Der seit einigen Monaten im Blätterwald und in diesem Herbst durch die jüngsten Medienauftritte des US-Professors Daniel Jonah Goldhagen noch verbreiteter geführte Streit um den Holocaust als Folge "individueller Verantwortung" und als "nationales Projekt" eines "eliminatorischen Antisemitismus" ist auch uns eine intensive Auseinandersetzung wert. Dies auch deshalb, weil wir entgegen Goldhagens naiver Versicherung, in der heutigen demokratischen Gesellschaft sei Antisemitismus nicht mehr prägend, weiterhin die Gefahr eines heutigen "Antisemitismus ohne Juden" sehen und die strukturellen Bedingungen, die zu Auschwitz führten, als nach wie vor vorhanden betrachten. (Red.)
Seit dem Frühjahr ‚tobt‘ ein neuer (Historiker-)Streit in bundesdeutschen und internationalen Medien. Wie bereits vor 10 Jahren, als die Kontroverse über die Singularität des Holocaust und dessen Vergleichbarkeit mit anderen Menschheitsverbrechen hohe Wellen schlug, wird nun erneut lautstark und anhaltend über die NS-Vergangenheit gestritten.
Den Anlaß für die jüngste Debatte bietet das soeben übersetzte Buch des US-amerikanischen Politologen Daniel Jonah Goldhagen, Associate Professor an der Havard University: „Hitlers willige Vollstrecker. Ganz gewöhnliche Deutsche und der Holocaust“ (Siedler Verlag, Berlin 1996, 730 S., 59,80 DM). „Hitlers willing executioners“ (Hitlers willige Henker), so lautet Goldhagens Buchtitel im Original. Die an einigen Stellen geglättete deutsche Übersetzung macht z.B. aus ‚Scharfrichtern‘ bzw. ‚Henkern‘ (executioners) im Titel ‚Vollstrecker‘ (executors). Der Autor rückt das zentrale Anliegen der Nazis in den Mittelpunkt seiner Untersuchung: die Vernichtung des europäischen Judentums. Hierbei interessieren ihn weniger die NS-Ideologie und die Beweggründe der damaligen Funktionsträger als vielmehr das Alltagsdenken und Verhalten der nichtjüdischen deutschen (Mehrheits-)Bevölkerung.
Die drei Fallstudien Goldhagens
Goldhagens Forschungen basieren auf drei Fallstudien: die erste Fallstudie untersucht den Anteil der Polizeibataillone beim Holocaust, deren Aufgabe darin bestand, in den von der Wehrmacht besetzten Gebieten sämtliche Juden und Jüdinnen zu erschießen. Insgesamt „wüteten“ rund vierzig Polizeibataillone in Polen und Rußland und ermordeten weit mehr als eine Million Juden und Jüdinnen. Diese Mordeinheiten setzten sich aus allen Teilen der Bevölkerung zusammen: Arbeiter, Angestellte, Bauern, Beamte, Akademiker. Nur ein Drittel war Mitglied der NSDAP, nicht einmal jeder Dreißigste gehörte der SS an. Das Durchschnittsalter betrug 36 Jahre, die meisten hatten Familien und Kinder (hierzu Goldhagen, S.219ff.). Über die Polizeibataillone forschten bereits Heiner Lichtenstein und Christopher R. Browning. (1) Allerdings gelangen beide Autoren zu entgegengesetzten Schlußfolgerungen: Während für Browning die Mitglieder des von ihm untersuchten Polizeibataillons 101 bei der „Endlösung“ in Polen Juden und Jüdinnen nur widerwillig umgebracht hätten, attestiert ihnen Goldhagen aufgrund ihres antisemitischen Affektes Vergnügen am Quälen und Töten, das ihnen zugleich durchaus sinnvoll erschien. Während Goldhagen den Grund, warum „ganz normale Deutsche“ zu Massenmördern wurden, in deren Überzeugungen, sprich: virulentem Antisemitismus, ansiedelt, sind es für Browning die damaligen Umstände. Das Reserve-Bataillon 101 bestand aus mehreren Hunderten von zumeist aus Hamburg stammenden Männern – die Einheitsführer waren Berufspolizisten, die Mannschaftsdienstgrade häufig Hafenarbeiter, Lastwagenfahrer, Bauarbeiter, Seeleute, in der Mehrzahl durchaus keine NS-Überzeugungstäter, sondern „ganz normale Deutsche“. 1942 in den polnischen Distrikt Lublin abkommandiert, hatte diese Einheit bis Ende 1943 38 000 Juden und Jüdinnen ermordet und 45 000 weitere jüdische Menschen in die Deportationszüge Richtung Vernichtungslager Treblinka verladen.
