oder auf Leichensuche. Und er macht sein Kreuzchen hinter keiner Partei. Es gibt für ihn einfach keine fremdgesetzten Wegweiser mehr, nach denen er sich richten könnte.

Levasseur ist ein moderner „Pícaro“, ein zynischer, verbitterter, desillusionierter Schelm, der in alle Nischen der Gesellschaft eindringen kann, um sie zu entlarven. Er folgt dabei einzig und allein seinem Gerechtigkeitsempfinden, dem Bewußtsein, daß im etablierten Wertekanon reichlich schief gesungen wird und daß, wer Macht besitzt, sie auch missbrachen wird. Statt über den Verlust an „Werten“ und ideologischem Rüstzeug zu klagen, erscheint der krasse Individualismus Levasseurs in den Poulpe-Romanen als etwas durchaus positives, wünschenswertes. Ausgerechnet der Anarchist wird somit im zeitgenössischen Unterhaltungsroman zum prototypischen Träger eines Weltverstehens, daß sich gewissermaßen auf’s Neue beim Unrechtsempfinden des Einzelnen „erdet“. Und es ist der Anarchist, der freigiebig nach allen Seiten der Gesellschaft hin austeilen kann, da im Rahmen seines eigenen Weltbildes keine Wanzen mehr nisten können.

All dies mag eine grobschlächtige, klischeebehaftete, zweifellos triviale Vereinfachung des Anarchismus und seiner Ideen sein, gewiß. Bleibt festzuhalten, daß diese unterhaltsame, zutiefst postmoderne Neulektüre des Anarchismus ihren künstlerischen Charme hat. Und Charme ist etwas, das politische Ideologien (leider) nur höchst selten besitzen.

(1) Broch, Hermann: " Einige Bemerkungen zum Problem des Kitsches". Ein Vortrag (1950/51), in: ders. Dichten und Erkennen. Essays, Band I, Zürich, 1955, S.216ff.

(2) Le Poulpe, "L'amour tarde a Dijon", Paris, o.D., S.78.

(3) Ebenda, S.81-82.

(4) Vgl. Chandler, Raymond, Die Tote im See, Zürich, 1976 und andere Romane der "schwarzen Serie".

(5) Maricourt, Thierry, Histoire de la littérature libertaire en France, Paris, 1990, S.172.