nachruf

Anthony Smythe

Ein Leben für Gewaltlosigkeit und Gerechtigkeit - Ein Nachruf

| Helga und Wolfgang Weber-Zucht

Tony Smythe wird vielen LeserInnen der Graswurzelrevolution kein Begriff sein. Er hat aber auf die Arbeit von Friedens- und Menschenrechtsbewegungen in Großbritannien und weit darüber hinaus nachhaltigen Einfluß ausgeübt. Er ist am 27. März 2004 im Alter von 65 Jahren in London gestorben.

Howard Clark schreibt in seinem Nachruf in der Peace News: „Myrtle Solomon erinnerte sich an Tony, als sie ihn zum ersten Mal bei einer Veranstaltung der Peace Pledge Union in den 50er Jahren sah: ‚es war, als wäre Adonis zu uns gekommen‘. Tony hinterließ dann später einen völlig anderen Eindruck, indem er nicht nur die Friedensbewegung, sondern die ganze Kampagnenscene Großbritanniens beeinflußte.“

Tony war gegen Ende der Wehrpflicht nach dem 2. Weltkrieg in Großbritannien der letzte Totalverweigerer und 1958 für drei Monate im Gefängnis. Als entschiedener Gegner der Wehrpflicht entschloß er sich, nicht das Abzeichen eines Sklaven zu tragen, getreu dem berühmten Ausspruch Keir Hardys, der sagte: „Conscription ist the badge of a slave“ – „Dienstzwang ist das Abzeichen eines Sklaven“.

Kurz danach begann seine Arbeit bei der War Resisters‘ International, WRI (Internationale der KriegsdienstgegnerInnen), in London als 2. Sekretär und später Generalsekretär. Er war Mitorganisator der WRI-Konferenz in Indien 1960 und der Gründungskonferenz der World Peace Brigade 1962 in Beirut, die gewaltlose Interventionen in Krisen- und Konfliktgebieten zum Ziel hatte. 1960 gehörte er zu den Gründungsmitgliedern des Komitees der 100, das von Bertrand Russell angeregt wurde und massenhaften zivilen Ungehorsam gegen Großbritanniens Atombombe organisierte. 1961 saß er mit 40 anderen Mitgliedern des Komitees deswegen einen Monat im Gefängnis, darunter Bertrand Russell, Alex Comfort und Arnold Wesker. Er gehörte ebenfalls zu den Befürwortern und Initiatoren der Internationalen Konföderation für Abrüstung und Frieden, die 1964 in Oxford gegründet wurde und eine Sammlung unabhängiger Friedensorganisationen war, besonders von Kampagnen gegen Atomwaffen – unabhängig von Regierungen und vom sowjetisch dominierten Weltfriedensrat und dessen Satelliten.

1964 verließ Tony die WRI. Er meinte, es sei angebracht, nach etwa fünf Jahren einen Wechsel beim Generalsekretär vorzunehmen. Außerdem hatte er das Gefühl, daß er ausgelaugt sei, zu sehr in Stereotypen denke und die Aufgaben nicht mehr kreativ genug angehen könne. Zwei Jahre war er danach Personal und Trainings-Manager des Scott-Bader Commonwealth, einem Industriebetrieb, bei dem die MitarbeiterInnen MiteigentümerInnen sind.

Censorship is more depraving and corrupting than anything pornography can produce.

Zensur verdirbt und korrumpiert mehr, als Pornographie je bewirken kann.

1966 wurde Tony Generalsekretär des National Council for Civil Liberties, NCCL, einer Menschenrechtsorganisation. Bei dieser Arbeit wurde er einer der führenden politischen Figuren Großbritanniens. Er verdreifachte die Mitgliedschaft der Organisation und konnte Menschen in sozialen Bewegungen davon überzeugen, daß zivile Freiheiten – oder BürgerInnenrechte – wesentlicher Bestandteil ihrer Arbeit ist. Von BürgerInnenrechten im eigentlichen Sinne kann man in Großbritannien nicht sprechen, da es keine geschriebene Verfassung gibt, von der man Rechte ableiten kann. Unter seiner Leitung wurde die NCCL zu einer vielgestaltigen Organisation, die viele soziale und politische Probleme anging.

