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Lebendig

Der Widerstand gegen den achten Castortransport nach Gorleben. Eine Bilanz

| Jochen Stay

Manchmal wäre es besser, mit Prophezeiungen vorsichtiger zu sein. Am Ende meines Artikels in der letzten GWR zur Vorberichterstattung auf den Widerstand gegen den Castor-Transport nach Gorleben stand: "Insgesamt kann es in diesem Jahr also durchaus interessante Wendungen im Geschehen auf Straße und Schiene geben. Alles wie gehabt und dann plötzlich…."

Niemand konnte ahnen, welche Nachricht da so plötzlich auf das Wendland und die Anti-Atom-Bewegung hereinbrechen würde. Der Tod von Sébastien Briat bei einer versuchten Ankettaktion in Frankreich wirbelte im Castor-Widerstand vieles durcheinander. Dabei hatte alles so viel versprechend begonnen: Zur Auftaktdemo am Samstag, den 6. November in Dannenberg kamen fast 6.000 Menschen, die Stimmung war großartig und die Bewegung fast ein bisschen selbst davon berauscht, dass sie einfach nicht unterzukriegen ist.

Viele Gruppen und Grüppchen hatten sich übers Jahr gewitzte Kleingruppenaktionen oder größere Aktionskonzepte überlegt und eigentlich war bei diesem achten Castor-Transport nach Gorleben wirklich mit einigen Überraschungen zu rechnen. Als dann noch das Verwaltungsgericht Lüneburg in einer Eilentscheidung erstmals das Versammlungsverbot zumindest auf der Straßentransportstrecke für rechtswidrig erklärte, schien vieles möglich. Doch dann kam alles ganz anders.

Als am Tag nach der großen Demo in den Nachmittagstunden erste Gerüchte aus Frankreich die Runde machten, wollte es noch kaum jemand glauben. Gerade hatten sich viele noch über eine gelungene Ankettaktion bei Nancy gefreut, die den Fahrplan des Zuges schon um einige Stunden durcheinander gebracht hatte.

Aber dann wurde es mehr und mehr zur Gewissheit, dass die zweite Aktion, bei Avricourt, aus irgendeinem Grunde schrecklich schiefgegangen ist.

Die BI Lüchow-Dannenberg sagte alle für den Sonntagabend geplanten Veranstaltungen ab und lud mit den anderen großen Widerstandsgruppen zu einer gemeinsamen Trauerkundgebung in Hitzacker ein. Ich habe selten eine so große Stille in einer mehr als tausendköpfigen Menschenmenge erlebt. Die Betroffenheit war riesig, aber auch der Wunsch, sich davon nicht völlig lähmen zu lassen, sondern auf angemessene Weise den Widerstand fortzusetzen.

Nicht nur in Hitzacker wurde getrauert. In 24 Städten fanden spontane Mahnwachen, Trauer- und Solidaritätsdemonstrationen statt, zum Teil rabiat von der Polizei aufgelöst.

Im Wendland gab es noch am gleichen Abend ein Gespräch zwischen der Gesamteinsatzleitung der Polizei und VertreterInnen der Protestgruppen. Die Staatsmacht befürchtete aufgrund der angespannten Nerven eine Eskalation der Gewalt. Ein Problem: Da sich die Beamten nicht in der Lage sahen, die Öffentlichkeit über die genauen Abläufe bei dem schrecklichen Unglück in Frankreich zu informieren, schossen die wildesten Gerüchte ins Kraut. Und diese Atmosphäre der Gerüchte und der Unsicherheit trug nicht gerade dazu bei, die Menschen zu beruhigen. Sie ließ im Gegenteil Schuldzuweisungen wachsen.

Auch der Umstand, dass der Zug schon wenige Stunden nach dem Unfall weiterrollte, als wäre nichts gewesen, machte viele Menschen fassungslos und wütend. Die taz kommentiert dazu am nächsten Tag: „Der Castor-Zug soll, so hieß es sogar zunächst, nach dem Unfall seine Fahrt in Richtung Gorleben fortgesetzt haben. Wenn dies stimmen sollte, würfe es ein bezeichnendes Licht auf die Kaltschnäuzigkeit derer, die das zu verantworten haben.“

Die Initiativen schlugen der Polizei ein gemeinsames Innehalten vor – eine befristete Unterbrechung von Transport und Protest, um den Menschen im Wendland die Zeit für ihre Trauer und Wut zu lassen. Der Zug sollte erst dann weiterfahren, wenn es für viele wieder möglich ist, mit halbwegs klarem Kopf an die Sache heranzugehen. Gleichzeitig zu trauern und den Castor auf sich zurollen zu sehen, das funktioniert denkbar schlecht. Doch die Einsatzleitung dachte nicht daran, den Zug anzuhalten. Alles Gerede von Deeskalation wurde dadurch auf den Kopf gestellt. Es schien zu diesem Zeitpunkt, als sollten die Initiativen die gesamte Verantwortung für einen nicht-eskalierenden Verlauf der Ereignisse alleine übernehmen.

