Abel Paz, auch bekannt aufgrund seiner umfangreichen Durruti-Biographie (1), ist einer der letzten noch lebenden Zeitzeugen des spanischen Bürgerkriegs und der spanischen Revolution.
Somit können wir dankbar sein, wenn sich der alte Herr des Anarchismus auf seine Socken begibt und uns auf Vortragsreisen seine Erlebnisse vermittelt, wie im Sommer dieses Jahres.
ZeitzeugInnen werden rar, das liegt leider in der Natur der Sache. Um so verdienstvoller ist es, dass drei der Organisatoren einer Abel-Paz-Veranstaltung sich daran gemacht haben, diese Rundreise zu dokumentieren. Nach dem Zeitzeugengespräch in Münster scheuten Bernd Drücke, Luz Kerkeling und Martin Baxmeyer keine Mühe, um an Tonbänder, Interviews und andere Dokumente zu kommen, diese akribisch zu übersetzen, zu transkribieren und im Verlag „Edition AV“ als Sammelband zu publizieren. Herausgekommen ist ein sehr persönlicher Band zur spanischen Revolution, der die vorhandene Literatur hierzu sinnvoll ergänzt.
Es wimmelt von Anekdötchen, eigenen Einschätzungen, Kommentierungen. Eben das, was von Zeitzeugengesprächen erwartet wird: kein geschlossenes Bild, sondern persönliche Blickwinkel. Diese können einem nicht immer gefallen; und ob beim Zuhören oder beim Lesen dieses Bandes – oft hebt sich da die vulkanische Augenbraue bei einer Einschätzung, die man schon mal anders gelesen hat oder selber für unwahrscheinlich hält. Etwa wenn Abel Paz betont, wie anarchistisch der „Spanier an sich“ sei und das quasi von Natur aus. Für den 83-Jährigen ist die Revolution von 1936 die notwendige Konsequenz aus der Geschichte Spaniens (S.41). „Stolz und Widerstand sind typisch spanische Eigenschaften. Bei uns ist die Anarchie eine natürliche [Hervorhebung von T.W.] Haltung, die aus der Rebellion gegen die Ungerechtigkeit entsteht.“ (S.51)
Aus den Ereignissen der spanischen Revolution wächst in Paz eine tiefe Abneigung gegen alles, was als marxistisch gilt.
Dies gilt leider nicht nur für die Marxisten-Leninisten jener und dieser Zeit, sondern für die gesamte Theorie: für Paz nichts als „Ideologie“, während der Anarchismus reine Praxis sei: die Umkehrung des marxistischen Vorurteils gegen den Anarchismus. Daraus entsteht auch eine allzu positive Beurteilung der Methoden der anarchosyndikalistischen Revolution, die unhinterfragt bleibt. Auffällig ist das etwa bei der Art des Wirtschaftens: „Wir haben den Dingen einen Wert gegeben, der nichts mit dem marxistischen Wertbegriff zu tun hatte und auch mit dem kapitalistischen nicht. Wir haben eine Währung eingeführt, die niemand zu Geld machen konnte und die an sich völlig wertlos war: die Gutscheine. […] Wenn du woanders einen Kaffee trinken wolltest, hast du mit Gutscheinen bezahlt.
Aber das war kein Geld. Es war eine Form der Kontrolle.“ (S.49)
Nun ist aber der „marxistische Wertbegriff“ nichts anderes als die Beschreibung des „kapitalistischen“ Wertes, somit eine unsinnige Differenzierung. Eine „Währung“ kann zu nichts anderem gut sein, als diesen Wert zu messen, und ist damit Geld. Und dieses kann per definitionem nicht „wertlos“ sein, zumindest nicht weniger als jedes andere Geld. An anderer Stelle dagegen überrascht Paz mit einem positiven Bezug auf marxistisches Vokabular, das ich unterstreichen möchte, weil es sich um eine Begrifflichkeit handelt, die von anarchistischer Seite oft fehlinterpretiert wurde und als Argument – m.E. unberechtigterweise – für den Autoritarismus von Marx selber herhalten muss: „In Ungarn beispielsweise wurde 1956, in Prag 1968 jede revolutionäre Bewegung innerhalb des sowjetischen Machtbereichs vehement unterdrückt.
