Die medienwirksame Kampagne "Hanau selber kaufen" der atomkritischen Ärzteorganisation IPPNW lässt die Tatsache in den Hintergrund treten, dass mitten in Peking längst ein in Deutschland entwickeltes Atomkraft-Exportprodukt in Betrieb ist: Es handelt sich um den Hochtemperaturreaktor (HTR).
Der seit 15 Jahren in der Öffentlichkeit und im Bewusstsein vieler UmweltschützerInnen gleichermaßen in Vergessenheit geratene Reaktortyp wird jetzt weltweit als neuer Hoffnungsträger der Atomindustrie gehandelt. Im Schutze dieses Desinteresses wurde in Deutschland in der Vergangenheit zielgerichtet an der Wiederauferstehung dieser Reaktorlinie gearbeitet.
Nach der Stilllegung des HTR-Forschungsreaktors in Jülich im Jahre 1988 und des THTRs in Hamm-Uentrop 1989 hat unter Rotgrün das mit 4.200 MitarbeiterInnen größte europäische interdisziplinäre Forschungszentrum in Jülich (FZJ) die HTR-Linie nicht nur weiterentwickelt, sondern dieses Know how exportiert und den Neubau dieser Reaktoren im Ausland aktiv mit in die Wege geleitet und unterstützt. Das Forschungszentrum Jülich (FZJ) gehört zu 90 % dem Bund und zu 10 % dem Land NRW. Um diese Sachverhalte hat sich der „Hanau selber kaufen“-Unterstützer Winfried Nachtwei (MDB und militärpolitischer Sprecher der Grünen) aus Münster allerdings nie gekümmert, obwohl er in der Nachbarstadt des inzwischen stillgelegten Thorium-Hochtemperaturreaktors (THTR) wohnt! Es wäre ja auch zu peinlich und würde die aktuellen Atom-Exportbemühungen seines Bundeskanzlers als Spitze des Eisberges offen legen.
HTR in China
Nach der Stilllegung des THTRs im Jahre 1989 hat das FZJ über 70 verschiedene Arbeiten und Untersuchungen zur Weiterentwicklung der HTR-Linie durchgeführt, obwohl diese in Deutschland bereits offiziell aufgegeben wurde. Die seit den 70er und 80er Jahren bestehende intensive internationale Zusammenarbeit mit rund einem Dutzend anderen Instituten und Organisationen auf der ganzen Welt wird bis heute weiterverfolgt und auf der FZJ-Homepage präsentiert.
Bereits 1978 besuchte der stellvertretende chinesische Energieminister Chang Pin mit einer 17köpfigen Delegation den damals im Bau befindlichen THTR in Hamm-Uentrop. Seit dieser Zeit besteht eine Zusammenarbeit zwischen dem FZJ und dem Institute of Nuclear Engineering Technology (INET) an der Tsin-ghua Universität in Peking, die auch nach dem Massaker auf dem „Platz des Himmlischen Friedens“ im Jahre 1989 nicht abgebrochen wurde. 1995 begannen die Chinesen auf dem Gelände der Universität mit dem Bau des 10 MW HTRs. Es ist ein Kugelhaufenreaktor wie in Hamm. Im Jahre 2000 wurde der Reaktor erstmals kritisch.
Mehrere der oben genannten über 70 Arbeiten des FZJ sind speziell für die Entwicklung des chinesischen Reaktors geschrieben worden. Im Jahre 2001 fand in Peking eine internationale Tagung anlässlich der Erstkritikalität des HTR´s in China statt, über die Chrysanth Marnet in der Zeitschrift „Atomwirtschaft“ (Nr. 8 – 9, 2001) euphorisch berichtete. Dieser Mann ist kein Unbekannter. Er ist Vorstandsmitglied der Düsseldorfer Stadtwerke, der einflussreichen Essener „Vereinigung der Großkraftwerksbetreiber“ (VGB) und AVR-Geschäftsführer des inzwischen stillgelegten HTRs in Jülich. 1987 musste er aufgrund öffentlicher Proteste der Anti-Apartheid-Bewegung seine geplante Vortragsreise nach Südafrika absagen.