Es wurde ein Netzwerk von Rechtsanwälten aufgebaut. Sie kümmerten sich z.B. um die Rechte von Strafgefangenen.

Anfang der 70er Jahre kamen von diesen täglich Briefe mit ihren Beschwerden. Individuelle Beratung wurde erteilt, die Beschwerden wurden gesammelt und ausgewertet und an eine parlamentarische civil liberties

Gruppe weitergeleitet, die sich aus MPs aller Parteien zusammensetzte und die Änderung der Gesetze anstrebte.

Weiter wurde ein Netzwerk von BeobachterInnen gebildet, um das Verhalten der Polizei bei Demonstrationen zu überwachen. In diesem Zusammenhang kam es zu einer Untersuchung des Blutigen Sonntags vom 30. Januar 1972 im nordirischen Derry, bei dem Soldaten der britischen Armee 13 katholische DemonstrantInnen erschossen. Tony und der Rechtsanwalt der NCCL, Larry Grant, waren auf dem Weg nach Derry, wurden aber acht Stunden lang von der Polizei festgehalten und konnten somit nicht Zeuge des Blutigen Sonntags sein. Der britische Justizminister leitete eine Untersuchung, bei der die Armee reingewaschen wurde. Daraufhin lud die NCCL die Internationale Liga für Menschenrechte ein, eine unabhängige Untersuchung durchzuführen, die die Armee schwer belastete.

Die NCCL führte weitere Kampagnen durch, die zum großen Teil Minderheiten betrafen wie Homosexuelle (Tony wurde Vizepräsident der Campaign for Homosexual Equality), Roma, EinwandererInnen und Wohnungslose. Ein besonderes Anliegen war für Tony die Frage der Zensur und Meinungsfreiheit. In der Zeit von swinging London in den 60er Jahren kamen z.B. in der Untergrundpresse eine Reihe von Themen zur Sprache, wie Homosexualität oder sexuelle Permissivität, die einer privilegierten Minorität nicht gefielen und die aufgrund unbestimmter Formulierungen in Gesetzen zu willkürlichen und widersprüchlichen Maßnahmen von Justiz, Polizei, Politik und selbsternannten Hütern öffentlicher Moral führten. In diesem Zusammenhang prägte er den Satz: „Zensur verdirbt und korrumpiert mehr, als Pornographie je bewirken kann“, der von BefürworterInnen der Meinungsfreiheit in aller Welt zitiert wird. Eine weitere Kampagne widmete sich den Rechten der Kinder. Es wurde schnell klar, daß fast alle davon betroffen sind, Eltern, Lehrer, Kinder, Autoritäre oder Libertäre. Haben Eltern ein Recht auf Eigentum an Kindern? Es wurde eine Kampagne, die landesweit diskutiert wurde, und viele Kinder kamen mit ihren Problemen zur NCCL.

Zu Beginn seiner Zeit bei der NCCL befaßte sich diese mit dem Problem der boy soldiers. Männliche Jugendliche konnten von ihren Eltern zum Militärdienst verpflichtet werden, wenn sie 14 Jahre alt wurden. Der eigentliche Dienst beim Militär begann aber erst, wenn sie 18 Jahre alt wurden, und die elterliche Verpflichtung galt von nun ab für 12 Jahre. Diese für die Jugendlichen unhaltbare Situation konnte nicht völlig abgeschafft, aber doch erheblich gemildert werden.

