Freiheit ist zur wichtigsten, aufregendsten und folgenreichsten, aber ebenso zur gefährlichsten politisch-philosophischen Formel der Neuzeit geworden: Im Namen der Freiheit erhoben und erheben sich Menschen gegen ihre Tyrannen, im Namen der Freiheit wurden und werden „gerechte“ Kriege geführt. Es wurde und wird im Dienste der Freiheit getötet, ausgebeutet und versklavt, und schließlich erhielt die Freiheit im 20. Jahrhundert eine besonders pervertierte Bedeutung mit der nationalsozialistischen Parole von „Arbeit macht frei“, die über Eingangstoren zu Vernichtungslagern wie Auschwitz während des „Dritten Reiches“ angebracht wurden.
Das Streben nach Freiheit findet seinen Niederschlag, sozialgeschichtlich gesehen, nicht nur in konkretem gesellschaftlichem Handeln – sprich: in Rebellionen, Revolutionen und Widerstand gegen Herrschaft und Zwang -, sondern ebenso, ideengeschichtlich betrachtet, in politischen Proklamationen und Traktaten, in Kunstwerken, in literarischen Utopien oder in philosophischen Diskussionen.
Freiheit ist nicht an eine bestimmte Gesellschaftsschicht gebunden. Freiheitliches Denken und Handeln findet sich bei ArbeiterInnen ebenso wie bei Bäuerinnen und Bauern (z.B. Bauernkriege), beim Klerus (z.B. Thomas Müntzer, BefreiungstheologInnen), beim Adel (z.B. Graf Mirabeau, Graf Leo Tolstoi), beim „Dritten Stand“, bei „Bürgerlichen“ (z.B. Französische Revolution, 1848er Revolution) u.a.
Freiheit ist ein universelles Phänomen, oder, wie der Philosoph Hermann Krings es ausdrückt: „Das Thema Freiheit ist in der ganzen Welt aktuell, doch das Wort bezeichnet jeweils eine andere Realität.“ (Krings 1977, S. 86)
Die Kernfrage des Anarchismus ist gleichzeitig eine Kernfrage der Neuzeit: der Widerspruch und die Dialektik von Herrschaft und Freiheit. Diese sind sowohl Leitlinien als auch Grundbegriffe im neuzeitlichen Denken und Handeln. So wird Freiheit einerseits als ein Begriff gewertet, ohne den der politische Diskurs in der Neuzeit nicht denkbar ist (Günther 1979, S. 64), und andererseits wird Herrschaft bzw. Autorität als das „Grundproblem aller politischen Philosophie“ (Spaemann 1972, S. 735) verstanden. Dieses als Antinomie bestehende Problem zeigt sich in der Neuzeit auf der sozial- und realgeschichtlichen Ebene als Spannung zwischen dem Freiheitsstreben und Bedürfnis der Individuen auf der einen Seite und den Herrschaftsinteressen von Eliten, Schichten und Verfasstheiten (z.B. dem Staat) andererseits. Ideengeschichtlich äußert sich dieses Problem im Anspruch der Neuzeit, sowohl Individualität als auch Sozialität zu garantieren. Es geht dabei um die Frage, wie die Freiheit einer Person A die gleiche Freiheit einer Person B ermöglicht und dabei Sozialität erreicht werden kann.
Wie können zwei oder viele freie Menschen so miteinander interagieren und kommunizieren, dass ihre individuelle Freiheit erhalten bleibt und gleichzeitig Gesellschaftlichkeit möglich ist?
Mit der neuzeitlichen Idee der Freiheit entfremdet sich der Mensch ideengeschichtlich und psychologisch von der Sicherheit transzendentaler Bindung und Orientierung und unterbricht die mittelalterliche Einheit von Gott, Mensch und einer Gesellschaftsordnung, die nicht auf der Gleichheit, Freiheit und Individualität der Menschen basiert.
Freiheit ist einerseits zum Schlüsselbegriff und Hoffnungsträger für die Neuzeit geworden, andererseits stellt sich damit aber auch das Problem bzw. der Widerspruch von Zwang und Freiheit neu und verlangt nach einer „modernen“ Lösung. Dieses Verhältnis von Zwang und Freiheit zeigt sich in der Neuzeit auf verschiedenen Ebenen. Sie ist damit beschäftigt, Lösungen für diesen Widerspruch zu finden, der seinen Ausgangspunkt in der Idee von „gleich-freien“ Menschen hat, die in einem gemeinsamen gesellschaftlichen Kontext interagieren und kommunizieren wollen.