Durch eine staatliche Diktatur, die nichts mit der Diktatur zu tun hatte, die man damals ‚Diktatur des Proletariats‘ nannte.“ (S.71)
Ebenfalls aufschlussreich sind Paz‘ Begründungen für den feministischen Emanzipationscharakter der spanischen Revolution. Im Vergleich zu früheren Zeitzeugengesprächen hat Paz dazugelernt, denn der Feminismus schien ihm immer eher ein Gräuel zu sein. In vorliegender Publikation unterstreicht er dagegen die Rolle der Frau. Dabei kommt es allerdings zu seltsamen Stilblüten: „Ich erinnere mich an den verteidigungspolitischen Berater der Generalität. Jeden morgen stand seine Frau [sic! T.W.] in der Schlange, um ihre Ration Brot zu bekommen, obwohl er, bei seinem Posten, hätte verlangen können, dass man ihm das Brot nach Hause bringt. Anders ausgedrückt: die Gleichheit war kein Mythos, sie war Realität.“ (S.43) Oder, in einem anderen Interview: „In der zweiten Phase, wo die Revolution zum Krieg wurde, da haben die Frauen nicht mehr an der Front gekämpft, aus dem einfachen Grund, dass die Frauen hygienischer, sauberer sind, und die Front ist sehr dreckig.“ (S.77) Letztendlich dreht Abel Paz die Verhältnisse um und zitiert traditionelle Geschlechterrollen als Aspekt der Befreiung: „Es ist so, dass die Frauen, die schon damals schlauer waren als die Männer, sich sozial sozusagen einen 6. Sinn angeeignet haben und durch eine bestimmte Art und Weise der Unterwürfigkeit, die sie dann dem Mann gegenüber an den Tag legen mussten, trotzdem Kontrolle über den Mann in vielen Bereichen, vor allem im häuslichen Bereich usw., entwickeln und erhalten konnten.“ (S.79) Der Haushalt ist der Frau also nicht mehr zugeordnet, weil sie besser putzen kann o.ä., sondern weil sie schlauer ist? Soso…
Abel Paz hat aber auch viele spannende Dinge zu berichten, die einem und einer die spanische Revolution einleuchten lassen. Das Gefühl, dass hier etwas Großes geschehen ist und wie es geschehen konnte, vermittelt er hervorragend durch die kleinen Geschichten der großen Revolution. Er beschreibt die Stimmung, die Barcelona und das freie Spanien 1936 beflügelt haben müssen, und nennt die Ursachen: „Es war de facto die jüngste Revolution der Weltgeschichte. Der Altersdurchschnitt lag zwischen 17 und 22 Jahren.“ Manchmal wird der Wissenschaftsgegner Paz nahezu analytisch, wenn er etwa begründet, warum der Anarchosyndikalismus sich insbesondere im Bergbau, der Landwirtschaft und der Seefahrt entwickeln konnte, nämlich weil Kollektivität und Solidarität hier alltägliche Überlebensnotwendigkeiten waren.
Ebenso viel erfährt man von ihm über die Nachwirkungen des spanischen Bürgerkriegs: Paz berichtet über die französische Resistance und über seinen Widerstand gegen das franquistische Spanien. Er nennt das „Arbeiterselbstverwaltungsregime“ des titoistischen Jugoslawiens als vom spanischen Anarchosyndikalismus beeinflusst, was zwar nur für das Papier der Verfassung galt, aber dieser Einfluss ist sicher dennoch nicht zu unterschätzen.