1973 war Tony für kurze Zeit in den USA, um für die American Civil Liberties Union, der US-Schwesterorganisation der NCCL, zu arbeiten. Aber Jeanne, seine Lebensgefährtin, und ihre fünf Töchter konnten keine Aufenthaltsgenehmigung für die USA bekommen, da Jeanne und Tony wegen ihrer anarchistischen Überzeugung keine staatliche Lizenz für ihre Beziehung akzeptierten. Nach seiner Rückkehr nach London wurde er Direktor von MIND, einer Organisation, die sich für die Rechte von psychisch Kranken einsetzt und die unter seiner Führung kämpferischer wurde und vor allem diejenigen in die Kampagnen mit einbezog, die unter den Mißhandlungen, die das System der Psychiatrie ihnen auferlegt, am meisten zu leiden haben, die psychisch Kranken selbst. Seine Arbeit dort wurde ähnlich erfolgreich wie für die NCCL.

Er arbeitete für weitere Organisationen. Zu Beginn der Probleme im früheren Jugoslawien reiste er für die britische Sektion der IPPNW mehrere Male nach Serbien, Kroatien und Bosnien. Noch bevor dort die kriegerischen Auseinandersetzungen begannen, sah er die Katastrophe heraufkommen und appellierte leidenschaftlich an die Friedensbewegung, die Öffentlichkeit, PolitikerInnen und Regierung für eine zivile Intervention und war bitter enttäuscht über die mangelnde Reaktion. Zehn Jahre später, als Jeanne im Krankenhaus wegen eines Gehirntumors im Sterben lag, saßen FreundInnen in einem Nebenzimmer mit Tony zusammen, und er weinte bitterlich vor allem über seine eigene Unfähigkeit, Essentielles zur Abwendung dieser Kriege bewirkt zu haben. Die FreundInnen waren entsetzt über diese Art der Selbstbeschuldigung, versuchten ihn zu beruhigen und wiesen auf die kriminellen Interessenlagen von Regierungen hin. Später meinte ein anarchistischer Freund, der mehrere Jahre mit Tony in der NCCL zusammengearbeitet hatte, daß er allerdings die Fähigkeit hatte, ganze Organisationen und sogar Teile eines Parlaments zum Handeln zu bewegen.

Liberal Organisations should be run by anarchists

Liberale Organisationen sollten von Anarchisten geleitet werden

Tonys Leben ist von bemerkenswerten Entwicklungen geprägt, die für einen Anarchopazifisten nicht alltäglich sind. Sein Leben als junger Erwachsener begann mit überschäumender Energie als Aktivist im Widerstand gegen Krieg, Rüstung und Militär. Sein späteres Leben ist gekennzeichnet durch aktive Teilnahme und Einflußnahme auf gesellschaftliche Entwicklungen bis in die politischen Parteien und das Parlament hinein. Dabei war einer seiner Leitsätze: „Liberale Organisationen sollten von Anarchisten geleitet werden“. Das sollte nicht verstanden werden, daß er versuchte, die Organisationen, in denen er arbeitete, zu anarchistischen Organisationen zu machen. Er hat sich stets an die demokratischen Regeln, die sich eine Organisation gab, gehalten und versucht, Entscheidungen im Konsens herbeizuführen. Daß dies nicht immer leicht war, zeigt das Beispiel der NCCL. Dort waren im Vorstand VertreterInnen fast aller politischen Richtungen vereint: Konservative, Liberale, SozialistInnen, GewerkschafterInnen, KommunistInnen und AnarchistInnen. Sein Leitsatz bedeutete für ihn vor allem: AnarchistInnen haben ein größeres Verständnis als viele andere dafür, wo Unrecht und Unterdrückung in der Gesellschaft stattfinden und wie sie wirken. Darüber hinaus haben AnarchistInnen ein Gespür dafür, wie eine Gesellschaft von freien Menschen aussehen kann und auf welche Weise, mit welchen Mitteln wir dahin gelangen können. In welcher Funktion und mit welchem Titel Tony auch immer arbeitete, er hat stets Kontakt zu pazifistischen und anarchistischen Gruppen und Organisationen gehalten. An den Treffen seiner örtlichen anarchistischen Gruppe hat er bis etwa ein Jahr vor seinem Tode teilgenommen. Ebenso hat er beim Versand von Peace News, der Zeitschrift für gewaltlose Revolution, geholfen.