"Die Anarchisten sind stehen geblieben. Sie bleiben auch weiterhin stehen, hypnotisiert durch die Überzeugung, dass sie im Recht waren und immer noch im Recht sind." (Gramsci) (1)
Der italienische Kommunist Antonio Gramsci (1891-1937) ist angesagt. Nicht nur, dass die globalisierungskritische Linke seit zehn Jahren diskutiert, ob Subcomandante Marcos und Gramsci dasselbe meinen, wenn sie von „Zivilgesellschaft“ reden. Auch ein anderer Begriff aus dem Wortschatz des Mitbegründers der KPI (1921) ist mit der Durchsetzung der neoliberalen Variante des Kapitalismus vielleicht nicht in aller, aber allerorts in linkem Munde: Hegemonie. Nach dem Zusammenbruch der staatssozialistischen Systeme und der Selbstdemontage der klassischen Sozialdemokratie gibt es durchaus gute Gründe, sich auf der Suche nach sozialistischen Alternativen dem marxistischen Aktivisten und Theoretiker wieder zuzuwenden. Gramscis Staatsverständnis erweist sich dabei gerade in der Auseinandersetzung mit dem Anarchismus einerseits als auch heute noch erklärungskräftig. Andererseits aber auch als wissenschaftsgläubig und ziemlich autoritär.
Der subjektive Faktor
Nicht zuletzt sein Status als Aktivist macht ihn zunähst sicherlich anschlussfähig an anarchistische Theorie und Praxis: Nicht der Lauf der Dinge, sprich: die Entwicklung der Produktivkräfte führen zur Revolution, sondern sie muss von jedem und jeder einzelnen bewusst gemacht werden. Entscheidend für Gramsci wie für AnarchistInnen aller Richtungen ist der so genannte „subjektive Faktor“. Die Frage allerdings, wie die revolutionäre Aktion zu organisieren sei, führt zu klassisch konträren Antworten. Klassisch insofern, als dass der Kommunist Gramsci hier ganz auf die avantgardistische Partei setzte, wohingegen er in typisch kommunistischer Manier die Spontaneität ablehnte und ihre VertreterInnen abwertete. So unterscheidet sich auch Gramsci in seiner Diktion diesbezüglich nicht vom kommunistischen Mainstream: „Wer Herr der Geschichte ist und ihr den Rhythmus des Fortschritts aufzwingt, wer das sichere und unaufhaltsame Fortschreiten der kommunistischen Zivilisation bestimmt, das sind nicht die ‚Halbstarken‘, das ist nicht das Lumpenproletariat (i.Orig. deutsch), das sind nicht die Bohemiens, die Dilettanten, die langhaarigen und frenetischen Romantiker, sondern das sind die großen Massen der klassenbewussten Arbeiter, die stählernen Bataillone des bewussten und disziplinierten Proletariats.“ (2) Zwar bezichtigt er die AnarchistInnen immer wieder einer „pseudorevolutionären Phraseologie“, appelliert aber schließlich dennoch an die „Zusammenarbeit zwischen Sozialisten und Anarchisten für die Durchführung der Revolution (…), eine freie und faire Zusammenarbeit zweier politischer Kräfte, die ihre Grundlage in konkreten, proletarischen Problemen hat.“ (3) Die wahre Lehre des Proletariats aber sei der Marxismus, wohingegen Gramsci den Anarchismus einerseits eben den freischwebenden Intellektuellen und andererseits den rückständigen Bäuerinnen und Bauern und HandwerkerInnen zuschreibt. Mit dieser Auffassung, die materielle Lage und Bewusstsein so sehr aneinander knüpft, schließt Gramsci direkt an Lenin an und gibt sich letztlich wissenschaftlich verbrämten Wunschvorstellungen hin.
Staat und Sozialismus
Im Unterschied zur Frage des Klassenbewusstseins löst sich Gramsci aber in seinem Staatsverständnis von dem funktionalistischen Staat-als-Mittel-Verständnis Lenins.