Freiheit als gesellschaftliches Prinzip
Der Freiheitsgedanke bzw. der Freiheitsbegriff erlebt mit dem Anarchismus die radikalste Transformation in die gesellschaftliche Praxis der Neuzeit. Paradigmatisch für den Anarchismus Ende des 19. Jahrhunderts drückt dies Bakunin im Kontext eines Beitrags zur Pariser Commune (1871, hier dt. 1923) folgendermaßen aus: „Ich bin ein leidenschaftlicher Liebhaber der Freiheit, die ich für das einzige Milieu halte, in welchem die Intelligenz, die Würde und das Glück des Menschen sich entwickeln und wachsen können; – nicht jener ganz formellen, vom Staat aufgezwungenen, zugemessenen und reglementierten Freiheit, vom Staat der ewigen Lüge, die in Wirklichkeit nie etwas anderes vertritt, als das Vorrecht einzelner, gegründet auf die Sklaverei aller; – nicht jener individualistischen, egoistischen, kleinlichen und fiktiven Freiheiten, welche die Schule J.-J. Rousseaus und andere Schulen des Bourgeoiseliberalismus lobpreisen und welche das sogenannte Recht aller, das der Staat vertritt, als Grenze des Rechts jedes einzelnen betrachtet, was notwendigerweise immer das Recht des einzelnen auf Null reduziert. Nein, ich verstehe darunter die einzige dieses Namens wahrhaft würdige Freiheit, diejenige, welche in der vollen Entwicklung aller materiellen, geistigen und moralischen Kräfte besteht, die im Zustand schlummernder Fähigkeiten jedem zu eigen sind, die Freiheit, die keine anderen Beschränkungen kennt, als die uns von den Gesetzen unserer eigenen Natur vorgeschriebenen, so daß es, genau genommen, keine Beschränkungen sind, da diese Gesetze uns nicht von einem äußeren Gesetzgeber auferlegt sind, der neben oder über uns existiert, – sie sind uns innewohnend und eigen, sie bilden die Grundlage unseres ganzen Wesens, des materiellen wie des intellektuellen und moralischen; statt also in ihnen die Grenze zu sehen, müssen wir sie als die wahren Bedingungen und die tatsächliche Ursache unserer Freiheit betrachten.“ (Bakunin 1923, S. 268)
Dieses pathetisch geäußerte Freiheitsverständnis, das nicht unüblich für die anarchistische Rhetorik Mitte/Ende des 19. Jahrhunderts war, zeigt die Absolutheit, mit der Freiheit als Ziel und vor allem auch als Voraussetzung menschlichen Handelns begründet wird sowie als Naturgesetz anthropologische Priorität im Prozess der kulturellen Evolution erhält. Es wird unterschieden zwischen einem „richtigen“ und „falschen“ Freiheitsverständnis. Zum Maßstab hierbei wird der Ort, von dem aus Freiheit begründet und legitimiert wird: Die Grenzen der Freiheit können nicht von einer gesellschaftlichen Institution wie etwa dem Staat oder der Kirche festgelegt werden. Hierzu besteht kein „Rechtsanspruch“ im Sinne eines Naturrechts. Die Grenzen der Freiheit liegen in den „Gesetzen unserer eigenen Natur“ (ebd.), d.h. im Individuum, und lassen sich nur intrinsisch, d.h. aus uns selbst heraus, begründen. Eine extrinsische Legitimation von Freiheit reduziert das Recht des Einzelnen „auf Null“ (ebd.) und widerspricht damit der Natur des Menschen. Damit wird die intrinsische Begründung und Legitimierung von Freiheit auch nicht als Begrenzung von derselben gesehen, sondern als deren Voraussetzung.
Als Beispiel einer politischen Operationalisierung dieses abstrakten Freiheitsbegriffes für den Anarchismus sei hier auf Erich Mühsam verwiesen. Für ihn wird Freiheit zu einem gesellschaftlichen Prinzip. Freiheit wird als gesellschaftliche Freiheit verstanden. Es geht dem Anarchismus um die „Neugestaltung der Gesellschaft im Geiste der Freiheit“ (Mühsam 1930, S. 269). Gesellschaftspolitisch bedeutet dies die Veränderung von einer auf der „Gehorsamspflicht“ (ebd., S. 270) beruhenden gesellschaftlichen Ordnung in eine, die vom Prinzip des „Kameradschaftsdienstes“ (ebd.) geleitet ist. Gesellschaftliche Freiheit wird gleichgesetzt mit einer neuen Art gesellschaftlichen Handelns, die von Mühsam (1929, 1930) und vor allem von Kropotkin ausführlich als das Prinzip der „gegenseitigen Hilfe“ naturwissenschaftlich (1902, hier 1975) und philosophisch (1923) begründet wird.
