Hinter uns liegen fast drei Jahre einer neuen, keinesfalls ersten Welle des Sozialabbaus und der Proteste dagegen - ohne bereits von einer neuen sozialen Bewegung sprechen zu wollen und zu können. Ein guter Zeitpunkt, um für den notwendigen strategischen Blick nach vorne eine realistische Bilanz zu ziehen.
Der drastische Abbau an ArbeitnehmerInnenrechten, sozialer Absicherung und sozialpolitischer Solidarität muss an dieser Stelle sicherlich nicht mehr gesondert erörtert werden. Schon im Sommer 2003 stand fest: Wenn es dagegen keinen breiten Protest gibt, brechen alle Dämme.
Heute steht fest: Wenn es nach denen geht, die in Wirklichkeit die nationale und europäische Politik bestimmen, sind die Hartz-Gesetze und die Agenda 2010 erst der Anfang eines verschärften weltweiten Dumpings an Löhnen und Lebensbedingungen.
Als die größte Klippe für wirksame einheitliche Proteste und den Widerstand gegen die Hartz-Gesetze hat sich die breite Akzeptanz des Leistungsprinzips und der Lohnabhängigkeit als einziger Quelle der Existenzsicherung erwiesen. Dies gilt für die Gewerkschaftsbürokratie gleichermaßen wie für die meisten der (noch?) beschäftigten wie erwerbslosen Lohnabhängigen selbst.
Durch die geschickte Propaganda der Regierung, mit den Ergebnissen der Hartz-Kommission sich endlich wirksam um das Schicksal der Erwerbslosen kümmern zu wollen, wurde von Beginn der Debatte an jede Kritikerin und jeder Kritiker des Zynismus gegenüber den Erwerbslosen und ihrem erst plötzlich so bedauernswertem Zustand bezichtigt. Durch diese Propaganda wurden auch die Gewerkschaftsspitzen ins Boot geholt, die ihre oberste Aufgabe schon immer darin gesehen haben, „Menschen in Arbeit zu bringen“.
Wird das Schicksal von bisher unbeachteten Millionen von „Verlierern“ plötzlich zum Politikum und bleibt die Lohnabhängigkeit unhinterfragt, akzeptieren auch vermeintlich linke Kreise längst überkommene Rezepte der Realpolitik: Vollbeschäftigung durch wirtschaftspolitische Anreize, Lohnsenkung und Flexibilisierung der Arbeitsverhältnisse wie ihrer Auflösung und nicht zuletzt „Beschäftigungspolitik“ durch Arbeitsdienste, unsinnige Weiterbildungs- und Trainingsmaßnahmen, über Leiharbeit erzwungene Arbeitseinsätze in schlechter bezahlte Jobs sowie ihre Subventionierung durch die Steuergelder der Lohnabhängigen. Das Argument vieler halbherziger Hartz-KritikerInnen schlägt uns nun mit voller Wucht zurück ins Gesicht: „Hartz-Gesetze schaffen keine Arbeitsplätze“. Und ob sie schaffen! Erstens menschenunwürdige, repressive, dafür aber „moderne“ Arbeitsdienste in Form von erzwungenen und entrechteten sowie nur angeblich „zusätzlichen“ 1-€-Jobs in rauen Mengen, und zweitens schaffen sie „reguläre“ Arbeitsplätze ab. Von den Arbeitsplätzen der Fallmanager, Kontrolleure und Sozialschnüffler abgesehen. In der Summe können sie ein reines Beschäftigungswunder vorweisen.
Die Mischung aus der angeblichen Alternativlosigkeit der Lohnabhängigkeit und der Angst vor Hartz IV lässt die Belegschaften weitere Verzichte bei Lohn wie Arbeitsbedingungen hinnehmen, anstatt die erkämpften Standards zugunsten aller Lohnabhängigen hochzuhalten. Und es steht zu befürchten, dass die meisten Erwerbstätigen sich nicht gegen den Zwang zum Lohndumping durch 1-Euro-Jobs wehren werden, aus der Hoffnung heraus, in einen festeren Job übernommen zu werden.
Denn das zweite, mit der angeblichen Alternativlosigkeit der Lohnabhängigkeit zusammenhängende Hemmnis für einen wirkungsvollen, einheitlichen Widerstand ist die Angst, die sich in der Bevölkerung ausbreitet. Angst, den Arbeitsplatz zu verlieren, oder Angst, keinen Arbeitsplatz zu finden. Immer öfter blanke Existenzangst. Diese Angst lähmt und verstärkt wiederum die Fixierung auf die Lohnarbeit. Im Zeitalter des propagierten Endes der Arbeitsgesellschaft ist Arbeit als Lohnarbeit dominierender denn je. Sie nimmt nicht nur zeitlich immer breiteren Raum in unserem Leben ein, auch Gedanken und Träume drehen sich darum, den vergangenen Arbeitstag oder die Angst vor dem kommenden zu bewältigen.
