Für den kubanischen Schriftsteller Reinaldo Arenas war die 1903 auf Kuba gegründete US-amerikanische Militärbasis von Guantánamo einmal das "Tor zur Freiheit".
In seinem autobiographischen Roman „Antes que anochezca“ [‚Bevor es Nacht wird‘] (1) – dem letzten, den er vollenden konnte, ehe er sich, HIV-positiv und bereits todkrank, 1990 im Exil das Leben nahm – beschreibt er einen haarsträubenden Versuch, durch Selbstschußanlagen, fingerlange Dornen und Sümpfe voller Krokodile bis zur US-Basis vorzudringen, um der grausamen Verfolgung von Homosexuellen durch das Castro-Regime zu entgehen. Vierzehn Jahre nach Arenas Tod wäre es politischen Flüchtlingen kaum anzuraten, ihr Glück auf demselben Weg zu versuchen…
„Honor bound to defend freedom“
Die Fakten über das US-amerikanische Internierungslager von Guantánamo dürften, dank einiger verantwortungsvoller Medienberichte, vor allem aber dank der hartnäckigen und gründlichen Arbeit der US-amerikanischen Sektion von Amnesty International (2), mittlerweile bekannt sein. Gegenwärtig sind ca. 660 Menschen aus 40 Ländern in Guantánamo gefangen. Sie befinden sich, was ihren Rechtsstatus angeht, in einem „juristischen schwarzen Loch“. Durch eine Gesetzesnovelle, die Präsident George W. Bush bereits im November 2001 unterzeichnete, werden sie als „irreguläre Kämpfer“ einer militärischen Paralleljustitz unterstellt, die praktisch sämtliche rechtlichen Standards mit Füßen tritt, von international anerkannten Menschenrechten über die Genfer Konvention bis hin zu den Grundlagen des US-amerikanischen Strafrechts. Jedwede Kontrolle über die Haftanstalt ist der zivilen US-Justiz entzogen, sie liegt ausschließlich beim Pentagon. Und für das Pentagon befinden sich die USA im Krieg.
Niemand in den Käfigen und Zellen von Guantánamo weiß, warum er hier ist. Nicht selten willkürlich und auf offener Straße aufgegriffen, Opfer von Denunzianten, die sich – vor allem in Afghanistan – das von den US-Militärs ausgesetzte Kopfgeld auf „flüchtige Terroristen“ und ehemalige Anhänger der Taliban verdienen wollten, oder aufgrund geringfügiger Unregelmäßigkeiten bei der Ein- und Ausreise in die USA verhaftet und eingesperrt, bleiben die meisten Häftlinge über ein Jahr in Guantánamo, viele von ihnen auch länger. Während dieser Zeit wird weder eine Anklage gegen sie erhoben, noch haben sie die Möglichkeit, rechtlichen Beistand in Anspruch zu nehmen. Besuche von Angehörigen sind nicht gestattet. Statt dessen werden sie einem Regiment unterworfen, das, wie die militärischen Kommandeure des Lagers freimütig zugeben, einzig und allein den Zweck verfolgt, „Informationen“ aus ihnen herauszupressen. Die hierzu angewandten Methoden sind mal subtil, mal brutal und grobschlächtig – je nachdem. Das Lager ist viergeteilt: diejenigen, die mit den Militärs zusammenarbeiten, werden bald nach ihrer Ankunft in ein sogenanntes „Vorzugslager“ gesperrt, in dem sie in den Genuß geringfügiger Vergünstigungen kommen (etwa was Ausgang oder die Qualität des Essens angeht). Sprösslinge weißer, US-amerikanischer Mittelklassefamilien wie etwa der abtrünnige US-Bürger John Walker Lindh können sich auf eine bessere und – zumindest ansatzweise – rechtskonformere Behandlung einstellen als ihre Mitgefangenen aus pakistanischen, irakischen oder afghanischen Familien, unabhängig von ihrer jeweiligen Staatsangehörigkeit. Die meisten bleiben im Hochsicherheitsblock Camp Delta, der eine Kapazität von 800 „Plätzen“ hat. Die Zellen im Hafttrakt von Camp Delta sind 2,03 Meter mal 2,44 Meter groß und werden 24 Stunden lang künstlich beleuchtet. Hier verbringen die Häftlinge ihre Tage in völliger Abgeschlossenheit, abgesehen von den kaum mehr als 15 Minuten „Hofgang“, die ihnen – nie öfter als zweimal pro Woche – zugestanden werden. Gespräche der Häftlinge untereinander sind nicht gestattet. Dafür werden sie in unregelmäßigen Abständen zum Verhör geführt, das mehrere Stunden dauern kann. Wenn ein Häftling, völlig ahnungslos darüber, was ihm vorgeworfen wird und gelegentlich sogar, wo er sich befindet, nicht wie gewünscht „kooperiert“, wird „nachgeholfen“. Menschen, die jüngst aus Guantánamo entlassen wurden – wie der afghanische Taxifahrer Said Abbasin, der einen Fahrgast beförderte, der angeblich Verwandter eines Führers der Taliban war und deshalb prompt mitverhaftet wurde – berichten, man habe sie u.a. gezwungen, stundenlang mit dem Gesicht zur Wand zu stehen. Nachts hätten die Wachen regelmäßig gegen die Zellentüren geschlagen, um sie am schlafen zu hindern. Wer eine Decke über den Kopf gezogen habe, um dem ständigen Licht zu entgehen, sei schwer bestraft worden. Die überwiegend muslimischen Häftlinge seien auch über die Ausgabe von Nahrungsmitteln, die sie aus religiösen Gründen nicht essen konnten, gedemütigt worden. Die Häftlinge bei intimen Tätigkeiten von weiblichen Soldaten bewachen zu lassen, sei ebenfalls sehr beliebt gewesen. Der Deputy Commander des „Vorzugslagers“ Camp X-Ray sagte hierzu bereits im Jahre 2002: „Stellen Sie sich vor, sie sind 24 Stunden lang eingesperrt; ganz gelegentlich kommen sie raus, aber nur sehr, sehr gelegentlich. Sie wissen nicht, was passieren wird, Sie wissen vielleicht noch nicht einmal, warum sie hier sind. Ich denke, das würde jedem Angst machen“. (3) Angst zu verbreiten ist neben dem Sammeln abgepresster Informationen der zweite vorrangige Zweck des Lagers von Guantánamo. Zeugen berichteten Amnesty International, sowohl bei Verhören im Irak als auch auf der berüchtigten Bagram Air Base in Afghanistan sei die Drohung, man werde die Häftlinge kurzerhand nach Guantánamo verfrachten, sollten sie sich weigern, „auszupacken“, ein durchaus gängiges Druckmittel gewesen. Die Unmenschlichkeit der Haftbedingungen und die haarsträubenden Rechtsbrüche rund um das Lager verlieren vor diesem Hintergrund jede Zufälligkeit: sie erscheinen als sorgsam geplanter und politisch eingesetzter Terror des Pentagon.
Wer neu ankommt oder sich den Militärs gegenüber „respektlos“ verhält, landet in den berüchtigten „Käfigen von Guantánamo“. Diese Käfige, deren Fotos um die Welt gingen, stehen unter freiem Himmel und bieten keinen Schatten – bei Temperaturen um die 40 Grad Celsius. Im April 2003 gaben die US-Autoritäten darüber hinaus zu, daß in einem gesonderten Lager von Guantánamo auch Kinder festgehalten werden – das jüngste von ihnen gerade einmal 12 Jahre alt. Auch ihnen sind Kontakte zu Angehörigen oder Anwälten nicht gestattet. Ihr Haftregiment unterscheidet sich von dem ihrer erwachsenen Mitgefangenen nur unwesentlich, gleichwohl internationalen Organisationen beharrlich der Zugang zum „Kinderblock“ verwehrt wird und daher kaum gesicherte Informationen vorliegen. General Richard B. Myers, einer der Kommandeure des Lagers von Guantánamo, versuchte am 25. April 2003 den Skandal in den USA um die Inhaftierung von Kindern mit folgenden Worten einzudämmen: „Trotz ihre Alters sind das sehr, sehr gefährliche Leute. Sie mögen ja jung sein, aber sie spielen nicht in der Regionalliga. Sie spielen in der Oberliga, und das ist eine Terroristenliga“. (4) Auch Vizepräsident Dick Cheney fühlte sich berufen, die menschenverachtende Praxis von Guantánamo allgemein zu rechtfertigen: „Das sind die Übelsten der Schlimmsten. Sie sind sehr gefährlich. Sie sind entschlossen, Millionen Amerikaner zu töten“. (5) Es weckt böse Erinnerungen, daß über dem Eingang des Haftlagers ausgerechnet folgendes Motto prangt: „Honor bound to defend freedom“ [‚Auf Ehre verpflichtet, die Freiheit zu verteidigen‘].
