Margarethe Hardegger war Sozialistin, Anarchistin und Tabubrecherin. Ina Boesch hat sich die Arbeit gemacht, das Gegenleben der Frau, die in keine Schublade passte, zu entziffern.
Facettenreich hat sie zusammengetragen, was sich in den Jahren zwischen Hardeggers Geburt 1882 bis zu ihrem Tode 1963 zugetragen hat.
Entstanden ist ein außergewöhnliches Buch über eine außergewöhnliche Frau.
Zahlreiche Dokumente und Fotografien vervollständigen die „Biografie mit Bildern“ (S. 11). Wer war die Frau, die nicht nur für freie Liebe eintrat, sondern sie auch selbst praktizierte, die sich ihre Liebhaber selbst ausgesucht hat und schon zu Lebzeiten bestimmte, dass der Antiquar Theo Pinkus nach ihrem Tode 880 kg Bücher und Broschüren bekommen sollte? Eigentlich waren es noch mehr, aber sie hatte sie selbst „anderthalb Jahre in Regen und Schnee ungeschützt draußen“ stehen gelassen. Das führte wohl dazu, dass „1600 kg Zeitungen“ der Papierfabrik und „4 Lastwagenanhänger voll Kehricht“ nach Avegno in die Müllabfuhr gebracht werden mussten (S. 130).
Zurück zum Anfang.
Margarethe Hardeggers Großmutter war ein Findelkind, das beinahe durch den Hammer des Schlosserlehrlings auf dem Amboss, auf dem es abgelegt worden war, erschlagen worden wäre. Weil sie ein Kind der Sünde war, nannte man sie nach Magdalena, der Sünderin. Und da sie unter dem Hammer lag, erhielt sie als Nachnamen den Namen dieses Werkzeugs. So begann Margarethe Hardeggers Familiengeschichte, um die sich noch viele andere mysteriöse Geschichten ranken. Margarethe war das einzige leibliche Kind ihrer Eltern, bekam aber im Alter von fünf Jahren einen Pflegebruder namens Ernst, den Sohn einer russischen Jüdin und Anarchistin. Ihre Mutter, Anna Susanna Hardegger, arbeitete bis ins hohe Alter als Hebamme, betrieb ein privates Entbindungsheim und setzte sich für Frauenbelange ein, indem sie vor allem die Besserstellung der ledigen Mütter forderte. Bereits 1898 soll sie eine Petition eingereicht haben, mit dem Inhalt, ledige Mütter nicht mehr als Fräulein, sondern als Frau anzureden.
Margarethe soll bei der Unterschriftensammlung ihrer Mutter kräftig mitgesammelt haben.
Die Tochter aus „einer richtigen kleinbürgerlichen Kleinfamilie“ (S. 17) wurde später die erste Arbeiterinnensekretärin der Schweiz, die Geliebte zahlreicher Intellektueller und Anarchisten, die Kämpferin gegen den Faschismus und für den Frieden, die die Welt verändern wollte, die den Sozialismus hier und jetzt für machbar hielt und selbst abseits von Konventionen ein alternatives Leben führte.
Sie bezeichnete sich als Sozialistin, doch sie war auch Idealistin und Anarchistin.
Sie wollte sich auf keine genau Definition festlegen lassen, weil sie auf den fernen Tag hoffte, an dem sich all die Splittergruppen zusammenschließen würden.
