Es ist selten, daß man eine Neuerscheinung aus so viel Erfahrung rezensieren kann wie in diesem Fall. „Das freundliche Klassenzimmer“, die Übersetzung des Handbuches des Programms „Children’s Creative Response to Conflict“ (CCRC) in den Vereinigten Staaten, existierte auf Deutsch bereits einige Jahre in einer internen Pilotversion. In den Kreisen der Menschen, die an diesem Thema Interesse haben, wurde das Buch schon lange erwartet. Der Titel steht schon für sich. Ich rezensiere also mehr den Ansatz als das Buch selbst.
Der Untertitel „Gewaltlose Konfliktlösungen im Schulalltag“ erklärt den Sinn des Buches. Aus Erfahrungen in den gewaltfreien Trainings schon in den 70er Jahren wurden in den Vereinigten Staaten Programme für die Arbeit mit Kindern entwickelt. Daraus entstand das oben genannte Programm (CCRC).
Die Grundidee ist also gar nicht neu. Trotzdem möchte ich sie kurz erklären, zumindest in der Form, in der ich sie in den letzten Jahren angewandt habe. Sie ist verblüffend einfach, und dennoch scheint sie wirklich wenig verbreitet oder verstanden zu sein.
Um in der Lage zu sein, Probleme und Konflikte konstruktiv zu bewältigen, sind einige Grundkompetenzen hilfreich bzw nötig, wie z.B. Kooperationsfähigkeit, ein gesundes Selbstbewußtsein, Respekt für andere, oder die Fähigkeit, mit anderen zu kommunizieren. Außerdem gibt es viele Wege, die über Gedanken von Sieg und Niederlage (im Konflikt) hinausgehen, um kreative Lösungen zu finden. Das sind alles Sachen, die erlernbar sind, und dieses Buch beschreibt, wie ein solcher Lernprozeß, in den (Grund-)Schulunterricht integriert, ermöglicht werden kann.
Es funktioniert. Das kann ich aus meiner eigenen Erfahrung mit diesem Ansatz schreiben, aus meiner Erfahrung in ENCORE (Europäischem Netz für Konfliktlösung in Erziehung und Bildung) sowie aus Berichten aus Nordamerika.
In einer 5. Klasse in der Gesamtschule habe ich gesehen, wie ein Außenseiter wieder mehr Zugehörigkeit in der Klasse gefunden hat, wie Spannungen zwischen einer dominanten Clique und den anderen in der Klasse abgebaut wurden, wie die Klassenlehrerin durch unser Projekt über ihr eigenes Verhältnis zur Klasse reflektieren konnte. Oder in einer 4. Klasse, wie unsere Arbeit zur Stärkung des Selbstbewußtseins einiger Kinder langsam Früchte trug.
Natürlich hat die Vermittlung solcher Kompetenzen und das Ermöglichen positiver Erfahrungen im Umgang mit Konflikten keine Erfolgsgarantie. Faktoren wie das soziale Umfeld der Schule oder die Atmosphäre im Kollegium spielen auch eine wichtige Rolle. Und die Forschung in den angelsächsichen Ländern ist längst schon zu dem Schluß gekommen, daß die Schule höchstens 20 % der „Prägung“ eines Menschen ausmacht. In Deutschland wird es ähnlich sein. Der Einfluß der Schule ist einfach begrenzt.
Dieser Ansatz funktioniert auch nicht, wenn es als ordinäres „Schulfach“ eingesetzt wird, ohne das Engagement der Lehrkräfte. Kinder lernen ja sehr schnell, was die „richtigen“ Antworten sind, und haben diese parat. Wenn die Lehrkräfte oder TrainerInnen nicht im Einklang mit dem eigenen Programm handeln, werden sie durchschaut, das Vermittelte verliert an Glaubwürdigkeit, wird letztlich nicht angenommen. Wenn die Kinder aber erleben, daß die Lehrkräfte oder TrainerInnen selbst daran glauben, erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, daß die Kinder auch ihre Erfahrungen wirklich mitnehmen und für sich anwenden. Neben der Methodik liegen die „Erfolgsaussichten“ mindestens zur Hälfte in der menschlichen Beziehung zur Gruppe. Auf die Frage hin, ob die Gewaltfreiheit ein „Lebensprinzip“ oder eine „praktische Hilfe zur Bewältigung von Konflikten“ ist, weist der letztgenannte Punkt für mich stark darauf hin, daß sie ein Lebensprinzip sein muß. Man kann bei Kindern nicht so tun, als ob man gewaltfrei wäre… Dieses Buch fordert also heraus.