Wie und unter welchen gesellschaftlichen Bedingungen kann sich der Mensch verwirklichen, d.h. autonom werden?
Mühsam bemerkt hierzu: „Der Mensch strebt nach Erfüllung seiner individuellen Möglichkeiten. Er will seinen einmaligen, von allen anderen Menschen unterschiedenen Charakter mit den darin begründeten Fähigkeiten, Neigungen, Kräften, Leistungs- und Genußanlagen unabhängig von auferlegtem Zwang frei entwickeln und verwerten. Diese Unabhängigkeit, die Selbstbestimmung und Selbstverantwortung in sich schließt, ist seine Vorstellung von Freiheit; ohne sie kann es keine Freiheit für ihn geben. Die Menschen aber sind auf ihre Arbeit angewiesen und zwar jeder auf die Arbeit aller, alle auf die Arbeit eines jeden. Infolgedessen ist die Gemeinschaftsaufgabe jeder Gesellschaft, die sogenannte soziale Frage zu lösen, d.h. Arbeit, Verteilung und Verbrauch so zu organisieren, daß Leistung und Verwendung in das richtigere Verhältnis zum Ertrage der Erde gebracht werden. Unter gesellschaftlicher Freiheit wird nun gemeinhin verstanden, daß die Organisation der gemeinsamen Arbeit der Willkür und dem Nutzen Einzelner entzogen und der Gesamtheit des produzierenden und konsumierenden Volkes übertragen werden. Ist nun – und das entscheidet, ob die Freiheit als gesellschaftliches Prinzip bestehen kann – eine Regelung der menschlichen Beziehungen erreichbar, bei der das Höchstmaß verbundenen Werteschaffens zum Nutzen aller und unter Ausschaltung der Willkür Einzelner geleistet wird, – und gleichzeitig die Persönlichkeit zur vollen Entwicklung ihrer Fähigkeiten, zum vollen Ausleben ihrer Kräfte, zur vollen Befriedigung ihrer Bedürfnisse gelangen kann?“ (Mühsam 1930, S. 268)
Die Lösung der hier gestellten Frage – die gleichsam als eine Grundfrage der politischen Philosophie der Neuzeit gewertet werden kann – erfolgt über eine Konkretisierung der Definition von Freiheit im Sinne von „Freiwilligkeit“:
„Freiwilliges Schaffen gleichberechtigter Individuen im Dienste gegenseitiger Hilfe, so erhalten wir das soziale Programm einer Menschengemeinschaft, in der Freiheit das gesellschaftliche Prinzip ist.“ (ebd., S. 271)
Freiheit als gesellschaftliches Prinzip führt also zu der Frage nach der gesellschaftlichen Verfasstheit, in der die Freiheit des Menschen ermöglicht werden soll. Für die AnarchistInnen ist dabei die Freiheit des Einzelnen keineswegs grenzenlos. Sie korreliert vielmehr mit der Gemeinschaft – Mühsam spricht von der „Gesamtheit des produzierenden und konsumierenden Volkes“ (ebd.). Die Verwirklichung von Freiheit als gesellschaftliches Prinzip hängt von der Qualität der Beziehung und Kommunikation zwischen den Individuen ab, die von Mühsam in Anlehnung an Kropotkin idealtypisch mit „gegenseitiger Hilfe in der Tier- und Menschenwelt“ umschrieben wird (ebd., S. 270). Ähnlich wie Bakunin, und damit im Widerspruch zu Hobbes, geht Mühsam von einem „guten“ Menschen im „Naturzustand“ aus und kann von hier aus Freiheit als einen „natürlichen“ und ursprünglichen Wert des Menschen definieren.
Beim Anarchismus ist nicht der Staat die Lösung des Problems der „sozialen Frage“ – wie bei sämtlichen politischen Philosophien der Neuzeit -, sondern vielmehr der Verursacher desselben. Bakunin geht davon aus, dass es bei real vorhandenen Möglichkeiten zur freien Entfaltung von Freiheit gar nicht erst zum Zustand des sozialen Kampfes im Sinne der Sozialdarwinisten kommt. Wie alle anderen Anarchisten auch, bleibt Bakunin hier allerdings eine empirische Begründung schuldig.