HTTR in Japan
Eine ähnliche Entwicklung ist in Japan zu verzeichnen. Das Japan Atomic Research Institute (JAERI), ein Kooperationspartner von Jülich, arbeitet seit 1969 an der Entwicklung des High Temperature Engineering Test Reactors (HTTR). 1991 wurde in dem Forschungszentrum Oari mit der Errichtung eines 30 MW HTTR begonnen, der für die Prozesswärmebereitstellung gedacht ist. 1998 erfolgte die Erstkritikalität, und 2001 erreichte der Reaktor zum ersten mal Volllast.
Auch hier hat das FZJ mindestens fünf Arbeiten und Untersuchungen für die HTR-Entwicklung in Japan durchgeführt. In der Zeitschrift „Atomwirtschaft“ wurde 1999 von einem Jülicher Wissenschaftler die Möglichkeit hervorgehoben, dass die Herstellung von HTR-Brennstoff in Japan es ermöglichen würde, neue deutsche HTRs zu beschicken!
Indonesien: Atomindustrie auf der Lauer
Das Forschungszentrum Jülich (FZJ) kooperiert mit der Nationalen Atomenergiebehörde von Indonesien (BATAN). Das bevölkerungsreichste islamische Land der Welt wurde bis 1998 durch eine Militärdiktatur unter Suharto regiert. Viele hunderttausend Oppositionelle sind in dieser Zeit ermordet worden.
Bereits seit den frühen 70er Jahren besteht in diesem von der Atomindustrie umworbenen Schwellenland das Interesse an dem Bau von Atomkraftwerken. 1987 wurde in Zusammenarbeit mit Deutschland ein nuklearer Forschungsreaktor (MPR-30) in Betrieb genommen. Als wenige Monate nach der Katastrophe in Tschernobyl und dem Störfall im THTR-Hamm im Jahre 1986 der sozialdemokratische NRW-Wirtschaftsminister Reimut Jochimsen diesen Reaktor in Indonesien besichtigte, empfahl er der dortigen Militärregierung den Bau der deutschen HTR-Technologie (RN, 20. 2. 1987).
Die Siemens-Tochtergesellschaft Interatom, die den THTR mitentwickelt hatte, machte sich Hoffnungen auf das Atomgeschäft mit Indonesien. Am 9. 7. 1987 besuchte Indonesiens Staatsminister für Forschung und Technologie, Professor Habibie, den THTR in Hamm-Uentrop und ließ sich von Klaus Knizia (VEW) persönlich seine angeblichen Vorzüge erklären. ABB und Siemens betonten in der folgenden Zeit immer wieder ihre Hoffnung auf einen HTR-Export nach Indonesien (Spiegel 2/1989). Auf der Tagung der Internationalen Atomenergie-Organisation im Jahre 1991 in Wien formulierte ein indonesischer Energieexperte deutliches Interesse seines Landes. Selbstverständlich wurde auch im FZJ 1992 eine spezielle Arbeit über den Einsatz von AKWs in Indonesien veröffentlicht.
1997 bezeichnet die mit deutscher Unterstützung geschriebene Energieprognose („Markal-Studie“) den Einsatz von Atomenergie in Indonesien als „unerlässlich“. Das internationale Büro des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) nennt heute die indonesische Behörde für Nuklearforschung (BATAN) als wichtigen Partner für die bilaterale Zusammenarbeit und verweist auf ein bereits ausgebautes Netzwerk von deutschen und indonesischen Forschungseinrichtungen.
Mittlerweile seien im Rahmen der wissenschaftlich-technischen Zusammenarbeit mehr als 20.000 indonesische StudentInnen in Deutschland ausgebildet worden.