Die zweite Fallstudie Goldhagens behandelt die „Arbeits“lager für Juden und Jüdinnen. Insgesamt gab es mehr als 10 000 Lager, davon 1 000 für Juden und Jüdinnen allein in Polen. Sie erfüllten, so Goldhagen, nur einen einzigen Zweck, nämlich deren rasche Vernichtung durch Arbeit. Die dritte Fallstudie schließlich bietet Informationen über die von Goldhagen erstmals systematisch untersuchten Todesmärsche der Konzentrations- und Vernichtungslagerinsassen kurz vor Kriegsende, als die Wachmannschaften von den 750 000 Lagerhäftlingen zwischen 250 000 und 375 000 Menschen ermordeten – nachdem Himmler wegen Verhandlungen mit den Alliierten die Einstellung der Ausrottung befohlen hatte!
Der Holocaust als Produkt aus der Mitte der deutschen Gesellschaft
Hochinteressant ist hierbei, daß Goldhagen – und dies begründet die erregte Abwehrhaltung vor allem deutscher Rezensenten gegen dessen Thesen – einige langgepflegte Tabus offen anspricht: nämlich, daß die Zustimmung zur NS-Politik in der Bevölkerung außerordentlich hoch war und eine weit verbreitete Bereitschaft vorherrschte, Juden und Jüdinnen zu stigmatisieren, zu demütigen, auszugrenzen und schließlich zu ermorden. Der Holocaust wurde als ein Produkt aus der Mitte der deutschen Gesellschaft von einem Großteil der deutschen Bevölkerung zumindest gebilligt bzw. durch Hunderttausende von Deutschen tatkräftig unterstützt. Die Zahl der mittel- und unmittelbar an der Shoah Beteiligten (Reichssicherheitshauptamt, dem die Gestapo, die Kriminalpolizei und der Sicherheitsdienst „SD“ unterstanden; SS; Einsatzgruppen), ging weit über den Personenkreis derer hinaus, die in den Einsatzkommandos Hunderttausende von Juden und Jüdinnen erschossen bzw. in den Vernichtungslagern umbrachten. Und schließlich war auch das Wissen über den Massenmord am europäischen Judentum in der deutschen Bevölkerung verbreiteter als bisher angenommen. (2) So hatten sich beispielsweise die Massenerschießungen von 33 771 Juden und Jüdinnen in Babi-Yar bei Kiew am 29./30.9.1941 – eines der grauenhaftesten Massaker während des Zweiten Weltkrieges – bereits nach wenigen Tagen bis in die deutschen Offizierskasinos in Paris herumgesprochen. Hannah Arendt schrieb in ihrem 1944 verfaßten Artikel „Organisierte Schuld“:
„Während die Verbrechen, die seit Beginn des Regimes in den Konzentrationslagern zur täglichen Routine gehören, früher ein eifersüchtig gehütetes Monopol der SS und der Gestapo waren, werden zu den Massenmorden heute beliebige Wehrmachtangehörige abkommandiert. Die Berichte über diese Verbrechen, welche am Anfang möglichst geheimgehalten wurden …, wurden erst auf dem Weg der von den Nazis selbst inszenierten Flüsterpropaganda verbreitet, und sie werden heute von ihnen völlig offen als Liquidationsmaßnahmen zugestanden, um diejenigen ‚Volksgenossen‘, welche man aus organisatorischen Gründen nicht hat in die ‚Volksgemeinschaft‘ des Verbrechens aufnehmen können, wenigstens in die Rolle der Mitwisser und Komplizen zu drängen.“ (3)