Ihn treibt vielmehr die heute viel zu selten, aber von vielen AnarchistInnen seit Etienne de la Boëtie (1530-1563) gestellte Frage, wieso die Beherrschten gegen die Herrschaft nicht angehen („Freiwillige Knechtschaft“). Nicht allein Repression, so Gramscis bis heute plausible Antwort, sondern auch Konsens sichere die Herrschaft. Während für Gewalt und Unterdrückung die politische Gesellschaft – Staatsorgane, Militär, Polizei, etc. – zuständig sei, wird der Konsens in der Zivilgesellschaft, verstanden als Konglomerat von Verbänden, Vereinen, Schule, Familie, Medien, u.v.a., hergestellt. Beide sind Teil dessen, was Gramsci den „erweiterten Staat“ nennt. Dass es nicht reicht, den Staat zu erobern, ist Gramscis pragmatische Einsicht, während die AnarchistInnen das prinzipiell vertreten. Denn in der zivilen Gesellschaft konkurrieren die verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen um die geistige und kulturelle Vorherrschaft, Hegemonie genannt. Staat ist demnach in Gramscis berühmter Formulierung „politische Gesellschaft + Zivilgesellschaft, das heißt, Hegemonie, gepanzert mit Zwang“ (4). Aus seiner Beschreibung folgert Gramsci auch strategisch, dass Hegemonie zu erringen und in Form von politischer Führung auszuüben sei. Während Anarchisten wie Corrado Quaglino, gegen den sich Gramscis Text „Der Staat und der Sozialismus“ richtet, ihn als „Staatsanbeter“ bezeichnen, kritisiert Gramsci wiederum die „Staatsabgewandtheit“, den „Rebellismus“ und das „Umstürzlertum“ der AnarchistInnen. Auch in den während seiner langen Haft unter dem Faschismus geschriebenen „Gefängnisheften“ grenzt sich Gramsci explizit von anarchistischen Vorstellungen bezüglich des Staates ab, nicht ohne sie als unpolitisch abzuqualifizieren: „Geringes Verständnis des Staates“ bedeute „geringes Klassenbewusstsein“ (5) – wobei natürlich hier nur ein einziges „richtiges Verständnis“ zugelassen ist (was wiederum der Tatsache nicht gerade Tribut zollt, dass auch kommunistische DenkerInnen sich bezüglich des Staatsverständnisses nicht unbedingt einig waren).
Liberalismus und Klassenstandpunkt
Im Umkehrschluss seiner These vom Marxismus als einzig wahrer Lehre des Proletariats weist Gramsci den AnarchistInnen den Liberalismus zu. Indem sie gegen den Staat und für individuelle Freiheit seien, radikalisierten die AnarchistInnen den Liberalismus, ohne aber einen richtigen Klassenstandpunkt zu vertreten. Der Anarchismus sei in der 1848er-Revolte die Lehre der Bourgoisie gewesen und könne dies ebenso wieder werden, sobald es zur proletarischen Klassenherrschaft käme. Insofern der Kommunismus nicht gegen den Staat gerichtet sei, sondern als Mittel zur Errichtung einer kommunistischen Internationale, widersetzt er sich im Verständnis Gramscis auch „erbittert den Feinden des Staates, den Anarchisten und den Anarchosyndikalisten, indem er ihre Propaganda als utopisch und gefährlich für die proletarische Revolution entlarvt.“ (6) Gramsci unterschlägt allerdings, dass der Anarchismus nicht nur den Liberalismus erweitert, sondern auch den Sozialismus radikalisiert hat. Diese Unterschlagung kann, um die Begriffe gleich anzuwenden, durchaus als strategisch im Kampf um Hegemonie innerhalb der ArbeiterInnenbewegung interpretiert werden. Ohne ihre sozialistischen Wurzeln und Elemente sind die meisten Anarchismen jedenfalls weder theoretisch hinreichend beschrieben, noch praktisch in ihrer Geschichte zu erfassen.
