In Venezuela passiert etwas, nur die Informationen darüber sind rar, verzerrt und widersprüchlich. Was soll frau/mann von der „Bolivarianischen Revolution“ halten, von der die Basisbewegungen und die Chávez-Regierung reden. Die BewohnerInnen von Armenvierteln gründen Stadtteilräte und verwalten sich selbst. Landlose kämpfen für die Umsetzung der Agrarreform.
Die Bevölkerung diskutiert in Nachbarschaftsversammlungen über die Politik des staatlichen Erdölunternehmens PDVSA. In Venezuela werden diese Veränderung als Prozess bezeichnet. Findet dieser Prozess trotz Chávez statt, oder ist die Regierung und somit der Staat Protagonist der basisdemokratischen Transformationen? Die „bolivarianische Bewegung“ entsteht in den 1990er Jahren. Diese neue Oppositionsbewegung setzt sich zusammen aus Stadtteilversammlungen, alternativen Medien-, Pädagogik- und Basis-Netzwerken, linksradikalen Splittergruppen und Menschenrechtskomitees. Die Eigenbezeichnung „bolivarianisch“ verweist „auf drei politische Prinzipien des Unabhängigkeitskämpfers Simón Bolívar: Seine ausgeprägt antiimperialistische Haltung gegenüber den europäischen Kolonialmächten und den USA, seine progressiven Sozialvorstellungen und sein Konzept der kontinentalen Einheit Lateinamerikas“ (S. 9).
Im Februar 1992 kommt es zu einer Putsch- bzw. Umsturzbewegung unter der Führung von Hugo Chávez Frías. Die Rebellion scheitert, und Chávez stellt sich der Justiz. Chávez wird 1994 entlassen und gründet die politische Bewegung Movi-miento Quinta República (MVR – Bewegung fünfte Republik). Chávez gewinnt 1998 im Bündnis mit der linksgewerkschaftlichen „Patria Para Todo“, der Kommunistischen Partei (PCV) und der linkssozialdemokratischen Partei (MAS) die Präsidentschaftswahl. Mit der Verabschiedung einer neuen Verfassung im Jahre 1999, die in der Bevölkerung und bei den Basisorganisationen auf breite Zustimmung stößt, beginnt die eigentliche „Bolivarianische Revolution“. Die neue Verfassung „definiert Venezuela als ‚partizipative, protagonistische Demokratie‘, d.h. es werden Beteiligungs- und Gestaltungsmöglichkeiten für Communities, Basisinitiativen und BürgerInnen ausgeweitet“ (S. 10). Ebenfalls wird in der Verfassung die Hausarbeit als Mehrwert produzierende Tätigkeit anerkannt und die Autonomie von Indigenen- und Afro-Communities festgeschrieben. Im April 2002 putscht die bürgerliche Opposition, Chávez wird ab- und festgesetzt; durch den Widerstand der Basisbewegung scheitern die Rechten, und Chávez übernimmt wieder die Regierungsverantwortung.
Das bei Assoziation A erschienene Buch „Made in Venezuela. Notizen zur ‚Bolivarianischen Revolution'“ versucht, uns die Prozesse und Ereignisse in Venezuela näher zu bringen. Raul Zelik war auf Einladung der „Kulturstiftung des Bundes“ für sieben Monate in Venezuela.
Daraus ist ein „politischer Reisebericht“ entstanden. Zelik besuchte in Caracas, aber auch außerhalb verschiedene Basisorganisationen, diskutierte mit AktivistInnen, nahm an Versammlungen und Festen teil. Zelik gibt uns Einblick in die Motivationen, Probleme und Bedürfnisse verschiedener AktivistInnen. Er beobachtet und beschreibt den „Prozess“ in Venezuela aus der Sicht eines westeuropäischen Linksradikalen, dadurch wird die Differenz zwischen AktivistInnen in Venezuela und Westeuropa sichtbar. Da gibt es HausbesetzerInnen, die stolz darauf sind, in ihrem Wohnviertel die Kriminalität besiegt und „Recht und Ordnung“ wieder in ihren Straßen hergestellt zu haben.
Aus europäischer (HausbesetzerInnen-)Sicht schwer verständlich: „Illegale Hausbesetzer als Verteidiger des Gesetzes, die mit ihrem Kampf gegen die Kriminalität nicht nur sich selbst vor Räubern schützen, sondern auch Anerkennung als Bürger der Stadt erlangen wollen“ (S. 58). Die Beobachtungen von Zelik machen deutlich, dass der „Prozess“ in Venezuela von den BasisaktivistInnen ausgeht und lebt. Die Regierung hat nur den politischen und sozialen Raum dafür gegeben. Chávez hat zwar wie Allende in Chile die Regierungsmacht errungen, besitzt aber nicht die Hegemonie in den Staatsapparaten, weder in den repressiven, noch in den ideologischen. Die „bolivarianische Bewegung“ wird weiter kämpfen, auch wenn Chávez und seine Regierung durch die rechte bürgerliche Opposition gestürzt wird, denn die Bewegung hat sich nicht abhängig von der Chávez-Regierung gemacht.
Selbstverständlich werden dann die Kämpfe schwerer. Alle, die sich für den „Prozess“ in Venezuela interessieren, sollten das Buch auf jeden Fall lesen.
Da es sich um einen „Reisebericht“ handelt, gibt es auch immer wieder Beschreibungen vom Leben im Caracas oder von Landschaften, die einem dabei helfen, zu verstehen, was Leben in Venezuela heißt. Ergänzt wird dieser „politische Reisebericht“ durch einen wunderbaren städtebaulichen Photo-Essay von Sabine Bitter und Helmut Weber, die ebenfalls auf Einladung der „Kulturstiftung des Bundes“ in Venezuela waren.
Raul Zelik / Sabine Bitter / Helmut Weber: Made in Venezuela. Notizen zur "Bolivarianischen Revolution", Assoziation A, Berlin 2004, 144 S., 13 Euro