Europas Guantánamo?
Seit erste Berichte über das Lager von Guantánamo in den Medien zu zirkulieren begannen, haben die Proteste gegen die menschenverachtende Praxis des US-Militärs auf Kuba nicht aufgehört. Die Zeugenaussagen ehemaliger Häftlinge und die für das Frühjahr 2004 angesetzten ersten Prozesse vor einem militärischen Schnellgericht, das sowohl die Todesstrafe verhängen als auch jegliche Berufung gegen sein Urteil abblocken kann, haben den Protesten weiter Auftrieb gegeben. Vor allem in den Vereinigten Staaten, wo sich eine schichtenübergreifende Lobby gegen das Lager auf Kuba stark macht – von anerkannten StaatsrechtlerInnen und Anwaltsverbänden bis hin zu kleinen Bürgerinitiativen – ist der Widerstand gegen die Rechtsbeugung von Guantánamo und den unerhörten Machtzuwachs der Exekutive unter der Bush-Administration im eigenen Land stark. In Europa ist die politische Nomenklatur erstaunlich freigiebig geworden in ihrer Bereitschaft, die Existenz des Lagers zu geißeln und seine Rechtsbrüche anzuprangern. Der britische Staatssekretär Chris Mullin verkündete am 7. Juli 2003: „Wir haben den Amerikanern gegenüber deutlich gemacht, daß vieles, was sich in Guantánamo abgespielt hat, nicht akzeptabel ist. Wir werden das auch weiterhin tun“. (6) Auch andere namhafte Politiker erheben ihre Stimme. Berufen wird sich bei den offiziellen Protesten nahezu ausschließlich auf die Bewahrung international gültiger Rechtsstandards, die durch das „eigenmächtige“ Vorgehen der USA im „Krieg gegen den Terror“ gefährdet würden.
Es soll hier nicht leichtfertig die Aufrichtigkeit vieler (auch parlamentarischer) Würdenträger, die gegen die Existenz des Lagers aufstehen, in Zweifel gezogen werden. Was aber auf den ersten Blick so gut und richtig aussieht, die proklamierte „Rückkehr“ zu internationalen Standards des (Menschen)Rechts, entpuppt sich bei näherem Hinsehen als propagandistische Seifenblase.
Tatsächlich haben die Staaten Europas wenig Grund, sich als „Bewahrer des Rechts“ in die Bresche zu werfen. Man muß, um dies einzusehen, nicht einmal in der Geschichte zurückblättern zu den Tagen europäischer – und namentlich deutscher! – Terroristenhysterie, während derer, ähnlich wie in den USA nach dem 11. September, rechtliche Garantien gleich dutzendweise zum Fenster hinausflogen. Von Stammheim über die britischen H-Blocks bis hin zu Frankreichs ehemaligem Innenminister Charles Pasqua, der über tausend (dunkelhäutige) Menschen willkürlich in den Straßen von Paris aufgreifen und verhaften ließ, um eine herbeiphantasierte „Terrorbedrohung“ der Hauptstadt in den neunziger Jahren abzuwenden, zieht sich eine Spur der Rechtsbeugung und Missachtung durch den Kontinent. Wirft man nun noch einen Blick auf die Praxis europäischer Abschiebegefängnisse, verliert das Lager von Guantánamo vieles von seiner grausigen Einmaligkeit. Punkt für Punkt kann man viele der menschenverachtenden Rechtsbrüche im Vergleich abarbeiten: Gefangene in deutschen Abschiebelagern wissen oft nicht, weshalb sie hier sind. Verbrechen werden ihnen nicht zur Last gelegt. Minimale Rechtssicherheiten werden ihnen (zumindest häufig) verweigert. Die Haftbedingungen sind grausam, die Selbstmordrate ist hoch, die psychischen Qualen der Opfer sind extrem. Die rassistische „Vorauswahl“ der Delinquenten haben Abschiebegefängnisse und Guantánamo ebenfalls gemein. Und sogar das Inhaftieren von Kindern, komplett mit Isolation von Eltern und sonstigen Angehörigen, dürfte so manchem hierzulande merkwürdig bekannt vorkommen…