In den Jahren 2002 und 2003 führte das durch nukleare Störfälle mit HTR-Kleinstkügelchen und eine hohe Leukämierate in der Umgebung ins Gerede gekommene Forschungszentrum Geesthacht (GKSS) neben dem AKW Krümmel ein wissenschaftliches Projekt in Jakarta (Indonesien) durch. Günter Lohnert, Leiter der Abteilung „HTR-Sicherheitsanalysen“ bei Siemens/Interatom und heute Lehrstuhlinhaber an der Uni Stuttgart („Kompetenzzentrum Kernenergie“), hielt zahlreiche Gastvorlesungen in Indonesien.
Im Jahr 2000 wurde Dr. Hans-Joachim Klar von der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule Aachen, die intensiv mit dem FZJ kooperiert, von der Nationalen Atomenergiebehörde Indonesiens (BATAN) zum Mitglied des Wissenschaftlichen Berater-Kommitees (SAC) ernannt. Klar hat bereits verschiedene Seminare und Workshops in Indonesien durchgeführt. „Die Ernennung würdigt seine Verdienste in verschiedenen wissenschaftlichen Kooperationen mit Indonesien“ und „erfolgt aufgrund eines Dekrets der Indonesischen Regierung, das die Aktivitäten der nuklearen Energieversorgung regelt (…)“, schreibt die RWTH Aachen März/April 2000 in einer Presseerklärung.
All diese Mosaiksteine belegen eine jahrzehntelange intensive technisch-wissenschaftliche Kooperation zwischen Deutschland und Indonesien, die auch auf dem Gebiet der Atomkraftforschung stattgefunden hat. Die weitere Entwicklung sollte genau beobachtet werden. Denn selbst nach dem verheerenden und weltweit beachteten islamistischen Terroranschlag am 12. 10. 2002 auf Bali wird sich die Atomindustrie nicht davon abbringen lassen, dieses Gefährdungspotential auch in Indonesien anwenden zu wollen.
HTR-Netzwerk mit EU-Geldern finanziert
Schon vor einigen Jahren begannen in den USA vom Department of Energy (DOE) die Vorbereitungen für den Aufbau einer neuen angeblich katastrophensicheren Reaktorlinie, mit der die US-Regierung ihre Offensive für den Bau vieler neuer Atomkraftwerke auch gegenüber KritikerInnen rechtfertigen will. Es ist die „Generation IV“.
Die europäischen Atomkonzerne und ihre Forschungseinrichtungen wollen in Zukunft von dem großen zu verteilenden Kuchen etwas abbekommen und haben die „Europäische Kommission“ dazu gebracht, sich im 5. EU-Rahmenprogramm (Framework Programme – FP5) verstärkt für die HTR-Linie zu engagieren. Sie wollen auf diese Weise die Akzeptanz der HTRs als aussichtsreichen Kandidaten für diese neue Atomenergiegeneration vorantreiben. Hierfür haben 17 verschiedene Firmen und Forschungseinrichtungen im Jahr 2000 das HTR-Technology Network (HTR-TN) gegründet. Es wurden mehrere große Konferenzen in Brüssel, Moskau, Peking und den Niederlanden durchgeführt, an denen bis zu 160 WissenschaftlerInnen teilnahmen. In der Zeitschrift „Nuclear Europe Worldscan“ (7 – 8, 2001) schrieb mit Joel Guidez, Mitglied der Europäischen Kommission und Propagandist des HTR-TN, dass allein im Jahre 2001 im Haushalt des 5. EU-Rahmenprogramms für das Teilprojekt HTR 17 Millionen Euro ausgegeben wurden! Wie viel in den anderen Jahren, ist noch unklar.
In dem „Wissenschaftlichen Ergebnisbericht“ 2002 des Forschungszentrums Jülich ist von Untersuchungen zur „Verbrennung von Plutonium 2. Generation in HTR“ (Unterstreichung im Original) zu lesen. Die beiden Autoren aus Jülich verfassten in den 90er Jahren zahlreiche Arbeiten zum HTR, und einer meldete sogar ein spezielles Patent zum HTR an. 2002 erstellten sie innerhalb des 5. EU-Rahmenprogramms, Teilprojekt HTR-N1, „eine erste Basisstudie zur Rezyklierung und Verbrennung von Plutonium der sogenannten ‚2. Generation‘ in einem Kugelbett-HTR“.