Zunächst wurde sie Telefonistin, holte dann die Matura nach und studierte Jurisprudenz, verliebte sich währenddessen in einen Jurastudenten und wurde 22jährig, im ersten Semester, schwanger. Sie konnte ihre Dissertation zum Thema „Die Abtreibung in der Schweiz“ wegen mangelnder Finanzen nicht veröffentlichen, unterstützte aber ihren Freund, der in die sozialdemokratische Partei eintrat, bei dessen Dissertation. Der Vater, obwohl er ihre Idee der freien Liebe teilte, drängte auf eine Heirat. Margarethe gebar Olga, ein rothaariges Sonntagskind, organisierte Arbeiterinnen und einen Fabrikarbeiterinnenstreik und bekam eine zweite Tochter Lisa, die ihr später viele Sorgen bereitete. Als erste Sekretärin des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes widmete sie ihre volle Arbeitskraft dem Engagement für die Arbeiterbewegung. Sie reiste viel, hielt außerordentliche Reden und gründete mehrere Gewerkschaften. Es dauerte nicht lange, bis sie als unzuverlässig galt, wahrscheinlich wegen ihrer zeitlichen und gesundheitlichen Überforderung durch Beruf und Kinder und durch einen abwesenden Vater, möglicherweise aber auch wegen ihrer anarchistischen Umtriebe. Anderthalb Jahre nach ihrem Stellenantritt erhielt sie die Kündigung. Erst als die Arbeiterinnenvereine diese nicht akzeptieren wollten, weil sie vermuteten, dass sie sich offensichtlich „mehr gegen das Geschlecht als die Person richtet“ und sich auch ein namhafter Kollege und „die Arbeiterschaft in der Westschweiz“ (S. 33) für sie einsetzten, wurde die Kündigung zurückgenommen. Margarethe Hardegger setzte ihre Arbeit fort und gründete zudem eine Arbeiterinnenzeitung: „Die Vorkämpferin“. 1907 traf die Anarchistin bei der Internationalen Konferenz der Sozialistischen Frauen unter vielen anderen auch Rosa Luxemburg, Clara Zetkin und Alexandra Kollontaj und kämpfte fortan vehement für das Frauenstimmrecht.
Margarethe Hardegger hielt „nichts von Gewalt, von Bomben und Gewehren“, sie wollte ihr Ziel einer „umfassenden Emanzipation“ gewaltfrei erreichen. Sie unterstützte „Abstinenz, Frauenbelange, Freidenkerthemen, Geburtenregelung“ durch die allgemeine Verfügbarkeit von Verhütungsmitteln (S. 38). Nachdem ihr Mann sie verlassen hatte, war ihre Stelle erneut bedroht, weil die Klagen über den zu progressiven Inhalt der „Vorkämpferin“ und ihrer Reden zunahmen. Sie wandte sich nun offen anarchistischen Kreisen zu, verliebte sich in den „lieben Kameraden“ Gustav Landauer und arbeitete im Sozialistischen Bund mit. Die durch sie gegründete Berner Gruppe erhielt den Namen ihrer Großmutter, dem Findelkind „Hammer“. Im Januar 1909 wurde ihre Stelle beim Schweizerischen Gewerkschaftsbund definitiv gekündigt. Eine neue Beschäftigung war nicht in Sicht. Diesmal war der Kündigungsgrund deutlich: „weil man ihre Anschauungen für schädlich hält“ (S. 45). Gemeinsam mit Gustav Landauer gab sie nun die Zeitschrift „Der Sozialist“ heraus und belebte die Netzwerke der anarchistischen Szene in der Schweiz und im Ausland neu. Sie teilte mit Erich Mühsam, Arthur Ludwig und anderen Anarchisten „Meinungen und Lager“ (S. 48) und wurde mehrmals verhaftet. Unter anderem kam sie wegen „Beihilfe zur Abtreibung“ 1915 in eine „Zwangsanstalt für Weiber“ und musste Militärzelte nähen. Ein Hohn für eine Antimilitaristin. Draußen tobte der Erste Weltkrieg.