Es gibt schon andere Bücher mit dem gleichen Ansatz auf deutsch. Jamie Walker, die 1989 eine Studie über Konfliktlösungansätze in Europa veröffentlichte und den Ansatz von CCRC in Berlin erprobte, veröffentlichte letztes Jahr zwei sehr brauchbare Handbücher für die Grundschule und die Sekundarstufe I (Walker, Jamie: ‚Gewalt und Konfliktlösung in Schulen‘, Brüssel, 1989; Hrsg vom Quäkerrat für Europäische Angelegenheiten und dem Europarat, sowie: ‚Gewaltfreier Umgang mit Konflikten in der Grundschule‘, und ‚Gewaltfreier Umgang mit Konflikten in der Sekundarstufe I‘, Frankfurt/Main 1995). Ihre Herangehensweise gibt etwas mehr Anleitung, strukturiert mehr als „Das freundliche Klassenzimmer“. Für den Anfang ist das sehr hilfreich – eine Schritt für Schritt Einführung in das Konzept bietet „Das freundliche Klassenzimmer“ nicht, es wird mehr Selbstarbeit verlangt. Das lohnt sich aber, weil „Das freundliche Klassenzimmer“ meiner Meinung nach ein anderes Ziel hat.
Die Vermittlung von Kompetenzen zur gewaltfreien Konfliktlösung kann als getrenntes „Schulfach“ erfolgen. So hat Jamie Walker gearbeit, so waren die Projekte, die von Umbruch-Bildungswerk für gewaltfreie Veränderung in Köln durchgeführt wurden, konzipiert. Umfassender, und deshalb schwieriger zu realisieren, ist die Integration dieses kooperativen Arbeitsstils in den ganzen Unterricht, über alle Fächer hinweg. Dazu regt „Das freundliche Klassenzimmer“ immer wieder mit vielen Vorschlägen an. Eine konkrete Anleitung für alle Fächer und alle Fälle könnte aber kein Buch leisten, und „Das freundliche Klassenzimmer“ fordert eben heraus. Wenn Du den gewaltfreien Ansatz mit Leben füllst, wird Dir das Nötige einfallen!
Umfassender ist auch das verlegte Buch. Die zwei letzten Kapitel und die Anhänge, die in der Pilotversion nicht enthalten waren, erscheinen nun vollständig, die Literaturliste ist zwar kürzer, dafür aber aktueller und, wie die Adressenliste, eingedeutscht. Damit bekommt man auch die Anregungen und Beispiele zu den musikalischen Möglichkeiten (Musik machen ist ja sehr kooperativ), die freundliche Atmosphäre in der Klasse zu fördern. Außerdem gibt es Erfahrungsberichte aus US-amerikanischen Schulen sowie eine Reihe von hilfreichen Ideen zu den Rahmen des Programms, wie z.B. Workshop-Modelle oder Vorschläge für Techniken in verschiedenen Unterrichtsfächern.
Mit dem Ansatz der gewaltfreien Konfliktlösung für die Schule, wie in „Das freundliche Klassenzimmer“ beschrieben, hat man ein Gerüst. Es gibt nämlich noch viel mehr Bücher mit allerlei Übungen und Spiele für interaktives Lernen, oft fehlt aber ein Konzept für eine sinnvolle Anwendung. So kann man den Kindern sogar das Spielen verderben. Mit dem Konzept im Kopf (und im eigenen Handeln) kann man aus allen möglichen Quellen die Beispiele in „Das freundliche Klassenzimmer“ fast endlos ergänzen.
Was können wir von der Vermittlung gewaltfreier Konfliktlösungsmethoden in der Schule erwarten? Auch wenn der Ansatz in allen Klassen einer Schule engagiert eingesetzt würde, blieben die Zensuren, der Stundenplan, die Hierarchie und vieles mehr. Es würde keine Revolution des Schulwesens geben!
Wenn aber immer wieder Schulklassen oder auch einzelne SchülerInnen nicht nur erzählt bekommen, sie sollen sich nicht prügeln, sondern für sich erleben, wie sie ihre Probleme anders bewältigen können, kann das mal später Früchte tragen. Bei einigen. Sicher nicht sofort bei allen. Eine Kultur – und die hiesige Konfliktkultur kann nur als brutal bezeichnet werden – kann man nicht über Nacht neu definieren.
Wer meint, er oder sie hat schon lange nichts mehr mit der Schule zu tun, findet vielleicht doch etwas in diesem Buch. Es ist nicht nur auf den Einsatz in der Schule beschränkt, und wer sich sonst für gewaltfreie Konfliktlösung interessiert und mit Kindern zu tun hat bekommt sicher eine gute Ergänzung zu den anderen Trainingsbüchern mit gewaltfreiem Ansatz, die z.B. Bereiche wie Zivilcourage, abdecken.
„Das freundliche Klassenzimmer“ ist ein Handbuch für den praktischen Gebrauch. Es stellt keinen Anspruch, revolutionär zu sein, will auch kein Konzept zur Reform der Schule als Ganzes sein. So habe ich dieses Buch benutzt, und so hat es sich bewährt. Daher kann ich dieses Buch nur sehr positiv rezensieren. Es ist nur wirklich schade, daß es so lange gedauert hat.
Priscilla Prutzman, Lee Stern, M. Leonard Burger, Gretchen Bodenhammer: "Das freundliche Klassenzimmer". Gewaltlose Konfliktlösungen im Schulalltag. Kreative Lebensgestaltung und Problemlösungen für Kinder. Ein Handbuch. Verlag Weber, Zucht & Co, Kassel 1996. 174 S., 24 DM.