Samstagnacht, 5. Juni in Barcelona, der Stadt des Friedens, des Dialogs und der Multikulturalität (1). Die nachtschwärmenden TouristInnen zeigen sich leicht irritiert darüber, dass sie nicht den Platz der Kathedrale passieren dürfen. "Aus Sicherheitsgründen" - erklärt die Guardia Urbana. In der Kathedrale und in der benachbarten Kirche Pi haben sich im Anschluss an eine Demonstration mehr als 1.500 MigrantInnen sin papeles (ohne Papiere) eingeschlossen und fordern papeles para todos, die bedingungslose Regularisierung (Legalisierung) für alle.
Derzeit gibt es für die oft schon seit Jahren „illegal“ in Spanien lebenden MigrantInnen, Schätzungen zufolge mehr als eine Million Menschen, keine Möglichkeit, Papiere zu bekommen. Zudem hat die extrem langsam arbeitende Bürokratie, die für die Verlängerung einer Arbeits- und Aufenthaltserlaubnis an die neun Monate braucht, einen Aktenstau verursacht, durch den über 370.000 MigrantInnen „illegal“ geworden sind. Eigentlich hätte die Erneuerung der Papiere reine Formsache sein können, aber die Behörden versinken in Aktenbergen, gehen nur ganz gelegentlich ans Telefon und vergeben dann Termine ein halbes Jahr, nachdem die Papiere abgelaufen sind. Und wer „illegal“ ist, ist „illegal“ und bleibt „illegal“. So das Gesetz, das von PP und PSOE noch zu Regierungszeiten Aznars verabschiedet wurde und seit November 2003 in Kraft ist.
Drinnen in der Kathedrale wird seit Stunden im Plenum mit Übersetzungen in sieben Sprachen über das weitere Vorgehen beraten. Draußen an der Kathedrale haben sich PolitikerInnen aus der Stadtverwaltung, der Generalitat (autonome Regierung Kataloniens) und Delegierte der Zentralregierung sowie VertreterInnen der Caritas eingefunden, um den Eingeschlossenen klarzumachen, wie „unverhältnismäßig“ die Aktion sei; vor allem angesichts der einen Tag zuvor angekündigten Beschleunigung des Erneuerungsverfahrens und der Dialogbereitschaft seitens der neuen Machthaber. „Verhältnismäßiger“ wäre es ohne Zweifel gewesen, die Forderungen mit einer farbenprächtigen Multikulti-Performance im Rahmen eines Forum-Dialogs zum Thema Migration, der Anfang September stattfinden wird, zum Ausdruck zu bringen.
Die zur Verhandlung gestellten Alternativen lauten: freiwillige Räumung der Kathedrale bis ein Uhr oder Polizeieinsatz. Andere Angebote gibt es nicht.
„Weder Spanien noch irgendein anderes europäisches Land wird jemals die Forderung papeles para todos akzeptieren.“ Verkündet Joan Rangel, Delegierter der Zentralregierung, um ja keine Zweifel aufkommen zu lassen; an der Festung Europa ist nicht zu rütteln. Dass Spanien einer der bestbewachten Wehrtürme der Festung Europaist, belegt u. a. die Zahl der angenommenen Asylanträge: 369 Menschen wurde 2003 in Spanien das Recht auf Asyl gewährt; gestellt haben den Antrag 6.345 Menschen.
„Du hast sie da reingesteckt, damit bist Du verantwortlich für alles weitere, was geschieht“, so ein Unterhändler zu einem der Sprecher der asamblea para la regularización sin condiciones (Plenum für die bedingungslose Regularisierung) während des in einem Nebengebäude der Kathedrale improvisierten Treffens. Die Lage ist angespannt. Die Besatzung der 16 die Kathedrale umzingelnden Polizeiwagen wartet bereits seit gut acht Stunden auf den Einsatzbefehl. Es wird später und später, der Haufen der Solidarischen wird immer kleiner, die Presse ist abgezogen, schließlich muss die Nachricht für die Sonntagsausgabe in Druck. Gegen fünf ist es soweit. Die Guardia Urbana dringt in die Kathedrale ein und räumt die dort versammelten Menschen. Drei Stunden später hätten sie die Kathedrale auch ohne Hilfe der Exekutive verlassen, so wie es ursprünglich mit dem Erzbischof vereinbart worden war. Dieser hat jedoch dem Druck der Regierenden nachgegeben und die Räumungserlaubnis erteilt. Aber nicht ohne sich zuvor durch ein von Generalitat und Stadtverwaltung, den großen Gewerkschaften, der Erzdiozöse und einer handvoll MigrantInnenkollektive unterschriebenes Positionspapier Rückendeckung zu verschaffen. In dem Papier werden die Kircheneinschließungen aufs schärfste verurteilt und Bedenken über die „Manipulation“ der MigrantInnen durch die „unverantwortlichen Rädelsführer aus dem Umfeld der CGT“ geäußert, die die MigrantInnen in „eine Sackgasse führen, ohne über Maßnahmen zur Verhinderung der Konsequenzen nachzudenken“. Während der Nacht kommt es in der und um die Kathedrale zu 30 „zufälligen“ Verhaftungen, welche für die Betroffenen den Abschiebebefehl zur Folge haben.
