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Das Versinken der Stadt New Orleans

| Rüdiger Haude

Am 2. September 2005 veröffentlichte die Agentur Reuters ein Foto (siehe Seite 6) aus dem Katastrophengebiet im Süden der USA, mit dem die Zeitungen eine makabre Politologie betrieben. "Sicherheitskräfte" hatten, so sah man dort, einen Transporter gestoppt und seine (mindestens) sieben Insassen gezwungen, sich mit abgespreizten Armen auf den Boden zu legen. Dieses Bild wurde zur Illustration der Aussage verwendet, am Mississippi herrsche "Anarchie". Was sagt uns diese Gegenüberstellung von "Sicherheit" und "Anarchie"?

1. In der infolge des Hurricanes „Katrina“ überfluteten Stadt New Orleans waren Hunderte von Menschen ums Leben gekommen; zig Tausende befanden sich noch in der Stadt, die ohne Trinkwasser- und Energieversorgung war und in der die Seuchengefahr wuchs. Der Staat war offensichtlich nicht willens oder in der Lage, in dieser Situation angemessen zu helfen.

Darin zeigte sich Konsequenz: Die Deichbrüche waren u.a. auf eine seit drei Jahren anhaltende Vernachlässigung des Deichschutzes zurückzuführen; die Gelder dafür waren in den Irakkrieg und den Aufbau der sogenannten „Heimatschutzbehörde“ umgeleitet worden. Da das Prinzip „Staat“ so vielfältig versagte, waren die Menschen gezwungen, das alternative Prinzip „Selbsthilfe“ anzuwenden, da freiwilliges Verhungern oder Verdursten offensichtlich keine seriöse Alternative darstellte.

Dieses Prinzip der Selbsthilfe kann man rechtens Anarchie nennen, solange sich darin keine Herrschaftsstrukturen entwickeln.

Das Aufbrechen eines Lebensmittelladens und die Aneignung der Dinge, die man daraus benötigt, ist in der Situation, von der wir sprechen, völlig legitim und zielführend, sofern nicht etwa mit Waffengewalt andere Menschen daran gehindert werden, gleiches zu tun.

Auch die Aneignung eines Post-Transporters mit dem Ziel, das seuchengefährdete Gebiet zu verlassen, ist nicht nur legitim, sondern lobenswert. Not wurde gelindert, ohne dass irgendwem unzumutbarer Schaden zugefügt wurde.

2. Selbstverständlich darf nicht idyllisierend so getan werden, als entstünden in Katastrophen-Situationen wie dieser nicht auch „selbstorganisierte“ Strukturen der Anomie und des Faustrechts: Alte Banden-Rechnungen werden beglichen, Vergewaltigungen finden statt. Tatsächlich gibt es in Situationen der „Entfesselung“ von Massen neben der egalitären Selbstorganisation immer auch die Möglichkeit der Gewaltsamkeit, der Panik.

Und die Menschen sind weithin Produkte der gesellschaftlichen Verhältnisse: Wer wollte verlangen, dass ein Teenager, den der „War on Drugs“ zum Junkie gemacht hat, beim Zusammenbrechen der staatlichen Strukturen als Robin Hood agiert?

Erstaunlich ist aber zweierlei: dass es in New Orleans in den ersten Septembertagen trotz solcher auch vorhandenen ‚Brutalität von unten‘ zu spontanen Strukturbildungen der Verteilung von Lebensmitteln kam, und dass die Berichterstattung der Presse dies, wie stets, vollständig unterschlug, um die anomischen Aspekte über alle journalistische Sorgfalt hinaus aufzubauschen.

3. In einer chaotischen Ausnahmesituation wie Anfang September in New Orleans ging auch an Vertretern der „Staatsmacht“, die sich vor Ort befanden, die Einsicht nicht unbedingt vorbei, dass statt „Staat“ nun eher „Anarchie“ hilfreich sein könnte. Im Fernsehen kamen Augenzeugen zu Wort, die äußerten, sie seien von Polizisten aufgefordert worden, sich in den herrenlos gewordenen Supermärkten mit dem Notwendigen zu versorgen. Filmaufnahmen zeigten uniformierte Polizisten, die selbst mit Einkaufswagen durch die Gänge der Läden fuhren und sich mit Waren eindeckten, sicher ohne die Absicht, diese zu bezahlen. In der vorliegenden Situation war auch dagegen wenig einzuwenden.