Man mag das bisher gesagte nicht als nassforsche Gleichsetzung missverstehen, schon gar nicht als launig-besserwisserischen Aufruf, die „Finger von Guantánamo zu lassen“. Gemeint ist: man kann sich gerade in Europa nur dann lauthals und öffentlich als Bewahrer der Menschenrechte aufspielen, wenn – wieder einmal und sehr absichtsvoll – all jene Menschen „vergessen“ werden, die qua politischer Definition von diesen Rechtsgarantien ausgeschlossen bleiben. Der plötzlich erwachte (und mehr als berechtigte!) Eifer vieler europäischer Staatsmänner, mit dem Finger auf Guantánamo zu zeigen, erklärt die Unmenschlichkeit im eigenen Lande gleichsam zum Normalzustand – oder zur vernachlässigenswerten Nebensächlichkeit. Guantánamo ist letztlich nichts anderes als Fortsetzung und Steigerung einer pragmatischen, menschenverachtenden Unrechtspolitik der NATO-Staaten – die der britische Guardian einmal hellsichtig „die weiße Rasse unter Waffen“ genannt hat -, mittels derer seit Jahrzehnten internationale Rechtsgarantien für einen stetig wachsenden Teil von Menschen ausgehöhlt, gekippt und untergraben werden. Die so laut eingeforderte „Rückkehr“ zu internationalen Rechtsstandards in Europa ist vor diesem Hintergrund ein Festschreiben des rassistischen Normalzustandes. Es gibt keinen rechtlichen status ante, zu dem man – nach Guantánamo – „zurückkehren“ könnte.
Der Widerstand gegen das Lager auf Kuba muß die Forderung beinhalten, elementare Menschenrechte endlich allgemein durchzusetzen und ihnen Gültigkeit für alle Menschen zu verschaffen- auch im eigenen Land. Wer, bei allem Zorn und Entsetzen angesichts der Schrecken und Ungeheuerlichkeiten des Haftlagers von Guantánamo, wieder nur auf den „großen Satan“ von jenseits des Teiches schaut, droht über kurz oder lang, willentlich oder unwillentlich, jenes üble Spielchen mitspielen, in dem Europa, als „bessere Alternative“ zu den USA in der Rolle des Weltpolizisten, bereits glücklich seine Figuren nach vorne würfelt.
(1) Arenas, Reinaldo, Antes que anochezca, segunda edición, Barcelona, 1998.
(2) Die vermutlich beste und genaueste Quelle zu den Zuständen in Guantánamo ist ein 52-seitiger Bericht der US-amerikanischen Sektion von Amnesty International, der unter dem Titel "The threat of bad example - Undermining international standards as 'war on terror' detentions continue" im Internet verfügbar ist. Diesem Bericht wurden auch die meisten der hier verwendeten Informationen entnommen. Eine andere aktuelle Quelle ist der Artikel von Augusta Conchiglia: "Besichtigung eines Lagers. Rechtlos in Guantánamo" (Le monde diplomatique, Januar 2004, S.1, 16-17), der allerdings nichts substantielles zu dem Amnesty-Dossier beizutragen hat. Darüber hinaus haben sich verschiedentlich auch Filmer und Reporter des Themas angenommen.
(3) Zitiert nach: today, BBC Radio 4, 7. März 2002.
(4) General Richard B. Myers, Chairman of the Joint Chiefs of Staff, 25. April 2003, zitiert nach: Amnesty International: "The threat of bad example", S.17.
(5) Zitiert nach: Fox News Sunday, 27. Januar 2002.
(6) Zitiert nach: Amnesty International, "The threat...", S.11.
Literatur
Literaturempfehlung auch zu Guantánamo:
Krieg ohne Ende?, Gemeinsames Sonderheft des DISS-Journals und der kultuRRevolution zum Irak-Krieg, Sommer 2003
www.uni-duisburg.de/ DISS/ DJ_03_11/ krr-diss-sondernummer.pdf