In dieser gewollten Konzentration auf das Notwendige, auf die blanke Existenz, sollen wir alle Hoffnungen und Träume von Menschenwürde, Luxus und Muße vergessen. Denn die Praxis von Hartz und Agenda 2010 heißt Entwürdigung: um den Job zu bekommen oder um ihn zu behalten. Grundrechte als unveräußerliche, also auch „unverdiente“ werden abgeschafft, denn „nichts ist umsonst“. Neben dem ökonomischen Elend, das dadurch keinesfalls vernachlässigbar wird, muss auch dieses kulturelle Elend in den Blick geraten, wenn Protest und Widerstand nicht nur bloße Abwehr, sondern auch ein wirklich besseres Leben bewirken sollen. Denn bloß den schon immer repressiven Sozialstaat verteidigen zu wollen, beließe uns in der Defensive und überließe uns permanent erneuten Zumutungen und Angriffen.
Die aktuellen, allenfalls am Anfang stehenden sozialen Bewegungen, haben selbst im ökonomischen Bereich die Debatte um Inhalte und Ziele des Widerstandes noch zu führen. Dieser fehlenden inhaltlichen Auseinandersetzung, aber auch der Scheu vor ihr, ist es geschuldet, dass es bislang nur einen sehr schmalen gemeinsamen Nenner der unterschiedlichen Akteure dieser Bewegungen gibt. Dieser gemeinsame Nenner beschränkt sich auf nur einige kurzfristige und defensive Ziele wie Rücknahme der Agenda 2010 und der Hartz-Gesetze oder „Umverteilung von oben nach unten“, für einige gar Grundeinkommen oder Arbeitszeitverkürzung – und selbst hinter diesen Zielen steht man unterschiedlich kompromisslos.
Dabei standen und stehen die Chancen für einen breiten sozialen Widerstand auf den ersten Blick gar nicht so schlecht. Positiv wirkt sich erstens die um sich greifende Desillusionierung über Stellvertreterpolitik aus, bezogen auf sozialpartnerschaftliche Lösungen sowie die Möglichkeiten zur Delegation unserer Interessen an Parteien oder Gewerkschaften und Betriebsräte. Ob Löhne, Arbeitsbedingungen, Erwerbslosigkeit, Rente oder Gesundheit: Wir können unsere Interessenvertretung an niemanden zuverlässig delegieren, kein Stellvertreter weit und breit, der das für uns zu unserer Zufriedenheit regeln kann.
Aus dieser Desillusionierung über die Rolle der Gewerkschaftszentralen heraus und der Einsicht, dass eine ernst zu nehmende Bewegung gegen den sozialen – inneren – Krieg in unserem Lande unbedingt diejenigen einschließen muss, die bereits unter den Repressionen des real existierenden Sozialstaats zu leiden haben, kam es ab Anfang 2003 – koordiniert vom LabourNet Germany und organisiert von express (Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit) sowie BAG-SHI – zu ersten bundesweiten Treffen von VertreterInnen der regionalen Anti-Hartz-Bündnisse, Erwerbslosen- und SozialhilfeempfängerInnengruppen sowie weiterer sozialer Bewegungen und Teilen der Gewerkschaftslinken. Wichtig war, die direkt Betroffenen einzubeziehen, denn ihr Ausschluss würde den größten Erfolg des bisherigen Organisierungsprozesses zu Nichte machen: dass sich in den kommunalen und regionalen Anti-Hartz-Gruppen, die den Ausgangspunkt der Protestbewegung und schließlich auch der Demonstration am 1. November 2003 darstellen, erstmals auf stabilerer Basis Erwerbslosengruppen, Sozialhilfegruppen, linke GewerkschafterInnen und VertreterInnen anderer sozialer Bewegungen zusammengeschlossen haben. Mit anderen Worten: In den regionalen Anti-Hartz-Gruppen kommen genau die „Arbeitsplatzbesitzer“ und „Arbeitsplatzlosen“ zusammen, die durch die Struktur der Finanzierung unserer Sozialsysteme bisher erfolgreich gegeneinander ausgespielt wurden.
Dieser Erfolg kann nicht wichtig genug eingeschätzt werden und sollte nicht gefährdet werden.
Eine weitere Sorge galt und gilt der Tatsache, dass selbst diese größten Angriffe auf die – teils hart erkämpften, teils zu unserer Ruhigstellung gewährten – sozialen Absicherungssysteme, den die aktuellen Hartz-Gesetze und die Agenda 2010 darstellen, lange nicht das Ende der Fahnenstange bedeuten. Das Kapital ist – leider im Gegensatz zu uns! – nicht genügsam und hat Blut geleckt. Nichts und niemand ist sicher, geschweige denn heilig, und die große Koalition des Sozialabbaus hat längst weitere Einschnitte angekündigt, so z.B. die geradezu folgerichtige weitere Kürzung der Sozialhilfe (Lohnabstandsgebot!). Für uns folgt daraus, dass wir uns auf einen langen und schwierigen Kampf einzustellen haben, der mit keiner noch so großen Demonstration ausgefochten werden kann.