„Eine Beleidigung unserer Intelligenz“, kommentiert ein an der Aktion beteiligter Migrant den Manipulationsvorwurf. „Und was noch schlimmer ist: es wird keine Lösung angeboten.“
Die jetzige Aktion in der Kathedrale Barcelonas und der Kirche Pi erinnert an die Aktionen von 2001. Damals schlossen sich über tausend MigrantInnen in zehn verschiedenen Kirchen in der Stadt ein. Die Einschließungen endeten erst nach 48 Tagen und erzielten die Regularisierung von 200.000 „Illegalen“. Besonders die Kirche Pi mitten in der Innenstadt und ganz in der Nähe der Kathedrale, wo die MigrantInnen in Hungerstreik traten, wurde berühmt. Den protestierenden MigrantInnen wurde seitens der BewohnerInnen Barcelonas viel spontane Solidarität zuteil. Auch die politische Opposition unterstützte die Forderung papeles para todos der gleichnamigen Gruppe.
Clos, Bürgermeister Barcelonas und Präsident des Forums 2004, verkündete damals vollmundig, wenn er nicht der Bürgermeister wäre, würde er sich mit den protestierenden MigrantInnen zusammen einschließen. MigrantInnen, die das Schaufenster des „größten Ladens der Welt“ (so eine Imagekampagne für Barcelona) nicht stumm mit Folklore und Flair schmücken, sondern Rechte fordern, können bei den damaligen Oppositionellen, die jetzt in Madrid und Katalonien regieren, mittlerweile nicht mehr mit Unterstützung rechnen. Umso verwunderlicher die Verwunderung Rangels: „Es ist merkwürdig, dass es ausgerechnet jetzt, wo wir eine neue Regierung haben, die den Dialog eröffnet, solche Aktionen gibt.“
Am Sonntagmorgen ist die Kirchenbesetzung Titelthema aller spanischen Tageszeitungen. Die überregionalen Medien widmen dem Ereignis mehrere Seiten. Am nächsten Montag macht die als „friedlich“ titulierte Räumung Schlagzeilen, und in den folgenden Tagen wird mehr als üblich über die Migrationsproblematik berichtet. Der Grundtenor ist bei so gut wie allen Artikeln derselbe und mutet arg nach Hofberichterstattung an; die Besetzung sei gerade zu diesem Zeitpunkt inopportun, die neue Regierung hätte doch schon mit den Vorbereitungen für die Änderung des Ausländergesetzes im kommenden September einen Schritt in die richtige Richtung getan. Die großen Gewerkschaften UGT und die Comisiones Obreras klagen lauthals die UnterstützerInnen und MitorganisatorInnen der Kircheneinschließungen von der aus papeles para todos hervorgegengenen asamblea para la regularisación sin condiciones an, dass sie „die verzweifelte Lage der Migranten ausnutzen, um zu versuchen, den von der PSOE initiierten Wandel in der Migrationspolitik für sich zu beanspruchen“.
Die angesprochene Gesetzesreform soll denen, die ein arraigo laboral („Verwurzelung im Arbeitsmarkt“, d. h. einen Arbeitsvertrag oder ein Arbeitsangebot) vorweisen können, die Möglichkeit geben, eine Aufenthaltserlaubnis zu erhalten. Eine paradoxe Regelung, da „Illegale“ offiziell nicht beschäftigt werden dürfen.
Die Logik der für September 2004 geplanten Regelung folgt dem neoliberalen Diskurs, der MigrantInnen in „nützliche Arbeitskräfte“ und „unnütze Schmarotzer“ einteilt. Es ist kaum zu befürchten, dass irgendjemand der an der Aktion Beteiligten, und seien es die vermeintlichen „Rädelsführer aus dem CGT-Umfeld“, deren Forderung auch heute noch papeles para todos lautet, sich diesen vielgepriesenen Wandel, an dem nicht nur Edmund Stoiber seine helle Freude hätte, auf die schwarz-roten Fahnen schreiben will. Den Ruhm können die SozialdemokratInnen getrost für sich behalten.
(1) Zum Thema siehe: "Ich kauf' mir eine bess're Welt." Das Forum 2004 oder: Anti-Globalisierung als Marketingstrategie, Artikel von Joseph Steinbeiß, in: GWR 285, Jan. 2004, S. 7; Die Schattenseiten einer Hochglanzmetropole. Die Kasernen von Sant Andreu. Ein Bericht aus Barcelona, Artikel von Josep de la Muntanya, in: GWR 288, April 2004, S.9; und: "Movimiento Coca-Cola". Barcelonas StadtplanerInnen entdecken das Verkaufspotential des globalisierungskritischen Diskurses, Artikel von Sophia Arevan, in: GWR 290, Juni 2004, S. 1, 14