Jürgen Grässlin ist "Deutschlands wohl prominentester Rüstungsgegner" (Der Spiegel) (1).
1994 und 1998 war der Biograph von Daimler-Chef Schrempp und BMW-Boss Piëch Bundestagskandidat für Bündnis 90/Die Grünen. Nachdem seine Parteikarriere ohne Bundestagsmandat endete, trat er im Sommer 2000 aus der Partei aus. Ihm war bewusst geworden, dass für einen Pazifisten bei den Grünen kein Blumentopf mehr zu holen ist.
Grässlin leistet heute auf verschiedenen Feldern gute Arbeit. Empfehlenswert ist sein Buch über Kleinwaffenexporte.
Der Selbstdarsteller (2) ist Sprecher der Kritischen AktionärInnen DaimlerChrysler, Sprecher des Deutschen Aktionsnetzes Kleinwaffen Stoppen, Vorstandsmitglied des RüstungsInformationsBüros und Bundessprecher der Deutschen Friedensgesellschaft – Vereinigte KriegsdienstgegnerInnen (DFG-VK).
Die DFG-VK ist, wie die GWR, Teil der War Resisters‘ International (WRI). Mit mehreren tausend Mitgliedern ist sie die größte antimilitaristische Organisation in der Bundesrepublik.
Als Mitglied der DFG-VK hatte mensch des öfteren die Gelegenheit, sich für „seinen“ Sprecher zu schämen. Es gibt Leute, die springen von einem Fettnapf in den nächsten. Einer, der sich auf diese Kunst versteht, ist Jürgen Grässlin.
Fettnapf 1
Die taz machte am 19. Januar 2004 unter dem reißerischen Titel „Kriegserklärung der Kämpferin“ aus einer gewaltfreien indischen Aktivistin eine vermeintliche Kriegstreiberin: „Auf dem Weltsozialforum in Bombay fordert die Autorin Arundhati Roy den Krieg der Globalisierungskritiker gegen das Establishment.“
Statt Roys WSF-Rede (3) im Wortlaut zu dokumentieren, riss das regierungsnahe Blatt Zitate aus dem Zusammenhang. (4)
Wer nur diese und nicht Roys Mumbai-Rede gelesen hatte, konnte den Eindruck gewinnen, dass die für ihren gewaltfreien Widerstand im Sinne Gandhis bekannte Autorin von „Der Gott der kleinen Dinge“ ins Lager der Terror befürwortenden „10 Euro für den irakischen Widerstand“ (5) -PropagandistInnen abgedriftet sei.
Grässlin hat sich nicht die Mühe gemacht, die Rede im Wortlaut zu lesen. Stattdessen hat er sich direkt nach Erscheinen des taz-Artikels in einer Presseerklärung im Namen der gesamten DFG-VK von der Schriftstellerin distanziert. Genauer: von einer Rede, die er nicht kannte.
Grässlin hatte sich zuvor gegen die „10-Euro-Kampagne“ engagiert. Dafür gebührt ihm Lob. Aber dann schoss er mit seiner unfundierten Kritik an Roy meilenweit übers Ziel hinaus. Wer sich so, mit pawlowschen Reflexen, an einer Diffamierungskampagne beteiligt, schadet der Organisation, für die er spricht.
Eigentlich hätte Grässlin nach Veröffentlichung seiner Presseerklärung vor Scham im Boden versinken müssen. Zwar ist er zurückgerudert, nachdem sein Text allgemeines Kopfschütteln hervorgerufen hatte. Bei Roy hat er sich aber nicht entschuldigt. Sein Amt als DFG-VK-Sprecher hat er nicht niedergelegt. Wir müssen weiterhin seine Presserklärungen über uns ergehen lassen, zum Beispiel auch zum Treffen von US-Präsident George W. Bush mit Bundeskanzler Schröder am 23. Februar 2005 in Mainz.
Fettnapf 2
„Mr. Bush, you are not welcome in Germany!“ erklärte Grässlin im Vorfeld der Mainzer Demonstration und forderte den US-Präsidenten auf: „Fliegen Sie nach Hause, Mr. Bush. Denn Deutschland ist ein demokratisches und friedliches Land, in dem Sie nicht willkommen sind!“
Tatsächlich? Ein „friedliches Land“? In seiner Presseerklärung kein Wort etwa zum völkerrechtswidrigen NATO-Angriffskrieg gegen Jugoslawien, den das „friedliche“ Deutschland 1999 unter maßgeblicher Verantwortung von Schröder, Fischer und Co. mit geführt hat. Das „friedliche“ Deutschland misshandelt mit Vorliebe dunkelhäutige Menschen und schiebt in Folterstaaten und Kriegsgebiete ab. (6) Auch Kriegsdienstverweigerer werden nicht selten abgeschoben, ihr Menschenrecht auf Desertion und KDV nicht anerkannt. Totale Kriegsdienstverweigerer werden kriminalisiert.
Das „friedliche“ Deutschland ist einer der größten Exporteure von Waffen, mit denen in aller Welt gemordet wird. Soldaten aus dem „friedlichen“ Deutschland beteiligen sich am „Krieg gegen den Terror“ in vielen Ländern der Welt. Mit mehr als 2.000 SoldatInnen stellt das „friedliche“ Deutschland das größte nationale Truppenkontingent als Teil der internationalen Besatzungsmacht in Afghanistan. Das, was die Bundeswehreliteeinheit KSK, bis vor anderthalb Jahren noch unter der Führung des rechtsextremen Generals Reinhard Günzels (7), in Afghanistan gemacht hat, ist geheim. Däumchen gedreht haben die Kommandospezialkräfte sicher nicht.