Daraus folgte für mich und viele andere aus der bundesweiten Koordinierung der Anti-Hartz-Gruppen, weiterhin auf dezentrale, aber bundesweit abgesprochene Aktionstage zu setzen.
Die bisher stattgefundenen Aktionstage haben mehrere Vorteile aufgezeigt. Erstens trugen sie zur Bildung regionaler Strukturen bei, die für langfristige Aktivitäten unabdingbar sind, ob sie sich Anti-Hartz-Gruppe, AG Soziale Grundrechte oder Sozialforum nennen. Zweitens sind sie eher geeignet, Gruppen der Bevölkerung zu erreichen und aufzuklären, die bisher die geplanten Gesetze unterschätzt haben oder wütend, aber passiv blieben. Und drittens ermöglichen dezentrale Aktionstage am ehesten einen Aktionsmix, der allen Interessierten ermöglicht, ohne große Kosten dort zu protestieren, wo sie alltäglich betroffen sind (am Arbeitsplatz, in der Schule/Uni und in den Behörden) und wie es ihrem Organisierungsgrad und Mut entgegen kommt. Denn wir brauchen keine kurzfristigen Proteste, sondern Alltagswiderstand und -verweigerung.
Dies stand auch am Anfang der Überlegungen zu der Aktion Agenturschluss – beim LabourNet-Prekarisierungskongreß im Juni 2004 geboren. Neben der Notwendigkeit dezentraler solidarischer Zusammenhänge lag der Fokus darauf, dass, allen aufwändigen Großdemonstrationen zum Trotz, Hartz I – III bereits klammheimlich und reibungslos umgesetzt wurden.
Das beinhaltet auch viele Aspekte der Verfolgungsbetreuung und Strafsperren, die teilweise bereitwillig von den Fallmanagern durchgeführt werden. Wer daher als Beschäftige/r der Arbeitsagentur bei ihrer/seiner neuen Definitionsmacht über Zumutbarkeit und Vertragsbruch kein Verständnis dafür hat, dass manche „Kunden“ dies als Schikane erleben, hat sich keine Sekunde mit der gesellschaftlichen Funktion beschäftigt, für die ihr/sein Job bezahlt wird.
Daher soll(t)en Aktionen in den Agenturen den schon betroffenen Erwerbslosen, SozialhilfebezieherInnen oder Zwangs-LeiharbeitnehmerInnen helfen, sich gegen die täglichen Zumutungen und Entwürdigungen zur Wehr zu setzen und mit den Beschäftigten der Agenturen in ein solidarisches Gespräch zu kommen. Auch erscheint es als dringend notwendig, Arbeitslosenräte oder ähnliche Formen der Interessenvertretung aufzubauen, um endlich den Hartz- und Niedriglohn zustimmenden Gewerkschaften das Recht auf Stellvertretung der Erwerbslosen zu nehmen.
Dabei hat sich das LabourNet Germany große Mühe gemacht, an die in den Agenturen Beschäftigten heranzutreten und ihnen einerseits die Angst vor persönlichen Übergriffen am 3.1.2005 zu nehmen und andererseits mit ihnen zusammen ihre Verantwortung für die Verfolgungsbetreuung durch Fallmanager zu debattieren. Doch bislang scheinen weder das extra hierfür eingerichtete Forum noch ein spezielles Flugblatt an die Agenturbeschäftigten viel bewirkt zu haben.
Deshalb wird es weiterhin eine wichtige Aufgabe bleiben, den Kontakt zu aufrechten Agenturbeschäftigten zu suchen, die Erwerbslosen zu organisieren, die Organisationen, die bei Strafe des Untergangs 1-€-Jobs ablehnen, zu unterstützen und den Widerstand gegen diesen Arbeitszwang aufzubauen. Ebenfalls viel „Beschäftigung“ werden wir darauf aufwenden müssen, die Noch(?)-Beschäftigten davon zu überzeugen, dass ihre einzige Chance darin besteht, nicht wegen drohendem Hartz IV zu verzichten, sondern für alle die tariflichen und Lohnstandards hoch zu halten.
Denn der Kampf für bedingungslose soziale Rechte und gegen die Lohnabhängigkeit wird einen langen Atem erfordern und den gemeinsamen Kampf aller Lohnabhängigen. Wenn auch von der bürgerlichen Presse klein geredet, hat der Agenturschluss am 3. Januar gezeigt, dass es – wenn auch an noch zu wenigen Orten – funktionierende regionale Strukturen gibt, die keiner zentralen Organisierungsmacht bedürfen.
Anmerkungen
Mag Wompel ist Redakteurin von LabourNet Germany: www.labournet.de
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