Unter anderem als Auftragsnehmer vom FZJ betätigt sich das „Institut für Kernenergetik und Energiesysteme“ (IKE) der Uni Stuttgart an der HTR-Forschung. In der Zeit von 1999 bis 2001 wurde hier an dem Forschungsprojekt „Gas Cooled HTR Network“ (GHTRN) gearbeitet. Von 2000 bis 2002 vergaben das FZJ und der französische Atomkonzern Framatome den Auftrag „HTR-TN“, um diesen Reaktortyp zu konstruieren.
Es ist also festzustellen, dass die Atomindustrie schon seit einigen Jahren auf der schwerer zu durchschauenden und zu kontrollierenden EU-Ebene an ihrer HTR-Linie forschen lässt und auch mit außereuropäischen Ländern intensiv kooperiert.
Ein Graswurzler im Umweltministerium?
Schon vor einem Jahr haben wir als Bürgerinitiative (BI) den Bundesumweltminister Trittin auf die besorgniserregende Entwicklung aufmerksam gemacht, aber trotz mehrmaliger Erinnerung keine Antwort erhalten. Im November 2003 schrieben wir Michael Schroeren, den Pressesprecher Trittins und ehemaligen Graswurzelrevolution-Redakteur in den 70er Jahren, persönlich an und baten um eine Antwort. Ganz zufällig rief er mich im Januar an genau dem Tag an, an dem in der „Jungen Welt“ in einem ganzseitigen Artikel sein Dienstherr wegen dem HTR-Export angegangen wurde und mit einem großen Koffer mit „Atom-Know how“ abgebildet wurde. In dem freundlichen, aber etwas unverbindlichen Gespräch sicherte er mir eine baldige umfassende Antwort einer Fachabteilung des Bundesumweltministeriums zu. Einen Monat später erhielten wir ein paar nichtssagende Zeilen, in denen das stand, was sowieso alle schon wissen: Die Atomkonzerne haben großes Interesse an der HTR-Weiterentwicklung, und zu den Proliferationsrisiken hat Trittin nichts zu sagen. Diese „Antwort“ ist eine Zumutung. Es ist ein Skandal, dass niemand in dieser Bundesregierung bisher den Atomkonzernen und ihren Forschungsinstituten jemals ernsthaft auch nur die allerkleinste Schwierigkeit bereitet hat, an der HTR-Linie weiterzuforschen, oder die offensiven Exportbemühungen endlich gestoppt würden!
Provinzposse in Hamm
In Hamm steht der einzige HTR der Welt, der über das Stadium eines Forschungsreaktors hinausgekommen ist und über dessen Betriebserfahrungen es viel zu berichten gibt. Aus diesem Grunde hat die örtliche BI bei dem zuständigen Beschwerdeausschuss der Stadt Hamm zusammen mit verschiedenen anderen Organisationen und in Absprache mit südafrikanischen UmweltschützerInnen den Antrag gestellt, zwischen Hamm und Kapstadt einen Erfahrungsaustausch zum Thema „Gefahren von Hochtemperaturreaktoren“ in die Wege zu leiten.
Die Stadtverwaltung und der Oberbürgermeister lehnten in zwei Stellungnahmen diese Eingabe ab, weil sie angeblich nichts mit einer gemeindlichen Aufgabenstellung zu tun habe. Nachdem über fünf Monate alle Sitzungen des Beschwerdeausschusses ausgefallen sind, der Antrag schriftlich jeweils vom Hammer Bürgermeister und von der Verwaltung abgelehnt wurde, die BI darauf antwortete, fand plötzlich innerhalb von nur zwei Werktagen nach der Ankündigung doch noch eine Sitzung statt. Auf dieser konnte den Verantwortlichen unter bestimmten Bedingungen immerhin abgerungen werden, dass die Stadt im Rahmen bestehender Verordnungen und Gesetze ausländischen Institutionen Gutachten und Materialien zukommen lässt, wenn diese anfragen. Vielleicht hat sie damit in den nächsten Jahren viel zu tun.
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