Die Armee des „friedlichen“ Deutschland wird seit Jahren zur Interventionstruppe ausgebaut. Die Militarisierung der deutschen Innen- und Außenpolitik ist kaum übersehbar. Die Steigerung der militärischen Fähigkeiten der EU-Staaten wird in der von Schröder und Co. mit verantworteten EU-Verfassung ausdrücklich festgeschrieben.
Für den DFG-VK-Bundessprecher sei es unerklärlich, »weshalb Bundeskanzler Gerhard Schröder einem Menschen wie George W. Bush ein Forum bietet, der für vielzählige Menschenrechtsverletzungen bis hin zu Kriegsverbrechen verantwortlich ist«. Grässlin forderte Schröder stattdessen auf, »seinen Teil dazu beizutragen, dass alle Kriegsverbrecher vor ein internationales Strafgericht gestellt und verurteilt werden«.
Lieber Jürgen Grässlin, jeder Krieg ist ein Verbrechen an der Menschheit. Müsste Schröder für seine hierzulande kaum als solche wahr genommenen Kriege, etwa die 1999 in seinem Auftrag von deutschen Tornados vollzogene Bombardierung Jugoslawiens, nicht auch als »Kriegsverbrecher vor ein internationales Strafgericht gestellt und verurteilt werden«?
Warum ist es so „unerklärlich“, dass eine Krähe der anderen kein Auge aushackt?
Ist es „unerklärlich“, dass ein verhältnismäßig kleiner Kriegsherr und Waffenhändler wie Schröder seinem Partner und Konkurrenten, der zugleich mächtigster Kriegsführer ist, „ein Forum bietet“?
Sind Schröder und die von seinem Kriegsminister Struck vertretene Politik, die „Deutschland am Hindukusch verteidigt“, nicht ebenso kritikwürdig? Machen Schröder und sein Club nicht einfach das, was bundesdeutsche Machtpolitiker immer (mit)gemacht haben? Beteiligung an der weltweiten Ausbeutung und Unterdrückung im Dienst der eigenen kapitalistischen Profitmaximierung. Imperialistische Politik, und wenn es nicht anders geht, dann als Hilfssheriff an der Seite der Supermacht.
Jürgen Grässlin müsste das alles wissen. Er hat die deutsche und europäische Rüstungs- und Kriegspolitik selbst schon angeprangert.
Fazit
In seiner am 23. Februar vor 15.000 Bush-GegnerInnen in Mainz gehaltenen Kundgebungsrede (8) hat Grässlin die Bundesregierung kritisiert und den Unsinn vom „friedlichen Deutschland“ nicht wiederholt. Zum Besten gegeben hat er erneut, dass Bush in „unserem Land“ nicht willkommen sei. Solche nationalpazifistisch anmutenden Formulierungen hatten VertreterInnen der DFG-VK erfolgreich aus dem ersten Aufrufentwurf streichen können.
Nicht jede Grässlin-Äußerung kann der DFG-VK insgesamt angelastet werden. Einen erfreulichen Kontrast bietet z.B. das Flugblatt, das die DFG-VK Hessen anlässlich des Bush-Schröder-Treffens herausgebracht hat. (9)
Grässlins Pressemitteilung stieß auf Protest auch aus der DFG-VK.
Die Fettnapfspringerei von „Deutschlands wohl prominentestem Rüstungsgegner“ ist für die DFG-VK und die antimilitaristische Szene insgesamt fatal. Wie soll etwa den bellizistischen „Antideutschen“ in den Radaktionsstuben von Bahamas, Jungle World, Konkret und Co. entgegentreten werden, für die die Mainzer Demo nur eine Verharmlosung der deutschen Militärpolitik war? Sie können nun ihre Thesen mit Grässlin-Zitaten unterfüttern, etwa die These, dass die DFG-VK die Lüge von der friedlichen Politik Deutschlands verbreitet.
Ziel des Antimilitarismus muss die Abschaffung jeglichen Militärs sein, eine gewaltfreie, herrschaftslose Gesellschaft.
Diesem Ziel kommen wir nicht näher durch einen staats- beziehungsweise regierungsnahen „Kuschelpazifismus“, der die Kriegspolitik der US-Regierung kritisiert und hierzulande den „Rüstungshaushalt senken“ (10) will, sich aber an Machtmenschen wie Gerhard Schröder, Jürgen Schrempp und Co. anbiedert.
Eine herrschaftsfreundliche „Friedenspolitik“, welche die Machtstrukturen und -zusammenhänge in „unserem Land“ weitgehend ausblendet, ist naiv, aber nicht glaubwürdig.
(3) Vgl. "Gewaltloser Widerstand". Arundhati Roys Rede auf dem 4. WSF in Mumbai, in: GWR 286, Februar 2004, S. 1, 8 f.
(4) Vgl. Alfred Schobert: "Arundhati Roy" im Krieg der Medien, in: GWR 286, Feb. 2004, S. 8
(5) Siehe Alfred Schobert: "Panorama" ohne Durchblick, in: GWR 285, Januar 2004, S. 1 u. 6
(6) Siehe dazu: Bundesdeutsche Flüchtlingspolitik und ihre tödlichen Folgen (1993 bis 2004), in dieser GWR, Seite 7
(7) Vgl.: Alfred Schobert: Eliten-Antisemitismus in Nazi-Kontinuität, in: GWR 284, Dezember 2003, S. 1,12 f.
(8) www.dfg-vk-mainz.de/aktuell/?start=/aktuell/bush/aufrufdfgvk.html
(9) www.notwelcomebush.de/index.php ?menuid=37 &reporeid=132
(10) Die DFG-VK-Kampagne "Rüstungshaushalt senken!" ist m.E. ein Beispiel für "zahmen Pazifismus". Wer zu wenig fordert, bekommt überhaupt nichts!