Der Massenmord am europäischen Judentum in Osteuropa geschah in aller Öffentlichkeit: „Deutsche Landser nahmen mitunter lange Wege in Kauf, um beim blutigen ‚Schützenfest‘ die besten Plätze zu ergattern. Mitunter muß man schon von Hinrichtungs-Tourismus sprechen.“ (zit. nach Ernst Klee u.a. (Hrsg.): „Schöne Zeiten“. Judenmord aus der Sicht der Täter und Gaffer, 1988, S.7.) Sie fotografierten diese Greuel und schickten Fotoaufnahmen ebenso an ihre Angehörigen daheim wie Feldpostkarten und -briefe, in denen sie offen von den Erschießungen berichteten – zumeist ohne eine Spur von Mitleid. Unter den Tätern fanden sich nicht nur Mitglieder der SS, sondern auch zahlreiche deutsche Wehrmachtsangehörige. Gemordet wurde indes ohne unmittelbaren Zwang. Ein Befehlsnotstand lag für diese Mörder nicht vor. Es war durchaus möglich, sich dem Tötungsauftrag ohne strafrechtliche Konsequenzen zu widersetzen. Kein SS- oder Wehrmachtsangehöriger kam deshalb in ein KZ oder wurde erschossen, weil er sich weigerte, Juden und Jüdinnen zu ermorden. Im Gegenteil: Häufig waren die meisten bis auf wenige Ausnahmen „gerne bereit, bei Erschießungen von Juden mitzumachen. Das war für sie ein Fest! (…) Da hat keiner gefehlt. Ich betone nochmals, daß man sich heute ein falsches Bild macht, wenn man glaubt, die Judenaktionen wurden widerwillig durchgeführt. Der Haß gegen die Juden war groß, es war Rache, und man wollte Geld und Gold. Wir wollen uns doch nichts vormachen, bei den Judenaktionen gab es etwas zu holen.“ (so ein Kriminalangestellter bei Grenzpolizeikommissariat Neu Sandez, Distrikt Krakau, Generalgouvernement, zit. nach Klee u.a., S.78) (4) Auch Frauen nahmen an den Tötungsaktionen teil – als Ehefrauen und Freundinnen der Täter, Zuschauerinnen, Krankenschwestern usw. (hierzu Goldhagen, S.285ff).
Eliminatorischer Antisemitismus
Für Daniel Jonah Goldhagen stellt sich aufgrund dieser erschütternden Befunde die zentrale Frage: Wie war es möglich, daß sogenannte normale Bürger während des Nationalsozialismus zu Massenmördern wurden? Wie kam es, daß die Mehrheit der deutschen Bevölkerung zumindest passiv den Holocaust hinnahm und kein Mitgefühl für die Ermordeten entwickelte? Jean Améry, Überlebender von Auschwitz, Buchenwald und Bergen-Belsen, litt lebenslang unter diesem Mangel an Empathie:
„Mir schien, ich hätte die Untaten als kollektive erfahren: Vor dem braungewandeten NS-Amtswalter mit Hakenkreuzbinde hatte ich auch nicht mehr Angst gehabt als vor dem schlichten feldgrauen Landser. Auch wurde ich den Anblick der Deutschen auf einem kleinen Bahnsteig nicht los, wo man aus den Viehwaggons unseres Deportationszuges die Leichen aufgeladen und aufgeschichtet hatte, ohne daß ich auch nur auf einem der steinernen Gesichter den Ausdruck des Abscheus hätte lesen können.“ (Jean Améry: Jenseits von Schuld und Sühne, 1977, S.106)
Zur Erklärung des Holocaust und der Beweggründe der Täter rückt Goldhagen den bereits im 19. Jahrhundert offenkundigen „eliminationist antisemitism“ (Vernichtungsantisemitismus) in den Blickpunkt. Nicht hierarchische Befehlsstrukturen, blinder Gehorsam, Autoritätsgläubigkeit, sozialpsychologischer Gruppendruck oder wirtschaftliche Not sind für ihn die zentralen Triebkräfte der Shoah; allein die „antisemitischen Auffassungen der Deutschen … lieferten nicht nur den zentralen Beweggrund für Hitlers Entschluß, die europäischen Juden auszulöschen, … auf ihnen beruhte auch die Bereitschaft der Täter, Juden brutal zu mißhandeln und zu töten.