Damit ich nicht falsch verstanden werde: Natürlich ist die politische Forderung der Anti-Atom-Bewegung weiterhin die Stilllegung aller AKWs, der Stopp aller Castor-Transporte und auch dieser aktuelle Transport sollte nie im Zwischenlager Gorleben landen, weil der Atommüll dort nicht sicher gelagert werden kann. Aber neben dieser prinzipiellen politischen Haltung gab es eben an diesem Abend auch einen pragmatischen Blick auf die Situation. Und da war auch mir ein allgemeines befristetes Innehalten vor dem unausweichlichen Tag X im Wendland lieber als ein durchrauschender Zug, der auf Menschen trifft, die gerade mit ihren Gedanken und Gefühlen noch bei dem getöteten jungen Aktivisten sind.

Dass der Zug schneller durchkam als die Jahre zuvor, hat sicherlich damit zu tun, dass eine ganze Reihe von Gruppen ihre geplanten Aktionen auf den Schienen kurzfristig abgeblasen haben. Andere hielten an ihren Plänen fest, kamen aber nicht zum Zuge. Nur bei Göttingen und zwischen Uelzen und Lüneburg waren Leute auf den Gleisen.

Erst auf der Strecke von Lüneburg nach Dannenberg verdichteten sich die Ereignisse dann wieder. Hier waren an unterschiedlichen Stellen kleine und größere Gruppen auf den Schienen. Der Zug brauchte für die 50 km fast vier Stunden. Besonders eindrucksvoll war die Aktion „Widerstandsnetz“ bei der unzählige Leute rechts und links der Gleise und quer über die Schienen aus bunten Wollfäden riesige Netze knüpften.

Als der Zug am späten Montagnachmittag schließlich in Dannenberg am Verladekran eintraf, waren die beiden möglichen Straßenstrecken nach Gorleben bereits dicht. In Langendorf auf der Nordstrecke blockierten die Trecker der Bäuerlichen Notgemeinschaft schon seit Sonntag, in Groß Gusborn auf der Südstrecke hatte die Aktion in den Mittagsstunden des Montags begonnen. Angekündigt waren für die beiden Dörfer große gewaltfreie Sitzblockaden, vorbereitet von der wendländischen Aktionsgruppe WiderSetzen und der bundesweiten Kampagne X-tausendmal quer. Nun waren jeweils noch eine ganze Reihe Traktoren der Notgemeinschaft dazugekommen – in Langendorf 38 und in Gusborn 19.

Während in Dannenberg die Verladung der zwölf Castor-Behälter vorbereitet und auf der Straßenstrecke bereits blockiert wurde, gab es in der Nähe des Verladekrans eine weitere große Trauerkundgebung der Bürgerinitiative, an der sich bis zu 2.000 Menschen beteiligten. Im Laufe des Abends kamen dann mehr und mehr Menschen nach Langendorf und Groß Gusborn, so dass diese Aktionen auf 500 bzw. 1.000 BlockiererInnen anwuchsen.

In Gusborn war die Situation für die Polizei besonders kompliziert, weil viele Menschen zwischen und auf den Treckern saßen. Der Einsatz, die 19 Landmaschinen kurzzuschließen und aus der Menge heraus von der Straße zu fahren, dauerte etwa zehn Stunden. Dabei kam es zum Teil zu heftigen „Ausschreitungen“ von Seiten der Polizei gegen Sitzende und am Rande Stehende, u.a. wurde Reizgas eingesetzt. Auch die Räumung der Sitzblockade in den frühen Morgenstunden wurde mit maßlos überzogenen Mitteln durchgeführt.

Anders sah es in Langendorf aus. Dort hatten die BeamtInnen scheinbar Anweisung, sich besonders viel Mühe zu geben und alle BlockiererInnen konnten erstaunt feststellen, dass die Polizei durchaus in der Lage ist, bei einer Räumung verhältnismäßig vorzugehen.

Während in den beiden Dörfern an der Nord- und Südstrecke noch geräumt wurde, waren etliche hundert Leute dort aktiv, wo es nur noch eine mögliche Strecke für den Straßentransport gibt. Bei Laase und im Wald vor Gorleben gab es immer wieder kurzfristige Blockadeaktionen, die dann aber mangels Presse-Anwesenheit teilweise recht brachial, einmal sogar mit Wasserwerfereinsatz, aufgelöst wurden.