Mit diesem Menschenbild versucht der klassische Anarchismus das Freiheitsproblem bzw. die Freiheitsparadoxie – den Widerspruch von innerer Freiheit und äußerem Zwang – zu lösen. Er entfernt sich dabei deutlich von der vorherrschenden Diskussion über gesellschaftliche Rahmenbedingungen von Freiheit, d.h. von der Auseinandersetzung mit dem freiheitlichen Staat, und erklärt vielmehr den Ausgangspunkt dieser Diskussion als falsch: Der Mensch benötigt seine Freiheit und die der anderen, um frei zu sein.
Weder ein Gesellschaftsvertrag zwischen Individuum und Gesellschaft noch ein allmächtiger Staat, dem die BürgerInnen Individualrechte in Form von Menschen- und BürgerInnenrechten abtreten, löst nach Meinung der AnarchistInnen das Problem der individuellen Freiheit. Die Realisierung von Freiheit kann nur unter freien Menschen und der gegenseitigen Akzeptanz dieser Freiheit erfolgen. Freiheit ist für den Anarchismus keine vertraglich garantierte Angelegenheit. Sie kann nur dort entstehen, wo Gleichheit besteht. Freiheit und Gleichheit benötigen keine Verträge zur Verwirklichung, da sie ausschließlich an das Individuum und seine Rechte gebunden sind. Für Bakunin stellt sich das in seiner Schrift „Gott und der Staat“ folgendermaßen dar:
„Nur dann bin ich wahrhaft frei, wenn alle Menschen, die mich umgeben, Männer und Frauen, ebenso frei sind wie ich. Die Freiheit der anderen, weit entfernt davon, eine Beschränkung oder die Verneinung meiner Freiheit zu sein, ist im Gegenteil ihre notwendige Voraussetzung und Bejahung. Nur durch die Freiheit anderer werde ich wahrhaft frei, derart, daß, je zahlreicher die freien Menschen sind, die mich umgeben und je tiefer und größer ihre Freiheit ist, desto weiter, tiefer und größer auch die meine wird. (…) Meine auf diese Weise durch die Freiheit aller bestätigte persönliche Freiheit erstreckt sich ins Unendliche.
Man sieht, daß die Freiheit, so wie sie von den Materialisten aufgefaßt wird, eine sehr positive, sehr vollständige und vor allem eine äußerst soziale Sache ist, weil sie nur in der Gesellschaft und nur in der strengsten Gleichheit und Solidarität aller verwirklicht werden kann.“ (Bakunin 1921, S. 180)
Anmerkungen
Der Beitrag ist ein Vorabdruck aus dem Band von Ulrich Klemm "Freiheit & Anarchie - Eine Einführung in den Anarchismus", der im Herbst 2005 im Verlag Edition AV, Frankfurt/M. erscheint.
Literatur
Bakunin, M.: Gott und der Staat. In: M. Bakunin: Gesammelte Werke, Band I, hrsg. von E. Rholfs. Berlin 1921, S. 94-199, erstmals franz. 1882, erstmals dt. Philadelphia 1884
Bakunin, M.: Die Commune von Paris und der Staatsbegriff. In: M. Bakunin: Gesammelte Werke, Bd. II, hrsg. von M. Nettlau. Berlin 1923, S. 267-281
Günther, H.: Freiheit, Herrschaft und Geschichte. Semantik der historisch-politischen Welt. Frankfurt a.M. 1979
Krings, H.: Reale Freiheit. Praktische Freiheit. Transzendentale Freiheit. In: J. Simon (Hg.): Freiheit. Theoretische und praktische Aspekte des Problems. Freiburg/ München 1977, S. 85-113
Kropotkin, P.: Gegenseitige Hilfe in der Tier- und Menschenwelt. Deutsche Ausgabe besorgt von Gustav Landauer. Mit einem Nachwort neu herausgegeben von H. Ritter. Frankfurt a.M. 1975, erstmals engl. 1902; erstmals dt. Leipzig 1904
Kropotkin, P.: Ethik. Erster Band: Ursprung und Entwicklung der Sittlichkeit. Berlin 1923, Neuausgabe Berlin 1976, erstmals russ. 1922
Mühsam, E. : Der Geist der Freiheit. In: FANAL, 3. Jg., Januar 1929, Nr. 4, S. 73-80
Mühsam. E.: Die Freiheit als gesellschaftliches Prinzip. In: FANAL, 4. Jg., Sept. 1930, Nr. 12, S. 265-273
Spaemann, R.: Die Utopie der Herrschaftsfreiheit. In: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken, XXVI. Jg., H. 7, Juli 1972, S. 735-752