“ (Goldhagen, S.22) Den Vernichtungsantisemitismus des Nationalsozialismus beschreibt Goldhagen als tief in der Mentalität und Kultur Deutschlands bereits vor 1933 angelegt. Vom antisemitischen Rufmord zum Massenmord in Auschwitz war der Weg so gewunden nicht. Zweifelsohne ist ohne die zweitausendjährige antijudaistische Tradition die tödliche Auswirkung des Antisemitismus nach 1933 nicht zu erklären. Die völkische NS-Ideologie besaß einen christlich-religiösen Kern – so betonte Hitler mehrfach, er sei von der Vorsehung beauftragt, die Juden zu beseitigen, und Goebbels setzte ‚den Juden‘ wiederholt mit dem ‚Antichrist‘ gleich. (5)
Über den Zusammenhang zwischen Antisemitismus vor 1933 und dem Holocaust der NationalsozialistInnen kann also überhaupt kein Zweifel bestehen. Zuzustimmen ist Goldhagen auch hinsichtlich der Beantwortung der Frage, warum die eliminatorischen Motive des nicht nur in Deutschland nachzuweisenden Antisemitismus allein in Deutschland zur Shoah führten. Geschehen konnte dies nur, weil mit Hitler und den Nationalsozialisten Anfang 1933 Extremisten in einer industriell und bürokratisch hochentwickelten Massengesellschaft an die Macht gelangten, die zum ersten Mal mit allen dem Staat zur Verfügung stehenden Herrschaftsinstrumenten (Partei, Wehrmacht, Bürokratie, Wirtschaft) die systematische Tötung des europäischen Judentums vorbereiteten und industriell durchführten. Hierbei stießen sie, so Goldhagen, auf breite Zustimmung innerhalb der deutschen Bevölkerung. Wie tief der Antisemitismus damals in Deutschland verankert war, läßt sich auch daran bemessen, daß selbst bis in die Kreise der deutschen zivilen und militärischen Opposition gegen Hitler antisemitische Grundhaltungen weit verbreitet waren. Das in der Pogromnacht vom November 1938 vielen Juden zugefügte Leid – Ermordung, Deportation, Zerstörung von Synagogen, Geschäften und Wohnungen – führte zu keinem moralischen Aufschrei seitens der nichtjüdischen Deutschen: „Die Pogromnacht war wohl das aufschlußreichste Ereignis der gesamten NS-Zeit. In diesen Stunden hätte das deutsche Volk Gelegenheit gehabt, Solidarität mit seinen jüdischen Mitbürgern zu bekunden. Statt dessen besiegelte es das Schicksal der Juden, indem es die Herrschenden wissen ließ, daß es mit dem eliminatorischen Unternehmen einverstanden war…“ (Goldhagen, S.132)
Die NS-Führung konnte also, um die Shoah in Gang zu setzen, nicht nur mit der Zustimmung eines Großteils der deutschen Bevölkerung rechnen – auch passives Verharren angesichts des Verbrechens an Jüdinnen und Juden kommt aus der Sicht der Opfer letztendlich einem Einverständnis mit der NS-Politik gleich -, sondern „eine große Anzahl von Leuten dazu bewegen, an der Vernichtung aktiv mitzuwirken.“ (Goldhagen, S.23) Daß die ethischen und emotionalen Schranken fielen, die Voraussetzung dafür sind, daß Menschen andere Menschen töten können, dafür lieferte das NS-Regime die ideologische und institutionelle Grundlage. Die Täter handelten, so Goldhagen, aus individueller Entscheidung und damit aus eigener Überzeugung. Ihrer Ansicht nach hatten es ‚die Juden‘ verdient, getötet zu werden.