Vor der Gefahr einer Vermachtung eroberter Räume, insbesondere solcher, die das Monopol auf Gewalt beanspruchen, haben AnarchistInnen immer gewarnt. Gramsci hingegen schließt sie aus. Die Befreiung des Proletariats hänge unweigerlich mit der Errichtung des sozialistischen Staates zusammen, dem wiederum ein „erzogenes Proletariat“ unbedingte „Treue und Disziplin“ zu zollen habe. In seiner Rede an die AnarchistInnen zeigt sich Gramsci allerdings problembewusst: „Die kommunistische Gesellschaft kann nicht von oben herab durch Gesetze und Dekrete geschaffen werden. Sie wird spontan aus der historischen Aktivität der werktätigen Klasse hervorgehen, die die Initiativgewalt in der industriellen und landwirtschaftlichen Produktion errungen hat und die dazu berufen ist, die Produktion auf neue Weise und mit einer neuen Ordnung zu reorganisieren. Der anarchistische Arbeiter wird dann die Existenz einer zentralisierten Macht schätzen, die ihm dauernd die eroberte Freiheit garantiert, die es ihm ermöglicht, nicht jeden Augenblick das begonnene Werk unterbrechen zu müssen, um sich der revolutionären Verteidigung zu widmen.“ (7) Hier ist sicherlich auch die zentrale Frage anarchistischen Scheiterns angesprochen, wie nämlich die erkämpften Errungenschaften zu bewahren und verteidigen sind. Die historische Beschaffenheit der „zentralisierten Macht“ allerdings spricht nicht gerade für Gramscis Plan: Vom Aufstand der Kronstädter Matrosen 1921 über die Spanische Revolution 1936/37 bis hin zum Pariser Mai 1968, jedes Mal, wenn KommunistInnen zentrale Machtpositionen inne hatten, erwiesen sie sich nicht gerade als BeschützerInnen revolutionärer Errungenschaften. Im Gegenteil, „der anarchistische Arbeiter“ und andere RevolutionärInnen mussten um ihr Leben, zumindest aber um die Erfolge ihrer Rebellion fürchten.
Dass einerseits kommunistische Strategien nicht selten das Scheitern anarchistischer Modelle befördert haben, darf andererseits aber die Frage nach den eigenen theoretischen und praktischen Schwächen nicht ausblenden. Hier kann Gramscis Polemik von der Radikalisierung des Liberalismus möglicherweise konstruktiver als Warnung gelesen werden. Die bequeme anarchistische Geste, sich angesichts des staatssozialistischen Zusammenbruchs im Recht fühlend auf die Schulter zu klopfen, ist nur zu einem Teil angebracht. Zum Stehen Bleiben besteht kein Anlass. Denn heute sind nicht nur skurrile „Anarchokapitalisten“, sondern überhaupt die Offenheit libertärer Ideale für eine der brutalsten Formen des Kapitalismus erklärungsbedürftig. Die meisten ehemals libertär inspirierten „68er“ sind mittlerweile zu TrägerInnen des Neoliberalismus mutiert, zentrale libertäre Begriffe wie Selbstbestimmung, Kreativität und Autonomie werden nicht selten antikollektivistisch gewendet und kooptiert.
Auch das sicher ein Erfolg im hegemonialen „Stellungskrieg“, wie Gramsci es nannte. Ob dagegen allein der richtige Klassenstandpunkt in Anschlag zu bringen ist, muss bezweifelt werden.
(1) Antonio Gramsci: Der Staat und der Sozialismus. Nachwort zu einem Artikel von For Ever "Zur Verteidigung der Anarchie" vom 28. Juni bis 5. Juli 1919, aus: www.marxistische-bibliothek.de/gramscistaat.html (11.07.2004)
(2) ebd.
(3) Antonio Gramsci: Rede an die Anarchisten, (3.-10.April 1920), aus: www.marxists.org/deutsch/archiv/gramsci/1920/04/anarchisten.htm
(4) Zitiert nach Harald Neubert: Antonio Gramsci: Hegemonie - Zivilgesellschaft - Partei. Eine Einführung, Hamburg 2001, S.58.
(5) Zitiert nach Neubert, S.65.
(6) Antonio Gramsci: Der Staat und der Sozialismus.
(7) Antonio Gramsci: Rede an die Anarchisten.