antifaschismus

Auszüge aus der Petition von Paul Brune

Am Tag meiner "Aufnahme" (in das St. Johannes-Stift, d.R.) kam ich auf eine Station, mit fünfzig anderen Jungen in meinem Alter. ... Die Räume waren leer und kahl. Außer einem Kreuz und einem Adolf-Hitler-Bild hing nichts an den Wänden, das einzige Mobiliar bestand aus großen blankgescheuerten Tischen und ebensolchen Bänken im Tagesraum und Betten in den Schlafräumen. Sonst nichts, absolut nichts. Keine Blume, kein Spiel, erst recht kein Buch. Schränke, es waren Wandschränke, in der Mauer eingebaut.

Das Personal dieser Abteilung bestand aus der kleinen untersetzten Nonne Fidelis, der Pflegerin Wilhelmine Englisch und dem „Hausburschen“ Wilhelm Schulte. Die Nonne Fidelis kümmerte sich ausschließlich um die Essensangelegenheiten. Ich habe sie nicht anders in Erinnerung, als sie ständig nur Brotschnitten, mit Margarine kratzend, schmieren zu sehen. Sie sprach auch nicht mit uns Kindern. Sie war unentwegt stumm manuell tätig.

Absolute Herrscherin der Station war Wilhelmine Englisch. … Sie hatte ihre Station „absolut im Griff“, wie sie immer stolz betonte. Den ganzen Tag mussten wir Kinder schweigend auf den langen Bänken und an den Tischen sitzen. Sprechen war absolut verboten. Wurde ein Kind dabei erwischt, welches versuchte, sich flüsternd mit dem Nachbarn zu unterhalten, wurde es von Wilhelmine Englisch „vertubackt“, wie sie es nannte. Sie fuhr dem „Sünder“ mit ihrer Faust knetend im Gesicht herum, riss ihn an den Ohren. Es gab kaum ein Kind auf der „tiefstehenden Station“ – so der offizielle Name dieser Station – welches nicht bunte Flecken von diesem „Vertubacken“ der Englisch im Gesicht davon trug. Absolute Grabesruhe auf einer Station von fünfzig Kindern im Alter von 4 bis 10 Jahren. Die jüngeren Kinder lernten nicht das Sprechen, die älteren, welche es ansatzweise konnten, verlernten es. Hier wurden mit brutalen Methoden Kinder zu Idioten, „Tiefstehenden“ gemacht, und das äußerst erfolgreich. Da wir Kinder „Tiefstehende“ waren, kamen wir auch nie ins Freie. Wir hockten den ganzen Tag schweigend auf der Station. Da es keine Bewegung gab, nur Stillsitzen den ganzen Tag, verkümmerten bei den Kleinen auch vor allem die Beine. Von der erbärmlichen Kleidung und dem fehlenden Schuhwerk will ich erst gar nicht reden. Mit kahl geschorenen Köpfen, das besorgte W. Englisch, vegetierten wir kindlichen Elendsgestalten dahin. Diese „Pflegerin“ hatte, wie so viele des Anstaltspersonals, die ganze Nazi-Ideologie mit ihrem Untermenschenvokabular verinnerlicht. „Abschaum der Menschheit“, „Minderwertige“, „unnütze Esser“, „Bodensatz“, „Drohnen“, Schmarotzer“ usw. Es irritierte diese Frau nicht, dass kein Kind ihre Tiraden verstand. Ich würde diese Frau rückblickend als schwere Hysterikerin und Sadistin von primitivster Struktur bezeichnen. Wenn sie ihren freien Tag hatte, war für uns Kinder Weihnachten.

Hatte sie es besonders auf ein Kind abgesehen, so krallte sie ihre Hand in das kindliche Bauchfleisch ihres Opfers und drehte ihre Hand bzw. das Fleisch. Diese schmerzliche Foltermethode hatte riesige, mit der Zeit in allen Regenbogenfarben schillernde Flecken zur Folge. Leider war diese perverse Quälerei der Englisch auch bei anderem „Pflegepersonal“ der Anstalt beliebt. Diese Folter hatte den Vorteil, dass sie nicht sichtbar war.

Im Jahre 1944 wurden die meisten Häuser der Anstalt St. Johannes für die Bochumer Kinderklinik und für das Soldatenlazarett geräumt. Viele Kinder wurden nach Hadamar oder Idstein transportiert, wo sie höchstwahrscheinlich ermordet wurden. Die restlichen Kinder wurden auf den Anstaltsfluren und in Kellern untergebracht, wo provisorische Stationen eingerichtet wurden. Die Kinder wurden im Zuge dieser Maßnahme auf engsten Raum gepfercht, da für sie in der Anstalt kein Platz mehr war. Ich selber kam … auf die Schuljungenstation K 5 …

Keine der sog. „Schulschwestern“ hatte eine Ausbildung oder ein Studium für diesen Beruf. Ein paar hatten einen Vierwochenkurs absolviert. Allein ausschlaggebend war, dass die Nonnen einen Volksschulabschluss besaßen. Es handelte sich bei diesen Nonnen um den „dienenden Orden“ der Vinzentinerinnen. … Diese sog. „Schulschwestern“ standen auf dem Standpunkt, dass Wissen für uns Kinder schädlich sei. Entsprechend war der „Unterricht“. Es wurde gebetet, gebetet, gebetet. Wir lernten das Gesang- und Gebetbuch von hinten nach vorn, von vorn nach hinten auswendig. Da viel in der Anstalt gestorben wurde, es war ein Totenhaus, aber kein Kinderhaus, sangen wir Kinder dieses Lied in der Totenmesse in der Anstaltskirche:

„Was plagt mich Angst und Not,
bin ich nicht, oh mein Gott,
ein Sünder hier auf Erden.
Verlohnts sich wohl der Müh,
dass ich mich kranke hie,
Bald lieg ich auf der Bahre.
Dann bin ich Staub,
des Todes Raub,
Im Grab der Würmer Speise“ …

In der „Schulpause“ hatten wir Kinder schweigend vom Schulgebäude durch die unterirdischen Gänge, die die einzelnen Häuser der Anstalt miteinander verbanden, zu den Stationen zu gehen. Was heißt hier gehen? In geordneten Zweierreihen hatten wir Kinder zu den Stationen zu marschieren, ohne ein Wort zu sprechen. Dieser Gang fand ohne eine Aufsichtsperson statt. Einem Kinde wurde das „ehrenvolle Ämtchen“ des Aufpassers übertragen, das sich die Namen der Kinder merken musste, welche auf dem Weg von der „Schule“ zur Station geschwätzt hatten. … Das leiseste Wispern, Flüstern wurde als „Schwätzen“ gemeldet. „Schwätzen“ war ein Kapitalverbrechen und wurde als solches geahndet. … Der „Schwätzer“ musste hervortreten, die zwei stärksten Schüler ebenfalls. Diese hatten die Aufgabe, den „Schwätzer“ an den Armen festzuhalten. Derart wehrlos, zog die Schulnonne Brunis den Sünder an der Nase, damit er den Kopf nicht bewegen konnte, und schlug mit aller Kraft auf den „Schwätzermund“. … Der Mund und das Zahnfleisch bluteten. … Ich zittere noch heute, wenn ich an diese schändliche und grausame Tortur denke. Wir Kinder waren auf Gnade bzw. Ungnade aller abgefeimten Willkür ausgeliefert. Um uns „Minderwertige“, um uns „Abschaum der Menschheit“ kümmerte sich kein Mensch. Es gab keinen Arzt in der Anstalt. … Das unqualifizierte Personal unterstand keinerlei Kontrolle. …

Der Schulbesuch fiel aus, wenn Arbeit für uns Kinder vorhanden war. Die gab es reichlich. Der Anstalt war ein großer landwirtschaftlicher Betrieb, die sog. „Ökonomie“, angeschlossen. Wochenlang lagen wir Schuljungen auf den Anstaltsfeldern und haben Rüben vereinzelt, Rüben gehackt, Unkraut gejätet, Kartoffeln gepflanzt, Kartoffelkäfer gesammelt, Kartoffeln aufgelesen. In der Beerenzeit mussten von morgens bis abends in den weiten Wäldern Blaubeeren, Himbeeren, Brombeeren gesammelt werden. Am Abend kehrten wir Kinder wie „Kriechtiere“ (Bezeichnung der Marsberger Bevölkerung für uns Kinder) todmüde mit den gefüllten riesigen Kücheneimern in die Anstalt zurück. Von den Früchten unseres Fleißes sahen wir nichts. Die lösten sich in Luft auf. Ein Teil unserer Mühen verschwand in der Küche des Anstaltspfarrers, welcher auch der Schulrat der Anstaltsschule war. Eine Schulaufsichtsbehörde gab es für uns Kinder nicht.

Diese Sammeltätigkeit war schwerste Arbeit, da ein hohes „Pensum“ vorgesehen war. Ein Kind, welches dieses „Pensum“ nicht erfüllte, wurde damit bestraft, dass ihm die klägliche Hungerration entzogen und den „Fleißigen“ gegeben wurde. Eine schreckliche Strafe … Herrschte allgemein schon Hunger, so in der Anstalt besonders grässlich. Wir Kinder weinten des nachts in den Betten oft aus Hunger. Unser Sinnen und Trachten drehte sich ausschließlich um Nahrung. Da diese nicht vorhanden war, mussten wir Kinder diese im Frühjahr und Sommer beschaffen. Mit den großen Anstaltswäschekörben zogen wir los und rupften die Straßengräben von Geißfuß blank. Dieses kam ohne jede Zutat, nur gesalzen in die Küche und wurde gekocht. Waren schon die ersten jungen Pflanzen ungenießbar, so drehte sich der Magen um, je älter dieses Unkraut im Laufe des Sommers wurde. Wir erbrachen diese „Suppe“ aus Geißfuß in unsere Blechnäpfe, mussten das Erbrochene aber unter Prügeln wieder aufessen. Der Magen gab diese scheußliche Nahrung einfach wieder von sich. Uns fielen die Haare aus. Wir hatten Hungerödeme und Krätze. Jedes Kind versuchte, sich auf Kosten des anderen Kindes Nahrungsvorteile zu verschaffen, in dem es fleißiger sein wollte als die anderen, um an dessen Butterbrot, nicht an die Geißfußsuppe, zu kommen. Wir waren entmenschte Kreaturen.

Aber die schlimmste Zeit unserer kindlichen Zwangsarbeit war die Bucheckernzeit. Diese Sammeltortur endete erst, wenn die Natur so barmherzig mit uns Kindern war und den Waldboden mit Schnee bedeckte. Wie viele Zentner Bucheckern haben wir in einer Saison von dem nassen, kalten Waldboden geklaubt. Ein Kind, das den ganzen Tag am Boden liegt, um sein „Pensum“ zu erfüllen, ist kein Kind mehr. Bis weit in den Dezember ging diese schwere Arbeit.

Was geschah mit den mühevoll gesammelten Bucheckern? Sie wurden zu Öl verarbeitet. Leider nicht für uns, sondern für würdigere Mägen als die unseren. Der Anstaltspfarrer bekam seinen Teil. Der Caritasdirektor des Bistums Paderborn kam mit seinem schwarzen Mercedes ins St. Johannes-Stift und holte sich „seine“ Ölflaschen ab.