Ganz zentral innerhalb des Prozesses der Vernichtung des Judentums ist für Goldhagen das Moment der Grausamkeit der Täter: „Die Initiative beim Töten, der Eifer, mit dem die Täter ihre nationalsozialistische Überzeugung unter Beweis stellten, stehen in Einklang mit der Grausamkeit der Täter gegen ihre Opfer und wurden von dieser möglicherweise noch übertroffen. Die Grausamkeit, mit der die Juden in den Ghettos und Lagern von den Deutschen behandelt wurden, war immer und überall präsent. (…) Für den ganz normalen Deutschen waren Juden ein Auswurf, entsprechend war mit ihnen umzugehen.“ (Goldhagen, S.451f.) Diese Bestialität ergab sich, so Goldhagen, nicht aus einer wie auch immer gearteten Notwendigkeit heraus, sondern „aufgrund eines Systems von Überzeugungen, durch das die Juden so definiert waren, daß sie zur Vergeltung leiden mußten. Dieses System führte zu einem tiefsitzenden Haß, wie ihn kaum jemals ein Volk einem anderen gegenüber empfunden haben dürfte.“ (Goldhagen, S.455f)
Solidarische libertäre Kritik: „Vernunftantisemitismus“
Zweifelsohne liefert Goldhagens Forschungsansatz, den Holocaust nicht allein aus funktionalen Motiven der NS-Diktatur heraus zu erklären, sondern primär die Beweggründe der Täter in den Blick zu rücken, neue wertvolle Erkenntnisse. Zudem war es längst überfällig, die Geschichte des Nationalsozialismus mit dem Holocaust im Zentrum eingehend aus der Perspektive der „ganz gewöhnlichen Deutschen“ zu schreiben und hierbei den Auswirkungen des Judenhasses in der deutschen Bevölkerung im Hinblick auf die Shoah nachzuspüren. Der heftige Ärger vieler hiesiger Historiker hängt sicherlich auch damit zusammen, daß Goldhagen laut fragt, warum sich die Geschichtswissenschaft in Deutschland bisher diesen ‚weißen Flecken‘ nur unzureichend zugewendet hat. Goldhagens Sprache dagegen ist eindeutig: Den Massenmord am europäischen Judentum während des Nationalsozialismus benennt er als deutsches Verbrechen. Künftig zwischen Nazis und „gewöhnlichen Deutschen“ zu unterscheiden, ist für ihn unakzeptabel. Gleichwohl stellt sich die Frage, ob der Holocaust allein durch die Virulenz des Antisemitismus und der Grausamkeit der Täter charakterisiert werden kann. Zwar stellte der Judenhaß die entscheidende Voraussetzung für den NS- Vernichtungsantisemitismus dar, doch ließ sich der industrielle Verwaltungsmassenmord in Auschwitz nur begrenzt mit Antijudaismus und Grausamkeit bewerkstelligen.
Um Millionen Menschen in kürzester Zeit ermorden zu können, reichten die bisherigen Mittel eines pogromistischen Antisemitismus keineswegs aus. Anfänglich wußten auch die Nazis nicht, wie sie die Vernichtung des europäischen Judentums überhaupt praktisch umsetzen sollten. Deportationspläne (Madagaskar), der geplante Hungertod in den Ghettos, die Massenerschießungen der Sondereinsatzkommandos oder die Ermordung in den Gaswagen mit Kohlenmonoxid erwiesen sich angesichts der Vielzahl zur Vernichtung anstehender Menschen als unzureichend. Erst der Einsatz des industriell produzierten Giftgases Zyklon B (Blausäure) schuf die Möglichkeit, den Massenmord in kürzester Zeit (1942-44) durchzuführen. Verbindet mensch aber mit dem Holocaust allein den Antisemitismus und die Grausamkeit judenfeindlicher TäterInnen, so erklärt sich das Kernereignis des Nationalsozialismus, der ‚Zivilisationsbruch‘ in den Gaskammern von Auschwitz, nicht (vgl. GWR 136, S.1 & 18: „Daß Auschwitz nicht sich wiederhole“). Indem sie zu einer neuen, vernichtenden Qualität fanden, gingen die NationalsozialistInnen weit über antisemitische Ressentiments hinaus. Während der Antisemitismus bis hin zu den Pogromen als rein gefühlsmäßige Aggression bezeichnet werden kann, zielten die NS-Machthaber auf einen sogenannten „Vernunftantisemitismus“, also nicht auf erregte, grausame Menschen, sondern auf Institutionen der Gewalt und damit den gesamten Staatsapparat. Überdies setzte der Holocaust eine veränderte Organisation der Vernichtung voraus: nämlich deren Verwandlung in industrielle Arbeit.
