libertäre buchseiten

Kein Ort, nirgends

Gustav Landauer: Die Revolution

| Joseph Steinbeiß

Wann erlebt man dergleichen schon einmal? Anregende Theoriebildung, vorgetragen mit der zurückhaltenden Eleganz und Grazie eines Literaten, der jedem Wort nicht nur die nötige Klarheit, sondern auch Raum und Recht zurückerstattet.

Akademisch respektvolles Staubwedeln oder revolutionär rasselnde Wortgewitter sind vor solchen Texten nicht am Platze: Gustav Landauer – es ist eine Lust zu lesen.

In seiner erstmals 1907 veröffentlichten geschichtsphilosophischen Schrift „Die Revolution“, die nun – man ist versucht zu sagen: endlich – in der ebenso hand-, wie nützlichen Reihe „Klassiker der Sozialrevolte“ beim Unrast-Verlag wieder vorliegt, entwickelt der deutsche Anarchismustheoretiker Gustav Landauer (1870-1919) eine Reihe von Gedanken, die zu unverändert anregender Diskussion Anlass bieten könnten. Besonders seine Auseinandersetzung mit dem Begriff der Utopie hat viel Sympathisches und Bedenkenswertes – nicht zuletzt für jene, die noch immer davon träumen, mit ein paar Schuss Munition und einem Meer von Fahnen den Eingang ins gesellschaftliche Paradies erzwingen zu können. Revolution ist für Landauer ein permanenter Wechsel zwischen gesellschaftlichen Ist-Zuständen – dem, was er, in Anlehnung an den ‚Nirgend-Ort‘ der Utopie, die ‚Topie‘, das gesellschaftliche ‚Hier und jetzt‘ nennt. „Revolution ist […] der Weg von der einen Topie zur anderen, von einer relativen Stabilität über Chaos und Aufruhr […] zu einer anderen relativen Stabilität“ (S.33). Die Utopie, Triebfeder jeder Veränderung, entsteht nach Landauer ausschließlich aus den persönlichen Bedürfnissen des Einzelnen. Utopien sind, solange Menschen leben. „Jede Utopie […] setzt sich aus zwei Elementen zusammen: aus der Reaktion gegen die Topie, aus der sie erwächst, und aus der Erinnerung an sämtliche bekannten früheren Utopien. Utopien sind immer nur scheintot, und bei einer Erschütterung ihres Sarges, der Topie, leben sie, wie weiland der Kandidat Jobs, wieder auf“ (S.34). Wer seinen Landauer im Tornister trägt, muss misstrauisch bleiben gegen Behauptungen, diese oder jene Revolution habe eine Utopie „verwirklicht“ beziehungsweise schicke sich an, diese zu „verwirklichen“. Da jede Revolution lediglich einen neuen, festgeschriebenen Zustand schaffen kann, muss früher oder später (aus Unzufriedenheit der Menschen usw.) der Wunsch nach einer „Änderung in der Bestandssicherheit der Topie“(S.32) erwachsen: eine neue Utopie. „Die neue Topie tritt ins Leben zur Rettung der Utopie, bedeutet aber ihren Untergang“ (S.35). Anders ausgedrückt: Utopien sind, so Landauer, naturgemäß nicht „realisierbar“. Utopien sind Wunsch der Menschen nach Veränderung; ihr rebellischer Impuls.

Für den föderativen Sozialisten Landauer gibt es demnach keinen Endpunkt der Entwicklung; kein blumiges Elysium, in dem alle sitzen, singen und glücklich sind. Es gibt nur den stetig fortschreitenden Prozess gesellschaftlicher Veränderung, dem jeder verfügte Stillstand Gewalt antut. Und es gibt den Träger dieses Prozesses, den einzelnen Menschen, der sich, immer aufs Neue, mit seinesgleichen zusammentun kann, um die „Bestandsgarantien“ seiner Gesellschaft in Frage zu stellen – wie immer diese auch aussehen mag. Zu einer Zeit, da historischer Materialismus Marxscher Prägung und ein chiliastisch umstrahlter Erlösungsanarchismus Konjunktur hatten, war dies, gelinde gesagt, ein erstaunliches Modell.

Landauer entwickelt in „Die Revolution“ freilich kein philosophisches System von der Verbindlichkeit des Allerheiligsten. Er überlegt und bietet an, er diskutiert mit seinen Leserinnen und Lesern. Auch das macht den Reiz seines Werkes aus: Wer Landauer liest, fühlt sich als denkender Mensch ernst genommen. Der höfliche Konjunktiv wohnt seinem Text ebenso inne wie ein gelegentlich erheiternder libertärer Mystizismus („Gustav Landauer, der San Juan de la Cruz der Anarchie“) oder die von Kropotkin ererbte Verherrlichung des Mittelalters. Die Freikorpssoldaten, die Landauer 1919 im Hinterraum einer Münchner Wäscherei zu Tode prügelten, mögen seinen Namen aus dem Gedächtnis dieses Landes vorübergehend ausgetilgt haben. Seine Gedanken lebten weiter: im Werk Ernst Blochs mit seinem individualistischen Utopiebegriff, in kritischen Aufsätzen der Annales-Begründer Lucien Febvre und Marc Bloch, in den Ausführungen Noam Chomskys zur menschlichen Kreativität, selbst in einigen Schriften Albert Camus. Dass Landauers Texte nun wieder zugänglich werden, ist eine längst überfällige Bereicherung der politischen und literarischen Kultur.

Gustav Landauer, Die Revolution, herausgegeben, eingeleitet und mit einem Register versehen von Siegbert Wolf, Unrastverlag (Klassiker der Sozialrevolte Nr.9), Münster, Oktober 2003, 120 Seiten, ISBN 3-89771-906-1, 13 Euro.