Ina Boesch berichtet ausführlich über die zweifelsohne wichtigsten Passagen aus Margarethe Hardeggers „Gegenleben“, in denen sie Neues aufbaut: eine Kommune mit gemeinsamer Kasse und gemeinsamer Gesinnung, mit Sofaecke und Leseclub, die Intellektuelle und Handwerker ebenso vereinte wie heimatlose Kriegsdienstverweigerer; pedantisch überwacht von der Polizei. Sie plante die Gründung einer größeren anarchistischen Kolonie, scheiterte – wie öfter in ihrem Leben, aber gab niemals auf. Während Landauer und Mühsam nach Ende des Krieges in Bayern die Ordnung auf den Kopf stellten, startete sie einen neuen Siedlungsversuch und brach damit wieder ein. Ihre „Seele (fiel) in Ohnmacht“, als sie die Nachricht von der Ermordung des Geliebten Gustav Landauer erhielt. In Erinnerung an ein Zitat des Freundes: „Sozialismus ist die Willenstendenz geeinter Menschen, um eines Ideals willen Neues zu schaffen“, begann sie wieder mit dem Aufbau einer Kommune. Auch dieser dritte und letzte Versuch, im Sinne von Landauer zu siedeln, ist fehlgeschlagen. Mitten in der großen Depression der 30er Jahre baute sie mit ihrem Gefährten Hans Brunner, ihrer Tochter Olga und ihrem Schwiegersohn ein Haus mit einer Schreinerei und einer Autowerkstatt. Beide Betriebe konnten sich nur mühsam über Wasser halten und mussten schließlich aufgegeben werden. Den Kampf um eine freiere Gesellschaft hat Margarethe Hardegger jedoch trotz vieler politischer und persönlicher Niederlagen bis zu ihrem Tode nicht aufgegeben. Noch in hohem Alter beteiligt sie sich an den Ostermärschen der Atomwaffengegnerinnen und -gegner.
Das Buch handelt auch von anderen Akteurinnen und Akteuren aus der anarchistischen Szene, z.B. von Erich Mühsam, der nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten im KZ Oranienburg umgebracht wurde, und von Zenzl Mühsam, die auf der Welt weiter wandern musste, um den Nachlass von Erich Mühsam zu retten und die im Herbst 1939 in den Gulag geschickt und schließlich nach Sibirien verbannt wurde. Man erfährt auch über andere widerständige Individuen Interessantes. Die Zusammenhänge zwischen den unterschiedlichen Lebensgeschichten während verschiedener Epochen sind dennoch nicht immer klar erkennbar. Eher überflüssig erscheinen die ins Psychologisierende abschweifenden Interpretationen der Photos, hier wären knappe Erklärungen nützlicher gewesen.
Ina Boesch hat allerdings auch mehr als eine Biografie geschrieben. Der Teil II des Buches behandelt die politischen Bühnen von Margarethe Hardegger. Schließlich war sie in über zwanzig Organisationen aktiv, von denen viele heute kaum mehr bekannt sind. Auf den meisten hatte sie nur einen eher marginal zu nennenden Auftritt. Gleichwohl spielte sie eine wichtige Rolle, weil sie versuchte, die verschiedenen politischen Kräfte miteinander zu vereinen. Die Autorin nennt das „das Paradox von Marginalität und Integration“ (S. 9). Ina Boesch skizziert nicht nur die Organisationen, sondern setzt die Biografie und die Aktionsfelder zueinander in Beziehung, indem sie sie durch Querverweise miteinander verschränkt. So schafft sie eine Biografie, die als Hypertext angelegt ist; zwischen zwei Buchdeckeln, nicht im elektronischen Sinn, sondern als Lesebuch.
Insgesamt ist Ina Boesch ein informatives Lesebuch über eine Frau gelungen, die in kein Kategorienschema der Geschichtsforschung noch der Frauenbewegung passt. Es beschreibt eine Frau, die in einer Zeit gelebt hat, wo es unüblich war, dass Frauen sich überhaupt politisch äußerten, eine Frau, die ein selbstbewusstes Leben führte und der Freiheit und Frieden auf der Welt genauso wichtig waren, wie die persönliche Unabhängigkeit. Angesichts zunehmender sozialer und geschlechtsspezifischer Ungleichheiten und kriegerischer Bedrohung, aber auch angesichts zunehmender Idealisierung von bürgerlichen Kleinfamilienformen verdient eine solche Biografie viele Leserinnen und Leser, denn sie zeigt gelebte Perspektiven auf.
Ina Boesch: Gegenleben. Die Sozialistin Margarethe Hardegger und ihre politischen Bühnen. Zürich: Chronos Verlag 2003. ISBN 3-0340-0639-x; 436 S./60 Abb. s/w Geb., 32 Euro
Dr. Gisela Notz arbeitet im Historischen Forschungszentrum der Friedrich-Ebert-Stiftung, Bonn.