In der Berliner Ost-West-Wochenzeitung Freitag wird zur Zeit eine fundierte Debatte über den Kopftuchstreit geführt. Ein Göttinger Sozialwissenschaftler namens Münch sieht Kopftuch und Schleier als „sozial erzwungene Behinderung“ und plädiert daher für ein Verbot, worauf Mohssen Massarrat ihn kritisierte, er wolle „Assimilation“ statt Integration. Sabine Kebir kommt in der Ausgabe Nr.11/04 mit einer milderen, aber realitätsnaheren Version von Alice Schwarzers Meinung, das Kopftuch sei so oder so einfach Symbol des Islamismus und der östlichen Unterdrückung der Frau, und das sei zuerst zu betrachten, bevor man von „jeder ist frei, so rumzulaufen, wie es ihm gefällt“ spricht. Man solle auch bedenken, welch katastrophale Zeichen man an die patriarchale Dominanz des Islamismus aussende, wenn hierzulande Lehrerinnen verschleiert unterrichten dürften.
Für mich hat diese Diskussion teilweise wenig mit Takt zu tun. Da spielen sich Theoretiker einerseits und konservative Spießer andererseits auf, bis sie platzen, über Dinge, von denen sie keine Ahnung haben, weil sie sie nur aus klugen Büchern oder von anderen Leuten kennen, aber nicht selbst erfahren haben. Das ist genauso wie bei der Drogenpolitik, wo Leute über Drogen wettern, die noch nie im Leben welche genommen haben – außer Alkohol natürlich, aber das ist ja schließlich, so ihr empörtes Credo, keine Droge.
Die Drogenpolitik ist bekanntlich unlogisch, ineffektiv, ungerecht und typisch deutsch: gesetzeshörig. Alles wird panisch in Gesetze und Untergesetze gepackt, alles wird eifrig verallgemeinert, Einzelfälle gibt es nicht, das wäre ja anarchisch.
Genauso gesetzeshörig ist das Gezerre um das Kopftuch. Warum braucht alles ein fixes Gesetz? Warum sind wir so symbolhörig? An jeder öffentlichen Anstalt gibt es eine Hausordnung, die besagt, daß sich jeder, der sich hier aufhält, so verhalten soll, daß die anderen Menschen nicht beeinträchtigt werden. Wenn eine verschleierte Lehrerin nun anfängt, den Geschichts- zum Koranunterricht umzubauen oder das Klassenzimmer islamistisch zu dekorieren, ist sie selbstverständlich zu rügen. Aber nicht ausschließlich des Kopftuchs wegen! Es ist Quatsch, jede Kopftuchträgerin als potentielle Terroristin zu betrachten, genauso wie es auch Quatsch ist, jeden Gelegenheitskiffer als Heroinwrack á la Christiane F. oder gar als potentiellen zukünftigen Crackdealer zu verurteilen. Es gibt nichts Unmenschlicheres, als einen Menschen zu verurteilen für Dinge, die er nicht getan hat, aber vielleicht eventuell irgendwann mal tun könnte. Das steht schon in Shakespeares King Lear: Goneril und Regan, Lears ältere Töchter, sind an der Macht, und sie nützen diese aus, indem sie dem Vater die Eskorte von hundert Rittern, die er sich als Rente ausbedungen hatte, kurzerhand abziehen mit dem klassischen Spießerargument: „Wo kämen wir denn da hin! Die brauchst du doch gar nicht!“
Wo kämen wir denn da hin, wenn das alle täten!? Es tun aber nicht alle, und das meine ich mit Einzelfall. Lear will die Ritter nicht, um irgendwann einen Putschversuch zu machen, sondern für ihn, den Ex-Herrscher über England, Schottland und Wales, sind die hundert persönlichen Ritter ein Teil seines Selbst, kein Machtinstrument. „Oh reason not the need“, schimpft er verzweifelt, „es geht doch nicht ums Brauchen, es geht schlicht und einfach ums Menschliche!“ Und als die Töchter ihrem Vater nur den Narren lassen, dreht er durch, er fühlt sich gedemütigt, erniedrigt, seiner Persönlichkeitsrechte beraubt. DIE WÜRDE DES MENSCHEN IST UNANTASTBAR – steht das nicht im Grundgesetz?
