Grenzen sind eigentlich keine Orte, sondern unendlich dünne Linien. Mit dem Projekt Indymedia Estrecho veranschaulichen AktivistInnen einen Raum, in dem sich Menschen trotz aller Widerstände bewegen und kommunizieren.
„Wir leben in Spanien mit dem Rücken zum Mittelmeer“, sagt Floren, einer der MedienaktivistInnen, die seit September 2003 das Internetprojekt Indymedia Estrecho betreiben. Hier, in einem Berliner Döner-Laden am Rande des Media Activist Gatherings in Berlin, einem Treffen von Treffen zum fünften Jahrestag der Gründung von Indymedia, scheint das alles weit weg zu sein: Südspanien, das Mittelmeer und Nordafrika. „Dabei ist alles bei uns arabisch, die Ortsnamen, die Straßen, alles. Wir haben nicht nur Gemeinsamkeiten mit diesen Menschen, wir sind einfach gleich.“
Indymedia, das aus den Protesten gegen die WTO (Welthandelsorganisation) in Seattle 1999 (vgl. GWR 245) entstandene Nachrichtensystem im Internet, erlaubt jedem, Nachrichten oder anderes Material zu veröffentlichen. Es erweist sich trotz vieler praktischer Probleme weltweit weiterhin als Erfolgsmodell einer Kommunikationsplattform. Zuerst in den Städten des Nordens, inzwischen von Indien bis Beirut. Die meisten Indymedias aber beschäftigen sich mit Nachrichten aus Städten oder Staaten, mal mehr, mal etwas weniger an einer „linken Szene“ und deren klassischen Themen orientiert.
„Damals, im April 2003, wollten wir eigentlich ein Indymedia für Malaga einrichten und trafen uns dazu mit Freunden aus Sevilla und Madrid, die sowas schon gemacht hatten, am Meer“, erzählt Floren. „Wir schwammen und tranken viel, und uns wurde klar, was das eigentliche Thema der Region ist: die Grenze zwischen Spanien und Afrika, die Straße von Gibraltar.“ Beziehungsweise, dass Südspanien und Nordafrika eine gemeinsame Region ist, deren Zentrum „die Grenze“ ist, eine Wasserstrasse von wenigen Kilometern Breite. Diese Grenze, die jedes Jahr Hunderte von Todesopfern fordert, heißt auf Spanisch schlicht „estrecho“ (die Straße), auf arabisch „madiaq“.
Eine Region, vier Sprachen
„Das ist eine Herausforderung, eine Internet-Seite in vier Sprachen: Spanisch, Arabisch, Französisch und Englisch. Dazu kommt, dass viele Menschen aus Nordafrika, die Artikel schreiben wollen, Anonymität bewahren müssen“, beschreibt Floren die Probleme, ein solches Projekt aufzubauen. Wieso also dieser Aufwand?
„Wir bekamen ständig Anfragen: Wie komme ich nach Spanien? Wo kann ich was bekommen u.s.w.“. Es lag nahe, dies von Menschen beantworten zu lassen, die damit Erfahrungen gemacht haben. Indymedia Estrecho bietet dafür eine Plattform, die von allen mit Inhalt gefüllt werden kann.
„Kommunikation“, sich austauschen, ist eines der Schlüsselwörter, wenn es um Indymedia Estrecho geht. Wie überhaupt kommt man in Kontakt mit den Menschen, die nach Europa kommen oder dorthin wollen, wie sollen diese Menschen miteinander kommunizieren? Die Zahl der Artikel in Arabisch ist bisher eher gering, was zum einen darauf zurückzuführen ist, dass den MigrantInnen in Spanien kaum arabische Computer zur Verfügung stehen. Floren sieht noch einen anderen Grund: „Viele MigrantInnen wissen, dass es in Spanien einfacher ist, französische Texte zu lesen und zu übersetzten. Es zeigt, dass sie sich mitteilen und gelesen werden wollen.“
Die Kommentare zu den Artikeln sind zahlreich und vielfältig. „Als wir gesehen haben, wie viele Menschen sich hier mit dem Problem auseinander setzen, waren wir völlig überrascht: Wer sind all diese Menschen? Sie leben unter uns, aber wir kennen sie nicht. Wir sehen sie nicht auf Demonstrationen oder Veranstaltungen. Aber das Interesse, das Wissen über das Leben hier und auch das Bewusstsein für politische Fragen ist enorm.“
Die Idee faszinierte von Anfang an: Indymedia als einerseits technisch erprobte Plattform im Kontext einer globalen sozialen Bewegung. Gleichzeitig jedoch das Konzept dahingehend zu erweitern, über die Berichterstattung von „Aktivismus und Bewegung“ hinauszugehen. „Die Themen anderer Indymedias, z.B. Antifaschismus, Umwelt oder der Szenetratsch, spielen hier weniger eine Rolle als die Arbeitssituation der ImmigrantInnen“, berichtet Floren. Die prekären, weil instabilen Arbeitsverhältnisse, die Alltagsprobleme des Überlebens, gegenseitige Unterstützung gegen Repression durch die Behörden und vor allem die Frage, wie Menschen miteinander über diese Probleme kommunizieren können, das sind die wesentlichen Themen.