4. Kurz darauf erfuhren wir aber, dass 1.500 Polizisten, die bis dahin die Aufgabe hatten, sich an „Rettungseinsätzen“ zu beteiligen, vor allem also wohl, die Evakuierung der zerstörten Stadt zu betreiben, von diesem Einsatz „abgezogen“ wurden, um „die Ordnung wiederherzustellen“, indem sie Plünderungen unterbanden. Das heißt, der Staat zog seine Kapazitäten von der Front ab, wo er „wohltätiger Staat“ war (von einer Front, wo er ohnedies offensichtlich schwächelte), und warf sie auf die Front, wo er als „strafender Staat“ in Erscheinung trat.

Selbsthilfe war zu unterbinden, auch wenn die Alternative – staatliche Hilfe – darunter erst recht leiden musste. Und eine weitere Alternative wurde klar: Die 1.500 Polizisten hatten jetzt nicht mehr mit dem Schutz von Menschen zu tun, sondern mit dem Schutz von Eigentum. Diese Prioritätssetzung: Eigentum vor Menschen, liegt der Logik des Staates im Neoliberalismus ungeschminkter zugrunde als sonst.

Wenn einen Tag nach dem Reuters-Foto ein paar hundert frisch aus Bagdad zurückgekehrte Elitesoldaten nach New Orleans entsendet wurden, mit dem Befehl „shoot to kill“, so waren auch diese selbstredend „Sicherheitskräfte“. Nicht dass sie die Sicherheit der Menschen in der Stadt erhöht hätten, aber die Sicherheit des Privateigentums.

5. Die in New Orleans beim Herannahen des Hurricanes zurückgebliebenen Menschen gehörten im Großen und Ganzen zur Unterschicht. Sie konnten sich ein Verlassen der Stadt aus verschiedenen materiellen Gründen nicht leisten. Das Unterbinden der Plünderungen hatte zweifellos mit diesem Sachverhalt zu tun: Die Verdammten dieser Erde müssen mit aller Gewalt und gegen alle Vernunft, gegen alle Moral davon abgehalten werden, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen.

Dieser soziale Aspekt hat ein rassistisches Gesicht: New Orleans war eine Stadt, in der zwei Drittel der Bevölkerung zu den Schwarzen zählten, und bei den Armen dürfte der Anteil noch wesentlich höher gewesen sein. Wenn man Bilder vom Katastrophen-Einsatz staatlicher Instanzen betrachtet, sieht man meistens, wie Schwarze von uniformierten Weißen in Schach gehalten werden.

6. Unser Reuters-Bild ist insofern emblematisch. Betrachten wir es etwas genauer: Sieben anscheinend junge, schwarze Männer liegen am Boden. Sie werden von drei gut genährten, weißen Uniformierten bedroht, von denen zwei automatische Gewehre tragen; eine dieser Waffen ist direkt auf die am Boden Liegenden gerichtet. Das Vergehen der Sieben ist, dass sie sich auf eigene Initiative (Anarchie!) einen Weg aus der akuten Perspektive des Verdurstens und der Cholera verschafft haben.

Auf dem Bild ist die Welt des Staates wieder in Ordnung; eines Staates, der nun endlich seinerseits Kreativität entfaltet: Denn seine „Sicherheitskräfte“ sind in diesem Falle keine Polizisten, sondern, wie der Aufdruck auf dem Hemd des einen verkündet: „Wildhüter“. Weniger Hege, mehr Waffeneinsatz beim Umgang mit dem menschlichen „Wild“: Das ist der Trend des Prinzips Staat im 21. Jahrhundert, wenn man den Staat jenen „Liberalen“ überlässt, die vorgeben, ihn zurückdrängen zu wollen.

7. New Orleans versank nicht in Anarchie, es versank in Staatlichkeit.