Und dennoch gebären sich die Anti-Kopftuch-Krieger teilweise wie Goneril und Regan. Ich las gerade ein interessantes Buch (Fawzia Zouari, Das Land in dem ich sterbe), in dem es um die „Integration“ einer algerischen Familie in Paris geht. Es ist einfach taktlos, sich hinzustellen und zu sagen, Kopftücher sind reaktionär, das hier ist ein emanzipiertes Land, also weg mit diesem Tausendundeinenacht-Firlefanz! Das ist Münchs Meinung aus dem Freitag, und da kommt mir wirklich das Kotzen über diese ach so emanzipierten fortschrittlichen westlichen Alleswisser.
Sicher, die Zwangsverschleierung der Frauen ist reaktionär, das schreibt auch Fawzia Zouari, und die Behandlung von verschleierten Töchtern und Ehefrauen in muslimischen Ländern ist mitunter unmenschlich; aber nicht überall, und das Problem ist nicht das Kopftuch als Ding! Bei den Tuareg sind es die Männer, die sich verschleiern.
Wir müssen einfach von dieser krankhaften Allgemeinisiererei wegkommen und von der deutschen Arroganz, die alles weiß, und zwar alles besser, und der vor allem eins klar ist: wir sind die Fortschrittlichen, die da sind die Reaktionären, wir sind die Modernen und Emanzipierten, die da sind die Regressiven, wir sind der aufgeklärte Westen, die da sind das im Mittelalter steckengebliebene Morgenland. Das ist dasselbe Gedöns, das Bush am 11.9.01 von sich gab und das nicht nur LeserInnen der taz vor Schmerz aufjaulen ließ. Und jetzt trötet man hierzulande ins gleiche verstimmte Horn.
Nein, ich widerspreche Alice Schwarzer nicht, wenn sie sagt, das Kopftuch sei ein Symbol der östlichen Unterdrückung der Frau. Aber was ist denn mit dem Westen? Werden die Frauen hier nicht auch unterdrückt? Man nennt es hier vielleicht eher Instrumentalisierung und Konformisierung, aber es ist dasselbe – „Faschismus der Seele“ (Marcuse). Symbole der westlichen Unterdrückung der Frau und eine westliche „sozial erzwungene Behinderung“ (Münch) sind für mich Minirock, Stöckelschuh, Make-up, Dekolleté. Frauen, die sich ohne Make-Up nicht aus dem Haus trauen und die wegen zu hohen Absätzen, zu knappem Röckchen und zu öffentlich hüpfendem Busen nicht mehr gehen, sondern nur noch trippeln können, sind nicht emanzipiert, sondern behindert. Wenn die Sängerin Sasha in dem neuen Video von Sean Paul außer Arschwackeln nicht viel tun muß und dazu in Höschen und Töpchen so knapp wie möglich auf höchsten Hacken rumsteht und ihre Lippen spitzt, dann ist das für mich nicht gerade ein Zeichen westlicher Emanzipation, sondern eher eines von der Zwangsreduzierung der Frau zum Sexobjekt. Auch Simone de Beauvoir schüttelte damals den Kopf, als sie Das andere Geschlecht rausgab: da kommen Amerikanerinnen, angemalt, aufgebrezelt, können vor Stöckelschuhen kaum stehen – und die schwätzen dann von Selbstbestimmung und Frauenemanzipation. Ohne Mann kämen die nicht mal heil ins Auto.
Sicher: nicht jede Frau in Minirock ist ein Sexobjekt. Genausowenig wie jede Frau mit Kopftuch eine potentielle Terroristin ist.
„Sozial erzwungene Behinderung“? „Fahne der Unterdrückung“? Faßt euch an die eigene Nase. Emanzipation ist was anderes. Emanzipation braucht keine beschlipsten Klugscheißer, sondern Menschenverstand.