Antisemitismus ist ein struktureller Bestandteil der bestehenden bürgerlichen Gesellschaft, die ohne die Entstellung des Individuums durch Ausgrenzungen (Rassismus, Sexismus usw.) nicht existieren kann. Sie lebt vom nichtreflexiven Denken, von der Kälte des bürgerlichen Subjekts, „ohne die Auschwitz nicht möglich gewesen wäre“ (Adorno). Dies bedeutet gesellschaftlich erzeugte Gleichgültigkeit gegenüber den Opfern (und TäterInnen). Die Shoah stellt eine extreme Abstrahierung der Individualität von Opfern dar und bedeutet eine weitgehende Versachlichung des Tötens. Die besondere Qualität des Nationalsozialismus lag in der Loslösung des Antisemitismus von den AntisemitInnen, d.h. der Holocaust erfolgte nicht mehr aus der antisemitischen Tradition heraus, sondern markierte eine Veränderung im Charakter der Herrschaft selbst. Statt einem lebendigen, wenn auch gequälten Gegenüber benötigten die Nazis nur noch die Objektivierung des ‚Feindes‘: „Die Vernichtungspraxis zerreißt den Zusammenhang von bürgerlicher Gesellschaft und Antisemitismus. Die Voraussetzung der Vernichtung besteht nicht in dem fanatischen manifesten Antisemitismus in der bürgerlichen Gesellschaft, sondern in der unterstützenden Gleichgültigkeit der Massen gegenüber den designierten Feinden. In der Vernichtungspraxis verliert der Antisemitismus seine Spezifik; es wird objektiv fragwürdig, das Geschehen in den Lagern als Antisemitismus zu begreifen.“ (Detlev Claussen: Grenzen der Aufklärung, 1987, S.43)
Indem Goldhagen diese Transformation des Antisemitismus im Nationalsozialismus hin zu einer Versachlichung des Tötens und damit einer Veränderung im Charakter der Herrschaft selbst nicht berücksichtigt, bleibt ihm letztendlich auch das wechselseitige Verhältnis von Individuum und Gesellschaft, von persönlicher Verantwortung (die er zu einseitig betont) und strukturellen Bedingungen (die er unterschätzt) während des Nationalsozialismus weitgehend fremd.
Trotz dieses grundlegenden Einwandes erweist sich Goldhagens Forschungsarbeit in vieler Hinsicht als eine erschütternde Lektüre, als empfehlenswerte Studie und zugleich als Anlaß, um über Entstehung und Ausmaß des Holocaust und die Mitwirkung vieler „gewöhnlicher“ Deutscher ebenso nachzudenken wie über das Weiterwirken von dessen Bedingungsfaktoren – auch wenn sich die Shoah an der Grenze des Begreifbaren bewegt.
(1) Heiner Lichtenstein: Himmlers grüne Helfer. Die Schutz- und Ordnungspolizei im "Dritten Reich", Köln 1990; Christopher R. Browning: Ganz normale Männer. Das Reserve- Polizeibattaillon 101 und die Endlösung in Polen, Reinbek 1993.
(2) dazu jüngst der israelische Historiker David Bankier: Die öffentliche Meinung im Hitler-Staat. Die "Endlösung" und die Deutschen. Eine Berichtigung, Berlin 1995.
(3) Hannah Arendt: Die verborgene Tradition. Acht Essays, Frankfurt/M. 1976, S.33.
(4) vgl. dazu auch Ernst Klee, Willi Dreßen (Hrsg.): "Gott mit uns". Der deutsche Vernichtungskrieg im Osten 1939-1945, sowie Walter Manoschek (Hrsg.): "Es gibt nur eines für das Judentum: Vernichtung". Das Judenbild in deutschen Soldatenbriefen 1939-1944. Hamburg 1995.
(5) vgl. Die Tagebücher von Joseph Goebbels. Hrsg. von Elke Fröhlich. Im Auftrag des Instituts für Zeitgeschichte in Verbindung mit dem Bundesarchiv, München 1987.