Eine Überraschung gelang 20 Greenpeace-AktivistInnen, die mitten in der Nacht den Förderturm des Endlagerbergwerks in Gorleben besetzten. Noch mehr überrascht war die Polizei, als auf der eigentlich präferierten Nordstrecke plötzlich kein Durchkommen mehr war. Fünf Landwirte aus der Bäuerlichen Notgemeinschaft hatten in Quickborn einen Trecker quer über die Straße gestellt und sich in einem daran fest verankerten Betonblock angekettet. Vier Stunden lang versuchten die Techniker der Polizei, die Bauern zu lösen, dann gaben sie auf und der Transport musste über die inzwischen geräumte Südstrecke rollen. Die Angeketteten befreiten sich dann selber.

Aufgehalten wurden die zwölf Tieflader dann nur noch von der eigenen Technik. Eine Zugmaschine blieb mit Motorschaden liegen und bei zwei Hängern funktionierten die Bremsen nicht richtig.

Die traditionelle Bilanz-Pressekonferenz der Anti-Atom-Initiativen eine Stunde nach Einfahrt der Castoren ins Zwischenlager fiel diesmal anders aus als sonst. Auch hier überschattete der Tod von Sébastien Briat alles und keine Gruppe war in der Stimmung, die eigenen erfolgreichen Aktionen zu loben.

Inzwischen sind einige Tage vergangen und ich wage hier eine Bewertung, auch wenn sich durch meinen Insiderblick ein Stück Betriebsblindheit nicht verhindern lässt. Nachdem ich diesen Rückblick verfasst habe, kann ich feststellen, dass der wendländische Widerstand – mit bundesweiter und internationaler Unterstützung – auch beim Castor-Transport Nummer acht keine Ermüdungserscheinungen zeigt. Wenn mensch bedenkt, was alles kurzfristig abgesagt wurde, und wie viele Kräfte durch die Trauer an Sébastien gebunden waren, dann ist dieser Widerstand lebendig wie lange nicht. „Lebendig“ sage ich ganz bewusst, trotz des tödlichen Unfalls in Frankreich.

Ausgezeichnet wird diese Lebendigkeit eben dadurch, dass sie auch Platz für Trauer, Entsetzen und Wut hat. Der mit wenig Zeit, immenser emotionaler Anspannung und unter nicht zu unterschätzendem politischen Druck entwickelte Umgang mit der völlig veränderten Ausgangssituation war sicherlich nicht perfekt – es war auch gar nicht möglich, es allen recht zu machen – aber doch von politischer Reife geprägt, auch über die sonst eher trennenden Unterschiede verschiedener Widerstandsgruppen hinweg. Die Bewegung hat ihre Handlungsfähigkeit unter schwierigsten Bedingungen bewiesen.

Die Entscheidung, nicht alle Aktionen abzubrechen, sondern weiter Widerstand zu leisten, aber in einer den Umständen angemessenen Form, hat sich meines Erachtens als richtig erwiesen. Genauso wie die sehr defensive Pressearbeit, die auf Schuldzuweisungen und politische Forderungen rund um den Unfall in Frankreich ganz bewusst verzichtete, weil niemand diesen Tod politisch ausschlachten wollte. Dies ließ vielen JournalistInnen den Raum, selbst äußerst kritische Fragen zu stellen. Die Kommentare in den Zeitungen haben zwar einerseits die Aktionsform Anketten in Frage gestellt, andererseits die Sicherheit der Castor-Transporte und die Atompolitik der Bundesregierung scharf attackiert. Es ist wahrlich keine Selbstverständlichkeit in der heutigen Medienlandschaft, dass im Jahre 4 nach dem so genannten Atomkonsens der Leitartikel in der Berliner Zeitung mit „Atomkraft – Nein danke!“ überschrieben ist.

Wie es jetzt weitergeht rund um Gorleben und die Castor-Transporte? Das lässt sich heute noch nicht sagen. Zuerst muss alles verdaut werden. Das braucht seine Zeit. Bereits zu spüren ist aber eine neue Ernsthaftigkeit in Sachen Widerstand. Die Trauer um Sébastien hat viele darüber nachdenken lassen, wie wichtig ihnen selbst diese Auseinandersetzung eigentlich ist und sie sind zu dem Schluss gekommen, sich zukünftig noch stärker zu engagieren – weil es um verdammt viel geht.