Der trügerische Schein
Nur wenige Kilometer trennen Spaniens Südküste vom afrikanischen Kontinent. Fast scheint es ein Leichtes zu sein, diese Meerenge bei angenehmen Mittelmeerklima zu überqueren.
Doch der Schein trügt: Die Wasserstraße zu überqueren bedeutet eine Außengrenze Europas zu überwinden.
Die T-Shirts von Indymedia-Estrecho schmückt die Zeichnung eines achtjährigen Jungen, der auf dem Dach eines LKWs versteckt nach Spanien kam. Mehrere Male war seine Reise zuvor gescheitert.
Was den Menschen nicht erlaubt ist, nämlich die Grenzen zu überschreiten, gelingt den Überwachungsorganen spielend: Seit Anfang 2004 fliegen die spanische und marokkanische Grenzpolizei gemeinsame Patrouillen, um MigrantInnen zu fassen.
Unter dem Schlagwort „SIS II“ wird ein Zugriff nordafrikanischer Behörden auf die Datenbanken des SchengenInformations-Systems diskutiert. Marokko wird, zusammen mit Tunesien, Algerien und Libyen als einer der „außereuropäischen“ Lagerstandorte gehätschelt.
Um die spanischen Exklaven Melilla und Ceuta an der Nordafrikanischen Küste, in deren Umgebung Tausende von Menschen auf eine Gelegenheit zur Überfahrt warten, wurden erst vor wenigen Jahren drei Meter hohe Zäune errichtet: von Flutlicht bestrahlt, von Kameras, Mikrofonen- und Bewegungssensoren überwacht.
Wer sich hier frei bewegen will, benötigt Informationen.
Die Grenze offen legen
Wie trägt man diese Informationen zusammen?
Diese Frage, die Verknüpfung von Informationsfreiheit und Bewegungsfreiheit, hat zu einer Vielzahl von Projekten rund um Indymedia Estrecho geführt: Mit dem Projekt „hackandalus“ (etwa: Hacker-Labor) wird versucht, die Region nach eigenen Bedürfnissen zu kartographieren.
Nicht nach öffentlichen Verkehrswegen und Sehenswürdigkeiten, sondern nach Überwachungsanlagen der Grenze und sozialen Netzwerken. Eine Karte mit Informationen, die überlebensnotwendig sind. Solche Karten gab es bisher nur zu anderen Zwecken: z.B. für militärische, die Wegrouten unter dem Kriterium der „Einsehbarkeit“ auswählen. „hackitectura“ versucht Orte zu visualisieren, die sonst vor der Außenwelt verborgen bleiben sollen oder unbegehbar sind.
Man rekonstruierte aus Gesprächen mit Augenzeugen für den Film „Paralelo 36“ (36. Breitengrad) den Aufbau eines Abschiebelagers in Südspanien so genau, dass selbst die Polizei sich fragte, wie die Hacker an die Baupläne gekommen sind.
So ist es möglich, die hinter wenigen Zeitungsmeldungen verborgenen Sicherheitsanlagen zur Verteidigung der Festung Europa sichtbar zu machen.
Deutlich wird auch, welch enorme Dynamik dieser Migration innewohnt und wie vielfältig und verzweigt das soziale Netz ist, das zur Unterstützung dieser Bewegung geknüpft ist.
Und ermöglicht, die völlige Beliebigkeit aufzudecken, mit der die Grenze Menschen davon abhält, sich frei zu bewegen und eine angebliche kulturelle Grenze zu konstruieren.
Die Dynamik und die Vielzahl der Ideen dieses Projekts, das zeigt, welche Wege und Möglichkeiten Menschen finden, diese Grenzen zu überwinden und ihr Leben in einer ihnen feindlich gesinnten Arbeits- und Umwelt selbst zu organisieren, ist beeindruckend und zeigt, welche Möglichkeiten in solchen Plattformen stecken. Und wie eng der Zusammenhang ist zwischen der Freiheit, sich zu bewegen und miteinander zu kommunizieren.