Aufschlussreiches erfahren wir auch über die Arbeitsweise deutschsprachiger Schriftsteller: Wer Enzensbergers „kurzen Sommer der Anarchie“ (2) gelesen hat, dem ist Abel Paz‘ Name bekannt, dass Enzensberger eigentlich nur einen Film über Durruti machen wollte und dann ungefragt die Quellen, die er von Abel Paz erhielt, wie auch dessen eigene Fragmente zur Durruti-Biographie für eine eigene Publikation verwandte, wohl eher nicht.
Auf die vielen Differenzen, die immer zwischen ZeitzeugInnen und ihren ZuhörerInnen, aber auch unter verschiedenen ZeitzeugInnen eine Rolle spielen, soll hier nur kurz eingegangen werden. Ein Gespräch zwischen Jorge Semprun und Elie Wiesel erläutert diese Problematik: Sie mussten feststellen, dass sie äußerst unterschiedliche Wahrnehmungen der letzten Tage des Konzentrationslagers Buchenwald haben: Semprun, der politische Häftling, weiß, dass er an einer Selbstbefreiung teilgenommen hat, Elie Wiesel, als Jude im Inneren Lager unter weitaus extremeren Bedingungen inhaftiert, weiß nichts von einer Selbstbefreiung des Lagers. (3)
Bei aller Kritik am Wahrheitsbegriff der Wissenschaften nutzt es einem Verständnis vergangener Ereignisse doch, wenn HistorikerInnen sich schriftlichen Quellen, Vergleichen u.ä. widmen, um diese zu beschreiben. Abel Paz sieht das anders, Historiker sind für ihn Wichtigtuer, die über etwas schreiben, was sie nicht erlebt haben.
Martin Baxmeyer schert das zum Glück nicht. Der Sammelband wird von ihm durch einen Artikel über die spanische Revolution eingeleitet, der Aussagen Paz‘ in ein anderes Licht rückt. Eine andere Einschätzung präsentiert Baxmeyer etwa bezüglich des Umgangs von CNT und FAI mit der Kirche bzw. mit den Priestern. Betont Paz, dass diese, wenn sie denn erschossen wurden, vorher selber geschossen hatten, so belegt Baxmeyer, dass es sich hierbei um einen der Mythen des spanischen Bürgerkriegs handelt. Baxmeyers Einführung kann als untypisch gelten, da er viel Wert auf ein noch weitgehend unerforschtes Feld der spanischen Revolution legt: deren Kultur und Literatur. Zu diesem Thema wird es von ihm wohl noch einiges Spannendes zu lesen geben.
Der vorliegende Band gewinnt viel durch die kompetente Einführung; und die Stimme des Zeitzeugen ist einfach, einführend und motivierend für die weitere Beschäftigung mit dem Thema. Dem tragen die Herausgeber Rechnung mit einer umfassenden Literaturliste, die sich keineswegs auf den spanischen Bürgerkrieg beschränkt, sondern ein Kompendium des Anarchismus darstellt.
(1) Paz, Abel: Durruti. Leben und Tode des spanischen Anarchisten. Nautilus, Hamburg 1994. Siehe dazu auch das Interview "Subversive Kopffüßler?" zum 30sten Geburtstag der Edition Nautilus, in dieser GWR.
(2) Enzensberger, Hans Magnus: Der kurze Sommer der Anarchie. Buenaventura Durrutis Leben und Tod. Suhrkamp, Frankfurt a.M. 1977.
(3) Semprun, Jorge und Elie Wiesel: Schweigen ist unmöglich. Suhrkamp, Frankfurt a.M. 1997.
Bernd Drücke, Luz Kerkeling, Martin Baxmeyer (Hg.): Abel Paz und die Spanische Revolution. Interviews und Vorträge. Verlag Edition AV, Frankfurt a.M., Oktober 2004, ISBN: 3-936049-33-5, 120 S., 11 Euro.
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